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DOI: 10.1055/s-0034-1392592
Medizinisches, Paramedizinisches und Ärztliches in Thomas Manns Josephsromanen
Views on the Medical, Paramedical and on Doctors in Thomas Mann’s Joseph NovelsKorrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
06 August 2015 (online)
- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Lehrbuchmäßiger Bericht über eine chronische Niereninsuffizienz
- Der eunuchoide Hypogonadismus Petepres
- Heirat Petepres mit einer besonderen Frau und Herrin
- Die Zeitlosigkeit des Mythos – ein moderner Dermatologe, Schriftsteller und Sozialpolitiker als Vorbild für einen altägyptischen, vielseitigen Arzt
- Die Medizin als erster Schwerpunkt Mai-Sachmes alias Martin Gumpert
- Die Schriftstellerei als zweiter Schwerpunkt Mai-Sachmes
- Die Gefängnisinsel Zawi-Re – als Staat im Kleinen eine politische Aufgabe
- Literatur
Zusammenfassung
In den Josephsromanen Thomas Manns spielen auch medizinische und paramedizinische Themen eine große Rolle. So wird geradezu lehrbuchmäßig eine Niereninsuffizienz mit finaler Urämie geschildert, sodann ein Eunuchoidismus mit typischen Zeichen eines weibischen Hypogonadismus bei dem aus der Bibel bekannten ägyptischen Würdenträger Potiphar, und, umgekehrt proportional hierzu, eine eher männliche geistige Verfassung seiner Ehefrau, die bekanntlich vergebens versuchte, Joseph zu verführen. Das Ärztliche bezieht sich auf den Berliner Dermatologen, Schriftsteller und sozialpolitisch tätigen Arzt Martin Gumpert (1897 – 1955), der als Vorbild für den Gefängnisamtmann, Arzt, Schriftsteller, Verwaltungschef sowie späteren Freund und Mitarbeiter Josephs Mai-Sachme im Roman dient. Es wird gezeigt, wie viel – bei offensichtlicher Leibes- und Geistesverwandtschaft – von dem modernen, sozialpolitisch engagierten Arzt und Schriftsteller schon bei seinem über 3000 Jahre alten Kollegen anzutreffen ist.
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Abstract
In Thomas Mann’s Joseph novels medical and paramedical issues also play a major role. For instance, a kidney insufficiency leading to final uremia is being described in an almost textbook-like manner. The biblical figure of Potiphar, the Egyptian dignitary, shows signs of eunuchoidism with the distinctive features of an effeminate hypogonadism, whereas his wife, who, as is generally known, tried to seduce Joseph, displays a rather masculine frame of mind. As far as the doctors point of view is concerned, there are references to the Berlin dermatologist, writer and socialpolitically active physician Martin Gumpert (1897 – 1955), who serves as a prototype for the prison bailiff, physician, writer, manager and later friend and associate of Joseph, Mai-Sachme, in the novel. In consideration of the obvious physical and intellectual affinity it becomes clear, how much of the modern socio-politically active physician and writer can already be traced back to his ancient colleague 3000 years ago.
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Einleitung
Die Josephsromane von Thomas Mann waren gleichsam als summum opus und als literarisches Pendant zum Hauptwerk Richard Wagners gedacht, mit dem ihn eine Art von Hassliebe verband. Schon die formale Aufgliederung in vier Teile nämlich A) „Die Geschichten Jaakobs“, B) „Der junge Joseph“, C) „Joseph in Ägypten“ und D) „Joseph der Ernährer“ lässt sofort an Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ denken. Ähnlich auch die lange Entstehungsdauer von mehr als 20 Jahren, der Rückgriff auf einen in ferner Vergangenheit liegenden Mythos, die oft archaisch-altertümliche, aber auch gelegentlich gewollt infantile Wortwahl analog dem oft ebenso infantilen Stabreim bei Wagner. Ähnlich auch eine Leitmotivik (die immer wieder zitierten Rahelsaugen Josephs!) und das Verharren der Handlung in opernartiger, arienartiger Betrachtung auf den Höhepunkten. Dies führt wie beim „Ring“ zu einem beträchtlichen Umfang des Werkes (in der mir vorliegenden Ausgabe 1352 Seiten ([1], A, B, C, D), der allerdings auch der Hauptgrund sein mag, weshalb sich das Buch in der Lesergunst nie so recht etwa gegen „Die Buddenbrooks“ oder den „Zauberberg“ durchsetzen konnte. Es fehlt vielen einfach die Zeit (und Geduld), sich auf die vielfältigen Reflexionen und kulturgeschichtlichen Betrachtungen einzulassen, durch welche die eigentlich viel schneller zu erzählende Handlung immer wieder unterbrochen wird, auch wenn dies meist mit sicherer Stilistik, liebevoll distanzierter Ironie, großer Genauigkeit und Delikatesse geschieht. Als Student habe ich das Buch vor 50 Jahren mit großer Begeisterung und in einer Art von Identifikation mit dem bis zum Schluss ebenfalls jugendlichen Protagonisten gelesen. Das Werk jetzt wieder vorgenommen, habe ich mich dabei entdeckt, ganze Absätze mit den bekannten Schachtelsätzen, vielleicht unter dem Einfluss eines gereiften, horazischen nil admirari, nur noch kursorisch wahrgenommen zu haben, und das, obwohl ich im Ruhestand eigentlich die Zeit hätte, alles in Ruhe zu genießen. Leider glaube ich, dass der schnelllebige Zeitgeist der Kenntnis des Buches nicht günstig sein wird. Es enthält aber soviel Material an Kultur- und Religionsgeschichte, Natur- und Völkerkunde, nicht nur Ägyptens, sondern des gesamten Vorderen Orients, dass es zumindest bei den entsprechenden Fachleuten weiter große Beachtung finden wird. Auch Medizinisches, schon ein Thema beim typhuskranken Hanno der „Buddenbrooks“, oder der Tuberkulose des „Zauberbergs“, hat neben Paramedizinischem und Ärztlichem seine Spuren hinterlassen. Einigem davon wollen wir hier nachgehen.
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Lehrbuchmäßiger Bericht über eine chronische Niereninsuffizienz
Da ist zunächst Mont-kaw, der Haus- und Hofmeister seines Herrn Petepre (biblisch Potiphar), am Hofe Pharaos ein hoher Würdenträger, an den Joseph von den in Ägypten als Kaufleute tätigen Ismaeliten als Sklave verkauft worden war. Sie hatten ihn aus dem Brunnen gezogen, in den ihn seine missgünstigen Brüder geworfen hatten.
Um Mont-kaws Gesundheit steht es schon lange nicht gut – bereits im Alter von 12 Jahren war es zu einer Hämaturie gekommen – und „Glutbauch“, sein kräuterkundiger Salbader, hatte ihm aufgrund schleichend-intermittierender Beschwerden, wie dumpfer Druck im Rücken, Schmerzen in der Herzgegend, häufiger Schwindelgefühle oder galligem Erbrechen „auf den Kopf zugesagt“, dass er an „wurmiger Niere“ leide. Später kommen „bleiche Schwellungen der Fußknöchel“, „mit halber Erblindung einhergehende Kopfschmerzen“ und sogar ein „apoplektischer Anfall“ hinzu. Präfinal dann, begünstigt durch eine vorausgegangene Erkältung, eine „Bauchfell-Herzbeutel- und Lungenentzündung“. Die Ärzte wussten, dass alle Symptome in der von „jeher nur schlecht ihren Dienst verrichtenden Niere ihre Quelle hatten“. Wir können uns auch aus heutiger Sicht dieser über viele Seiten gehenden, sehr detaillierten Schilderung einer chronischen Niereninsuffizienz mit finaler Urämie nur anschließen. Interessant, dass der Puls lange Zeit „von ziemlich regelmäßiger Frequenz war“ und später Hinweise auf Veränderungen der Pulsqualität (z. B. pulsus durus), die auf eine bei Nierenkranken doch so häufige Hypertonie deuten könnten, fehlen.
Im Persönlichkeitsprofil des Beamten, der noch lange „in stillem Heldentum“ seinen Dienst am Hofe Petepres getan hatte, war öfters eine in tiefe Mattigkeit, Unlust und Niedergeschlagenheit ausartende Bescheidenheit aufgefallen. Auch das natürlich eine Folge der schweren organischen Erkrankung. Trotz aller Behandlungsversuche mit Aderlässen, Blutegeln, Bier und vielfältiger Kräutermedizin, ja sogar mit der Dreckapotheke, ließ sich das „bescheidene Sterben Mont-kaws“ nicht mehr aufhalten.
Es blieb die mumifizierende Konservierung der Leiche mit Salzen und Würzen für vierzig Tage, „dann wurde sie gewickelt und in eine Lade getan, in die er genauestens passte, ein bunter Osiris, der noch seine Reise nach Abodu’s heiligem Grabe unternehmen musste, bevor er die ersparte Felsenkammer beziehen konnte, in Thebens Bergen, mit mittlerem Gepränge.“ – So der Schluss des ergreifend schönen, hier nur in Kürze wiedergegebenen Berichtes von Mont-Kaws bescheidenem Sterben ([1], C, S. 723 – 742).
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Der eunuchoide Hypogonadismus Petepres
Wir kommen nun zum Dreh- und Angelpunkt der Romane, nämlich der Geschichte Petepres (biblisch Potiphar) und seiner berühmten Frau, Mut-em-enet oder kurz „Enti“ genannt. Hier stehen endokrinologische und psychische Aspekte im Vordergrund.
Petepre (der „Sonnenhöfling und heilige Fleischesturm“) ([1], D, S. 982) wird wie folgt beschrieben: „Der Würdenträger war vielleicht vierzig Jahre alt, oder fünfunddreißig, und wirklich von Turmesgröße -- Joseph musste an Ruben (seinen ältesten Bruder, d. V.) denken angesichts dieser Säulenbeine … doch war diese Leibmassigkeit ganz anderer Art … sehr fett nämlich überall, besonders aber in der Gegend der Brust, die doppelhügelig unter dem zarten Batiste des Obergewandes vorsprang und beim unnötig unternehmenden Absprung vom Wagen nicht wenig geschwappt hatte. Ganz klein war der Kopf, im Verhältnis zu dieser Höhe und Fülle“ ([1], C, S. 602). Und an anderer Stelle: „… saß aufrecht durchaus, die kleinen Hände, fast winzig in der Tat gegen die Massigkeit des Körpers, vor sich im Schoße ausgestreckt, sehr gerade getragen den ebenfalls im Verhältnis so zierlichen Kopf mit dem vornehm gebogenen Näschen, dem feingeschnittenen Mund, und blickte, ein fettes, doch nobles und würdig gesammeltes Sitzbild, die gewaltigen Unterschenkel gleichstehend wie Säulen, die Arme wie die einer dicken Frau, die Brüste gepolstert vortretend, aus sanften, langbewimperten braunen Augen …“ ([1], C, S. 760). Dies mag bei nicht vorliegendem Genitalbefund zur Diagnose eines eunuchoiden Hochwuchses mit Adipositas und Gynäkomastie noch nicht ausreichen, wenn die im Obergeschoss der Residenz wohnenden Eltern Petepres, der ständig mit dem Kopf wackelnde, senile Huj und seine inzestuös-geschwisterliche Gemahlin Tuj, sich nicht in zunächst dunklen, dann aber immer klareren Andeutungen ergehen würden, dass das „Dunkelsöhnchen“ kastriert wurde, um es später als „Lichtsöhnchen“ ganz einem priesterlichen Leben als „Sonnenhöfling“ im Dienste Pharaos zu weihen. Immerhin plagt die beiden gelegentlich doch ein schlechtes Gewissen. „… so meine ich doch und fürchte es zuweilen zu lesen in seinen heimlichen Mienen, dass er im verborgenen ein wenig verstimmt ist gegen uns beide, weil wir ihn zustutzten zum Hofherrn, ohne nach seiner Meinung zu fragen und über seinen Kopf hinweg, da er sich nicht verwahren konnte“ ([1], C, S. 648).
Da Kastraten und Eunuchen nicht mehr vorkommen und totale Anorchien extrem selten sind, oder ggfs. substituierend behandelt werden, sind medizinisch exakte Abbildungen von Primäreunuchen mit Hypogonadismus nicht (mehr) verfügbar, alte zeigen meist nur einen Zustand mit Bekleidung. In speziellen Lehrbüchern der Endokrinologie wird man gute Abbildungen von Hypogonadismus oder Klinefelter-Syndrom finden, wobei der Hochwuchs das konstanteste Symptom ist, die Adipositas in weiblicher Form mehr an den Hüftpartien, weniger an den Extremitäten zu finden ist und die Gynäkomastie oft gar nicht so stark ausgeprägt ist. Ich glaube, dass Thomas Mann hier, vielleicht an Rubens denkend, einer gewissen, literarisch auszudrückenden Fleischeslust gefrönt und etwas übertrieben hat. Das bunte höfische Leben und Treiben bei Petepre wird im Übrigen garniert durch zwei Zwerge, den bösartig intriganten Dudu und den gutmütigen Schepses-Bes, genannt „Gottliebchen“. Auch deren genau beschriebenes Zwergentum mit zu großem Kopf und Stummelärmchen, kontrastierend zum Hochwuchs Petepres, ist eine paramedizinische Zutat und hübsche literarische Staffage.
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Heirat Petepres mit einer besonderen Frau und Herrin
Trotz dieses gravierenden andrologischen Defizits Petepres war eine Verbindung mit Mut-em-enet, einer Tochter aus standesgemäßem Haus, arrangiert, die Ehe aber nie vollzogen worden, was Thomas Mann recht lapidar so ausdrückt: „Dem Namen nach war ihre Jungfrauenschaft schon vor der Zeit aufgehoben worden – und dabei war es geblieben“ ([1], C, S. 749). Sie, in jüngeren Jahren als durchaus attraktive Frau, später mit gewissen „vettelhaft“, hexenartigen Veränderungen beschrieben, führte in all dem höfischen Luxus ein sexuell unbefriedigtes Leben, von dem man sich denken kann, dass es mit der Zeit auch zu manifesten psychischen Störungen kam, eigenartigerweise lässt der Dichter eine Analogie zur seinerzeit bereits aktuellen Psychoanalyse Siegmund Freuds nicht anklingen. „Enti“ wäre bestimmt eine seiner berühmtesten Patientinnen geworden. „Eine elegante Heilige war Mut-em-enet, eine weltkühle Mondnonne, deren Lebenskräfte teils von einer anspruchsvollen Zivilisation verzehrt wurden, teils sozusagen Tempelgut waren und in geistlichem Stolze aufgingen“ ([1], C, S. 752),
So lagen die Dinge, als an Potiphars Hof der junge, männlich schöne, zunächst aber von „Enti“ gar nicht beachtete Joseph auftauchte und bald zu Mont-kaws Nachfolger als Haus- und Hofmeister avancierte. In einer Zeit von drei Jahren nach ihrer „Augenöffnung“ versuchte sie dann eine immer stärker werdende Annäherung, die von verschiedenen Zwischenfällen kompliziert, schließlich in der berühmten Verführungsszene eskaliert. Unter kühl abwägendem Nachdenken mit insgesamt fünf Gründen verweigert sich Joseph ihrem Begehren und flieht unter Zurücklassung seines Mantels.
Diese Situation ist ein sehr häufiges Thema in Malerei und Grafik. Es ist interessant, wenigstens einige dieser Werke auch bedeutender Maler etwas näher zu sichten, denn trotz der anscheinend unauffälligen Weiblichkeit Entis kommen bei einigen Künstlern, quasi komplementär zum weibischen Potiphar, durchaus männliche Züge zum Ausdruck. Während doch die weibliche Verführungskunst, eher sanft und im Bewusstsein des Erfolges, meist keine Angriffslust nötig hat, ist auf vielen Gemälden eine plötzliche, eher männliche Aggression der „Herrin Enti“ zu erkennen. „Man muss bedenken, dass in der weiblichen Abwandlung des Wortes Herr … das ursprünglich männliche Element immer gebietend erhalten bleibt. Eine Herrin, das ist, körperlich gesehen, ein Herr in Weibsgestalt, geistig gesehen aber ein Weib von herrenhaftem Gepräge, also dass eine gewisse Doppeltheit, in der sogar die Idee des Männlichen vorwiegt, dem Herrinnennamen niemals fehlen kann“ ([1], C, S. 835). Subjektiv kam für Joseph hinzu, „dass seine erweckte Männlichkeit nicht wollte ins leidend Weibliche herabgesetzt sein durch einer Herrin männisches Werben, nicht Ziel, sondern Pfeil sein wollte der Lust“ ([1], C, S. 843).
Diese geschlechtliche Ambivalenz der „Herrin Enti“ hat der spanische Maler B. E. Murillo (1617 – 1682) ([Abb. 1]) in verblüffender Weise visualisiert, wenn er auf seinem Gemälde „Joseph und die Frau des Potiphar“ (Gemäldegalerie Kassel) dieser ebenfalls auffallend männliche Züge verleiht. Auch hier die plötzliche Aggression, sodann die männlich-muskulöse linke Schulter- und Oberarmpartie, der kräftige linke Unterschenkel und der nicht gerade üppige Busen (bei Gelegenheit wahrscheinlich kaum mehr schwappend als der von Potiphar). Das Gesicht ist ebenfalls männlich-aggressiv mit einem stechenden, fordernden Blick bei leicht zornig zusammengekniffenen Augenbrauen. Welch unglückliche konstitutionsbedingte Ehe, ein körperlich weibischer Mann und eine wenigstens geistig männliche Frau! Welche Freude für heutige Genderideologen! Manche werden vielleicht einwenden, die Darstellung einer voll weiblichen, halb entblößten Frau sei im damaligen prüden Spanien mangels genügend zur Verfügung stehender weiblicher Modelle schwierig gewesen. Aber gerade der (vielleicht) männliche Ersatz war hier möglicherweise der Anlass, das Richtige zu treffen.


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Die Zeitlosigkeit des Mythos – ein moderner Dermatologe, Schriftsteller und Sozialpolitiker als Vorbild für einen altägyptischen, vielseitigen Arzt
Es ist charakteristisch für den Mythos, dass er nach einer langen Phase der Entwicklung, vielleicht über viele historische und stilistische Epochen, endlich wie ein in Stein gemeißeltes Monument dasteht. Gerade das verführt jedoch seine Interpreten dazu, den Stein wieder in verformbare Materie zu verwandeln und die archetypischen Personen und ihre Handlungen in nachfolgende Zeiten bis zur Gegenwart zu transformieren. Das tun u. a. in Wagners „Ring“, bis zu einem gewissen Grad von ihm selbst gewollt, praktisch alle modernen Regisseure, und auch bei Thomas Mann, vielleicht unter dem Einfluss Oswald Spenglers mit seiner Beschreibung phasengleicher, kongruenter Kulturen sogar in zeitlich und örtlich völlig disparaten Räumen, ist es überall in den Josephsromanen zu bemerken. Denken wir nur an die köstliche Pharaonenszene bei Echnaton mit „seinem heiteren Sonnensinn“, die im ägyptischen „Barock“ spielt. Ja, der Dichter geht noch einen Schritt weiter und transponiert umgekehrt einen modernen, zur Entstehungszeit der Romane lebenden Menschen, wie im Krebsgang, in einen mehr als 3000 Jahre zurückliegenden Mythos.
Nachdem er bereits im „Tod in Venedig“ für den Dichter Gustav Aschenbach den Komponisten Gustav Mahler (folgerichtig als Musik in dem berühmten, opulenten Film von Lucchino Visconti das Adagietto aus dessen 5. Sinfonie) und für den reichen, holländischen Kaufmann Mijnheer Peeperkorn den Dichter Gerhart Hauptmann als Vorbild genommen hatte, ist es für den Arzt Mai-Sachme in den Josephsromanen mit viel genauerer, beruflicher und nicht nur physiognomonischer, sondern auch wesensmäßiger Kongruenz (die immer wieder beschworene Ruhe!) ein heute nur noch wenig bekannter deutsch-amerikanischer Dermatologe, der zugleich ein enger Freund der Familie Mann war. Es ist das Verdienst Saueressigs [2] darauf hingewiesen zu haben. Auch in [3] war bereits davon die Rede.
Martin Gumpert (1897 – 1955) ([Abb. 2]) war nach Ausbildung am Rudolf-Virchow-Krankenhaus erstens Hautarzt ab den 1920er-Jahren im städtischen Ambulatorium für Geschlechtskranke und in eigener Praxis in Berlin, daneben aber auch zweitens von Anfang an als Schriftsteller mit Schwerpunkt Medizinhistorie tätig („Der Streit über den Ursprung der Syphilis“, Biografien über Samuel Hahnemann und Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes). Er war der Schwiegersohn des sozialdemokratischen Dermatologen und Sozialhygienikers Alfred Blaschko, und, selbst nach links neigend, drittens sozialpolitisch engagiert, was wohl schon der soziale Brennpunkt Ambulatorium mit seiner schwierigen Klientel automatisch mit sich brachte, dabei offenbar von großer Güte und Menschlichkeit, arme Patienten wurden oft umsonst behandelt. Von der politischen Entwicklung gezwungen, musste er nach Amerika emigrieren, wo er in New York seine berufliche und schriftstellerische Tätigkeit fortsetzte, aber bereits mit 58 Jahren starb. Wir werden sehen, wie viel wir von den genannten drei Schaffensschwerpunkten Martin Gumperts bei Mai-Sachme 3000 Jahre zuvor finden können.


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Die Medizin als erster Schwerpunkt Mai-Sachmes alias Martin Gumpert
Joseph war bekanntlich nach den unwahren Beschuldigungen „Entis“, er habe ihr Gewalt antun wollen, in einem Anflug von Gnade von Petepre nicht zum Tode, sondern „nur“ zu Gefängnishaft verurteilt worden, die er nach langer Fahrt auf dem Nil auf der Inselfestung Zawi-Re antritt. Dort begegnet er dem Kommandanten und Amtmann Mai-Sachme, der wie folgt geschildert wird: „Gedrungen von Gestalt, eher klein und beleibt, (wie der ständig mit seinem Gewicht kämpfende Martin Gumpert, d. V.) ein Mann von etwa vierzig Jahren … runden braunen Augen unter sehr dichten schwarzen Brauen, kleinem Munde und einem bräunlich geröteten Gesicht, das von nachwachsendem Barte geschwärzt war … mit kleiner, wohlgebogener Nase. Es war von eigentümlich ruhigem, ja schläfrigem, dabei jedoch klugem Ausdruck, dies Gesicht, und ruhig, ja eintönig schien des Hauptmanns Rede …“ ([1], D, S. 970) ([Abb. 2]).
Die amtlichen Verpflichtungen Mai-Sachmes werden als eher lästig empfunden, denn seine erste und Hauptleidenschaft war die Medizin (sie muss wirklich sehr groß gewesen sein!): „… denn er war ein eifriger Arzt, der jeden Tag früh aufstand, um zu besehen, was aus dem After der kranken Soldaten und Züchtlinge abgegangen war … sein Dienstzimmer im Zitadellenturm war ein echtes Laboratorium von Stampf- und Reibegeräten, Herbarien, Phiolen und Salbentiegeln, Schläuchen, Destillierkolben und Verdampfungsbecken, wo der Hauptmann mit demselben schläfrig-klug blickenden Gesicht … zum Teil an der Hand … von Lehrwerken alter Erfahrung, seine Latwerge gegen Würmer, seine Mittel zur Ausschwemmung des Bauches, seine Sude, Pillen und Umschlagbreie gegen Harnverhaltung, Nackengeschwülste, Rückgratversteifung und Hitze des Herzens bereitete …“ ([1], D, S. 982).
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Die Schriftstellerei als zweiter Schwerpunkt Mai-Sachmes
Aber auch die zweite Leidenschaft Mai-Sachmes analog zu Martin Gumpert, nämlich die Schriftstellerei und Medizinhistorie, kommt zu ihrem Recht. Vorbild ist ihm dabei der Arzt und Universalgelehrte Imhotep, der ägyptische Asklepios, schon damals legendär. Mai-Sachme berichtet von ihm: „Ein Heilkundiger war er zumal und Adept der Natur, ein Kenner des Festen und Flüssigen, von lindernder Hand und allen, die sich wälzen, ein Ruhespender. Denn er selbst muss sehr ruhig gewesen sein … Dazu war er ein Rohr in der Hand Gottes, ein Weisheitsschreiber – dies beides vereint, nicht heute ein Arzt und Schreiber ein andermal, sondern dieses in jenem und eines zugleich mit dem anderen, worauf man den Ton legen muss, denn meiner Meinung nach ist es von vorzüglichem Wert. Heilkunde und Schreibtum borgen mit Vorteil ihr Licht voneinander, und gehen sie Hand in Hand, geht jedes besser. Ein Arzt, von Schreibweisheit beseelt, wird ein klügerer Tröster sein den sich Wälzenden; ein Schreiber aber, der sich auf des Körpers Leben und Leiden versteht, auf die Säfte und Kräfte, die Gifte und Gaben, wird viel voraushaben vor dem, der davon nichts weiß. Imhotep, der Weise, war solch ein Arzt und ein solcher Schreiber. Ein göttlicher Mann; man sollte ihm Weihrauch anzünden …“ Es hat geradezu bekenntnishaften Charakter wenn ihm, Mai-Sachme, der anwesende Oberpriester unmittelbar ehrlich antwortet: „Denn unbeschadet des Truppendienstes pflegst du der Heilkunde auch, tust wohl denen, die sich winden und wälzen, und schreibst außerdem sehr gewinnend nach Form und Inhalt, indem du all diese Sparten in Ruhe vereinigst“ ([1], D, S. 973).
Nach nur kurzer Zeit der strafenden Schwerarbeit wird Joseph, mit dem Mai-Sachme eine Art von Seelenverwandtschaft verbindet, nur noch zum Innendienst herangezogen und es entwickelt sich ein eher freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden.
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Die Gefängnisinsel Zawi-Re – als Staat im Kleinen eine politische Aufgabe
Vom erwähnten dritten Schaffensschwerpunkt Martin Gumperts, nämlich seines sozialpolitischen und sozialhygienischen Engagements, ist auf der Gefängnisinsel Mai-Sachmes nur Rudimentäres zu erkennen. Immerhin mag man bereits in der Existenz eines „Lazarettschuppens“, für ein damaliges Gefängnis eher ungewöhnlich, eine Analogie zum Berliner venerologischen Ambulatorium sehen. Hier allerdings waren Krankheiten aller Art, von Knochenbrüchen über Magenleiden, Augenleiden, Aussatz usw. zu behandeln. Mai-Sachme tat dies mit großem Geschick und vor allem unter Einsatz seiner gütigen persönlichen Ausströmung, „die eine Ausströmung der Ruhe war und sich auf Seiten des Kranken in Beruhigung verwandelte, so dass er nicht mehr vor seiner Krankheit erschrak … sondern aufhörte sich zu wälzen und unwillkürlich des Hauptmanns eigenen Gesichtsausdruck annahm: die gerundeten Lippen leicht geöffnet und die Brauen in klugem Gleichmut emporgezogen. So lagen die Kranken und sahen, mit Ruhe ausgestattet, ihrer Genesung oder dem Tode entgegen; denn auch vor diesem lehrte sie Mai-Sachme’s Einfluss nicht zu erschrecken, und selbst wenn schon Leichenfarbe eines Mannes Gesicht bedeckte, ahmte er noch, bei befriedeten Händen, die gelassene Miene des Arztes nach und blickte ruhigen Mundes, unter verständig erhobenen Brauen, dem Leben nach dem Leben entgegen“ ([1], D, S. 985).
Es waren aber auch allgemeine hygienische Probleme zu lösen, so z. B. das „Übermaß der Flöhe, unter dem zu Zawi-Re jedermann litt“ ([1], D, S. 983), nun, sie wurden mit Natronwasser und überall ausgestreuter Holzkohle erfolgreich bekämpft. Der Mäuseplage wurde man mit Belegen der Speisevorräte in den Magazinen mit Katzenfett erfolgreich Herr.
Die Insel als Ganzes war gleichsam ein autonomer Kleinstaat, der auch für soziale Ordnung, für Angelegenheiten des Rechtes, der Religion und vor allem der Ernährung zu sorgen hatte. Mai-Sachme musste sich in dieser quasi politischen Funktion auch darum kümmern, und er war froh, in Joseph einen dafür offenbar sehr begabten Verwaltungsfachmann gefunden zu haben, und der „zum Herrn des Überblicks in der Kanzlei und zum Nährvater der ganzen Festung aufwuchs … über die Einkäufe an Korn, Öl, Gerste und Schlachtvieh und ihre Verteilung an die Wach- und Zuchtmannschaft, über den Brauerei- und Bäckerbetrieb von Zawi-Re … und einzig dem Platzkommandanten Rechenschaft dafür schuldete, diesem ruhigen Mann, zu dem sein Verhältnis sich von vornherein freundlich angelassen hatte und mit der Zeit das angenehmste wurde“ ([1], D, S. 985).
Diese Fast-Idylle wurde mit dem Eintreffen eines Eilboten jäh beendet, der den Auftrag hatte, Joseph zum Pharao zu bringen. Die Geschichte mit dessen richtig gedeutetem Traum von den sieben fetten und mageren Jahren ist bekannt, sie führte zur „Haupterhebung“ Josephs und zu seinem Aufstieg zum obersten Nationalökonomen Ägyptens. Vorläufig musste er bewegten Abschied von Mai-Sachme nehmen. Allerdings gab es später ein Wiedersehen, als er zum obersten Hausverwalter und Berater Josephs eingesetzt wurde.
Damit wollen auch wir Abschied nehmen von einigen tragenden Figuren der Josephsromane und sie nach diesem leider nur kurzen Auftritt wie Marionetten in die Puppenkiste, in den „tiefen Brunnen der Vergangenheit“ ([1], A, S. 7) entgleiten lassen.
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Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Danksagung
Frau Ingrid Knauf von der Gemäldegalerie Kassel für die freundliche Überlassung von [Abb. 1], Herrn Berghausen vom BBWA, Berlin, für die freundliche Überlassung von [Abb. 2] und Anna und Rainer Schanty, Frankfurt, für die Übersetzung der Zusammenfassung ins Englische.
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Literatur
- 1 Mann T. Joseph und seine Brüder. Berlin, Darmstadt, Wien: Deutsche Buchgemeinschaft; 1964
- 2 Saueressig H. Martin Gumpert, im Winkel der Medizingeschichte. In: Ärzte und Ärztliches – Essayistische Anregungen. Biberach/Riss: Basotherm GmbH, Wege und Geschichte; 1989: 31
- 3 Möhn R. Über das „Lob der Kahlheit“ des Synesios von Kyrene mit trichologischem Rückblick in die Antike, sowie Ausblick in Gegenwart und Zukunft. Akt Dermatol 2011; 37: 468
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Mann T. Joseph und seine Brüder. Berlin, Darmstadt, Wien: Deutsche Buchgemeinschaft; 1964
- 2 Saueressig H. Martin Gumpert, im Winkel der Medizingeschichte. In: Ärzte und Ärztliches – Essayistische Anregungen. Biberach/Riss: Basotherm GmbH, Wege und Geschichte; 1989: 31
- 3 Möhn R. Über das „Lob der Kahlheit“ des Synesios von Kyrene mit trichologischem Rückblick in die Antike, sowie Ausblick in Gegenwart und Zukunft. Akt Dermatol 2011; 37: 468



