Pneumologie 2015; 69(09): 549-552
DOI: 10.1055/s-0034-1391989
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Lungenkranke und sein Arzt im Wandel der Zeit[*]

Dr. med. G. Forschbach
R. Kropp
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Dr. med. Robert Kropp
Sturmiusstraße 8
36037 Fulda

Publication History

Publication Date:
03 September 2015 (online)

 

    Nicht der Arzt, sondern der Lungenkranke steht im Vordergrund dieser Betrachtung. Der leidende, hilfsbedürftige, hoffende, vertrauende, kritische und oft enttäuschte kranke Mensch.

    „Im Wandel der Zeit“: Ein der Geschichte verpflichtetes Thema, das nicht mit retrospektiver Besserwisserei und Jubel über die Erfolge der Gegenwart zu behandeln ist, sondern als Versuch, die Entwicklung aufzuzeigen, uns als Glied in der Kette zu begreifen und die Tradition zu beleben. Tradition im Sinne Chesterton’s, den Golo Mann zitierte:

    „Tradition bedeutet, der tiefsten und verkanntesten aller Klassen, unseren Vorfahren, Stimmrecht einzuräumen. Sie bedeutet Demokratie für die Toten. Tradition lehnt es ab, der anmaßenden Oligarchie der zufällig heute Herumlaufenden das Feld allein zu überlassen“.

    Und Golo Mann fährt fort: „Die Toten haben ein Recht, als das genommen zu werden, was sie waren, ein Recht, verstanden zu werden, so wie sie sich in der Freiheit und Not ihrer Gegenwart kämpfend und irrend und schöpferisch bewegten, ein Recht auf Glauben, auch dann, und gerade dann, wenn es um ihren Glauben geht“.

    Die Historiker unseres Faches Burke, Löffler, Bochalli haben gezeigt, welche Fakten, Vorstellungen, Irrtümer und verzweifelte Anstrengungen der Ärzte, wieviel Rationales und noch mehr Irrationales den Weg des Lungenkranken durch die Zeiten begleiteten. Wir müssen uns mit gehöriger Phantasie bemühen, der jeweiligen Situation des Kranken und seines Arztes aus den religiösen, zivilisatorischen, wirtschaftlichen und sozialen Umständen seiner Zeit gerecht zu werden. Durch Jahrhunderte dominierte unter den Lungenkrankheiten die Tuberkulose. Ob sie Auszehrung, Skrofulose, Schwindsucht oder Tuberkulose hieß, ob sie als ansteckend galt oder nicht, ob sie als Entzündung oder Neubildung interpretiert wurde, ob man sie für heilbar oder unheilbar hielt, immer ließ sie den Kranken auf eine heute kaum noch einfühlbare Weise leiden.

    Wir wissen nicht, was in dem Mann vor sich ging, der 2700 Jahre vor Christus in Ägypten eine Wirbelkaries durchmachte, und was den Menschen im alten Griechenland, in dem die Tuberkulose gut bekannt war, bewegte, wenn die Ärzte wegen der Schwere der Krankheit seine Behandlung ablehnten. Machen wir uns klar, dass man in Rom bis 200 Jahre vor Christi Geburt Ärzte nicht kannte, und dass jedes Symptom seinen eigenen Gott hatte. So muss Tibull zu Apoll beten, dass er seine Geliebte von der Tuberkulose heile. 400 Jahre später sah man die Römer zu regelrechten Kuren nach Stabiae in der Nähe von Neapel reisen, bei denen Ruhe, Ölbäder, Wein- und Milchgenuss nach festem Plan der Heilung dienten. Nur wenige Begüterte konnten wohl diese Möglichkeit nutzen.

    Waren es im alten Rom die Götter, so waren es im Mittelalter Gott und der König, auf die man alle Hoffnung setzte. In diesen von Seuchen und Hungersnöten, Angst und Schrecken heimgesuchten Jahrhunderten, über die uns die Schönheit vieler Gemälde jener Zeiten hinwegtäuscht, erhofft sich in Frankreich und England der an einer Halslymphknotentuberkulose Erkrankte alles von seinem König. Vor dessen Krönung oder aus anderem wichtigen Anlass wird urbi et orbi bekannt gegeben, wann er die Berührung des Kranken, den „Royal Touch“ vornehmen wird. Wird der Kranke nach einer Auslese durch die Leibärzte für würdig befunden, so kniet er mit Leidensgefährten nieder. Er sieht den König, der von Beichte und Kommunion kommt, nahen, spürt die Hand des Leibarztes auf dem Kopf, und seine Hände werden von einem Offizier der Leibwache festgehalten. Er fühlt, wie der König ihm das Zeichen des Kreuzes über Stirn, Nase und Kinn, sowie von Ohr zu Ohr streicht, und hört ihn sagen: „Der König berührt dich, Gott heilt dich“. Während dem König mit Essig, Wasser und Orangenblütenöl getränkte Tücher gereicht werden, übergibt der Kämmerer dem Kranken ein Geldgeschenk und heißt ihn, für den König zu beten. Und wurde der König selber krank, wie Jakob II von England, so ließ er sich von einem anderen, in diesem Fall von Ludwig XIV, die Hand auflegen. Welch eine Welt des Glaubens an königliche Berufung, an königliche Verpflichtung war das, die diesen Brauch mit großem Zeremoniell übte, und die gleichzeitig auch noch gewissenhaft Buch führte. So weiß man, dass Karl II in 25 Jahren 90 798 mal die Hand auflegte. Fast 1300 Jahre wurde dieser Brauch beibehalten, und erst als 1824 sich bei der Krönung Karls X nur noch 120 Kranke einfanden, ließ es der König bei allgemeinen Worten der Teilnahme bewenden.

    Wie es in diesen Zeiten in unseren Landsleuten aussah, denen kein König die Hand auflegte, bezeugt ein Gedicht des Königsberger Professors der Dichtkunst, Simon Dach, der von 1605 – 1695 lebte.

    Erbarmt euch meiner Schmerzen
    Ihr Ärzte, kommt zu Hauf,
    Nehmt meine Not zu Herzen,
    Schlagt eure Bücher auf.
    Was euer Rat wird bringen,
    Auch wär es Gassenkot,
    Ich will es in mich schlingen,
    So groß ist meine Not.

    Ach, daß ich nur verdrossen
    Mach eure Wissenschaft!
    Ich hab umsonst genossen
    So manchen Trank und Saft
    Mein Leid ist nicht zu heben,
    Es kriegt den Siegespreis.
    Ich muss verloren geben,
    Umsonst ist Kunst und Fleiß.

    Mein Fieber ist verschwunden
    Mich hungert allgemach,
    Ich gebe dem Gesunden
    Fast nirgends etwas nach.
    Mein Durst hat sich geleget,
    Nur dass der Zähe Wust
    Die Atemkürz erreget
    In meiner engen Brust.

    Mein Amt muß ganz erliegen,
    Vielleicht läßt manches Maul
    Von mir ein Urteil fliegen,
    Ich sei so arbeitsfaul.
    Gott lasse mich genesen,
    So soll es kundbar sein,
    Was hier die Schuld gewesen,
    Die Krankheit oder Wein.

    Aber nicht nur Krankheit und eingeschränkte Lebensaussichten bedrängen den tuberkulosekranken Menschen. Die unterschiedlich eingeschätzte Ansteckungsfähigkeit schuf zusätzliche Probleme. 1621 wurde das Recht des Ehemannes auf Trennung von seiner tuberkulosekranken Frau diskutiert. 1669 ließ man in Lucca die Kleider verstorbener Schwindsüchtiger verbrennen. 1754 verbot der Großherzog von Florenz den Verkauf und Export von Gegenständen, die Phthisikern gehört hatten, und 1772 erließ Venedig ein strenges Gesetz zum Schutze der Pilger vor Ansteckung. Im gleichen Jahrhundert schrieb Gottfried August Bürger, als er an einer rasch verlaufenden Lungen- und Kehlkopftuberkulose litt, an seine Schwester:

    „Herzlich umarme ich deinen teuren lieben Mann, das wird ihm nicht schaden, denn es geschieht ja im Geiste, und noch habe ich keine Hektik. Sage ihm, ich werde an einer Phthisis pituitosa sterben.“

    Das Schicksal der Tuberkulosekranken von 1500 bis in unsere Tage läßt sich an einer langen Reihe berühmter Menschen beobachten. Gemeinsam ist ihnen, daß sie einen verzweifelten Kampf gegen die Krankheit führten, sich ihre Leistungen gegen die zunehmende Hinfälligkeit mit größter Energie abrangen, hin und her gerissen zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Wer es sich leisten konnte, der reiste von Arzt zu Arzt, von Land zu Land, um Heilung zu finden. Aber für viele galt, was Chopin nach 14 Jahren der Krankheit schrieb, bevor er mit 39 Jahren seiner Schwindsucht erlag:

    „Meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet, was mir zu erreichen möglich war.“

    Die Angst vor Zwischenfall und Fortschreiten der Krankheit war ständiger Begleiter. Man starb nicht so rasch, nicht jeder hatte eine galoppierende Schwindsucht. So überlebte Calvin seinen ersten Blutsturz um 5 Jahre. Molière war bereits 8 Jahre krank, als ihm bei der Premiere des „Eingebildeten Kranken“, den er selbst spielte, auf der Bühne eine Konvulsion überfiel, der Blutsturz und Tod rasch folgten. Angelus Silesius kränkelte 12, Tschechow 20 Jahre. Manch einer genas aber auch damals, und bei manchem, der als tuberkulosekrank galt, sind heute Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose angebracht.

    Natürlich gab es von jeher auch andere Lungenkrankheiten. Schon seit dem Altertum wurden Zustände von Luftknappheit unter dem Begriff Asthma bronchiale subsummiert. Die Pleuropneumonie war seit langem bekannt. Aus dem 17. Jahrhundert gab es Nachrichten über Zusammenhänge von Beruf und Lungenkrankheit. Aber erst im Beginn des 19. Jahrhunderts definierte Laennec beim Vergleich klinischer Symptome mit pathologisch-anatomischen Befunden besondere Krankheitsbilder, die in steigendem Maße bis heute weiter differenziert wurden. Im Vordergrund stand noch immer die Tuberkulose. Der Katalog der angewandten Behandlungsmaßnahmen enthält eine Vielfalt unterschiedlichster Methoden, die vorwiegend unspezifisch wirkten, nicht besonders eingreifend, und damit auch nicht sonderlich belastend für den Kranken. Das änderte sich im Beginn des vorigen Jahrhunderts, als Aderlaß und Blutegel zum hochgeschätzten Heilmittel auch für die Tuberkulose wurden, das den Kranken erheblich in Mitleidenschaft zog. Broussais verbrauchte 1818 in Paris mehr als 100 000 Blutegel, und Frankreich führte 1827 33 Mio. dieser Tiere ein. Als Broussais selbst erkrankte, verordnete er sich 4 Aderlässe und 60 Blutegel, und diese Therapie wiederholte er bis zu seinem Tode häufiger.

    In der übrigen Welt maß man gegen Mitte des Jahrhunderts der Klimatherapie große Bedeutung bei. So weiß man, daß z. B. in Denver in Colorado 1/3 der Bevölkerung, etwa 60 000 Menschen, zuwanderten, die an einer Tuberkulose litten. Krankenhäuser und Hospitäler gab es nicht. Man wohnte in Hotels und Gasthöfen und bemühte sich, voreinander die Krankheit zu verschleiern.

    Neue Hoffnung schöpfte in Deutschland der Lungenkranke, als Mitte des vorigen Jahrhunderts Brehmer die Heilstättenbehandlung mit Freiluftkur, Milch- und Kognakgenuß inaugurierte und verkündete, daß die Tuberkulose heilbar sei. Brehmer, Dettweiler, der Erfinder des Liegestuhls, und Turban erzwangen sich mit drakonischem Willen Disziplin, und, obwohl die zugrunde liegende Vorstellung nur das „Irrationale rational drapierte“ (Löffler), zeigen sich Erfolge, die dem Kranken Hoffnung gaben. Für unsere Begriffe nahm er neue schwere Lasten durch die Trennung von Familie und Beruf auf sich. Heute wissen wir, dass, was später als besondere Psyche des Tuberkulösen beschrieben und erörtert wurde, in Wahrheit vorwiegend milieubedingte, durch die Primärpersönlichkeit lediglich modifizierte Reaktion auf die eigentümlichen Verhältnisse der Kur war. Thomas Mann hat im „Zauberberg“ meisterhaft beschrieben, welche Einflüsse in diesem Rahmen auf differenzierte und undifferenzierte Menschen wirkten, und welche Relativierung des Zeitgefühls auftrat.

    Wenn wir Heutigen die autoritäre Art des Regierens der Heilstättenärzte seit den Zeiten Brehmers mit Widerwillen registrieren, so messen wir dies mit den Maßen unserer Zeit und sind ungerecht. Nur diese Art der Kur brachte damals überzeugende Erfolge und was lag näher, als den Kranken zu seinem Glück zu zwingen, zumal Disziplin, Selbstbeherrschung, Ordnung in dieser Zeit fast den Charakter absoluter Werte besaßen. Die Tuberkulintherapie Robert Kochs erwies sich als enttäuschender Fehlschlag für den Kranken. Die Methoden aktiver Behandlung wurden erst 40 Jahre nach Brehmer konzipiert und ließen sich erst Jahrzehnte später verwirklichen. Bis zum Beginn moderner medikamentöser Behandlung vergingen fast hundert Jahre. In der Zwischenzeit aber hatte die mächtige Volksheilstättenbewegung bis 1914 in Deutschland 157 Häuser errichtet, die das Los der Tuberkulosekranken besserten, deren Rückfallquote noch immer 60 % betrug. Nach Markuse verfügten 1904 noch 30,7 % der Tuberkulosekranken in Mannheim nicht über ein eigenes Bett und 2/3 der bei dieser Untersuchung erfassten Kranken mussten mit 9, andere aber mit 30 – 40 Menschen die gleiche Toilette teilen. Man sollte also bedenken, was es für den Kranken bedeutete, in seiner Krankheit nicht sich selbst überlassen zu bleiben, und in andere günstigere Lebensumstände gebracht zu werden, zumal ein Hausarzt nur für vermögende Menschen erreichbar war.

    Frühzeitig fiel in den Häusern für Geisteskranke der hohe Prozentsatz Tuberkulöser auf, und man befasste sich mit den Zusammenhängen zwischen Krankheit und seelischer Störung. Die Unterbringung in den Heilstätten führte zu einem täglichen Kontakt zwischen Arzt und Patient, so dass man sich nun eingehender der Psychologie des Tuberkulosekranken zuwandte, freilich mit den zu dieser Zeit noch recht primitiven Methoden. Wie es noch 1924 in einer inneren Klinik aussah, beschreibt Ebers anschaulich:

    „In den Krankensälen lagen reihenweise die fiebernden Phthisiker, meist junge Menschen, ‚Traviata Typ‘ nannten wir die jungen Mädchen mit den blanken Augen im eingefallenen Gesicht und den ‚hektisch‘ geröteten Wangen. Die Spuckbecher waren voll eitrigen ‚münzenförmigen‘ Sputums. An Medikamenten war auf den Fieberkurven nur Codein, Pyramidon und Herzmittel verzeichnet. Das dramatische und nicht selten akut tödliche Ereignis der Hämoptoe war alltäglich (oder allnächtlich). In den Endstadien traten die Symptome der Kehlkopf-Tuberkulose oder der Darm-Tuberkulose fast immer erschreckend in den Vordergrund. Gegen die Darm-Tuberkulose waren wir fast völlig machtlos. Die Schmerzen der Kehlkopf-Tuberkulose versuchten wir mit Instillationen, Larynxanästhesien und Kehlkopfkaustiken wenigstens zu lindern“.

    Man möchte hinzufügen, so wenig an Medikamenten auf den Kurven stand, so viel wurde am Krankenbett ausprobiert. Es lohnt sich, unter diesem Gesichtswinkel Brauer’s Beiträge aus früheren Zeiten zu lesen.

    Die Jahre vor und nach dem 2. Weltkrieg sind für viele von uns schon eigene Erfahrung, und wir erinnern uns, dass die Mitteilung der Diagnose auch in dieser Zeit einen harten Einschnitt in das Leben eines Menschen bedeutete. Wenn er das Glück hatte, am Leben zu bleiben, so musste er sich über die Einschränkungen im klaren sein: Anstrengende Arbeiten waren zu vermeiden. Ein gewisser Grad von Ausgeschlossenheit war in Kauf zu nehmen, und die Sorge vor Ansteckung plagte Familie und Freunde. Da Frauen von Schwangerschaft und Geburt abzuraten war, eine kontrazeptive Pille nicht zur Verfügung stand, blieben sie vielfach von der Ehe ausgeschlossen. Die Männer mussten sich oft mit bescheideneren beruflichen Laufbahnen zufrieden geben und sich ernstlich prüfen, ob sie eine Heirat verantworten konnten.

    Die Erfolge der seit 1930 allmählich zur Anwendung reifen Methoden aktiver Behandlung wurden mit neuen Leiden der Kranken erkauft. Denken wir an die Operationen in Lokalanästhesie mit ausgedehnten Rippenresektionen, an die schwer zu ertragenden Verbände, die den Kranken nach einer Thorakoplastik vor dem Mediastinalflattern bewahren sollten, und die lebenslängliche Verstümmelung, die er mit diesem Eingriff auf sich nahm. Denken wir an die Pneumolyse und den extrapleuralen Pneumothorax, dessen Füllung durch Jahre zu einer schmerzhaften Belastung wurde, dessen Auflassung neue Probleme schuf. Wurde er durch einen Oleothorax ersetzt, wurde eine Plombierung durchgeführt, so brachten Einschränkungen der Atemfunktion, mögliche Ausbreitung des Öls im Thorax, Infektion des Plombenbetts neue Pein mit sich. Erinnern wir uns der vielen Menschen, die nach einer erfolgreichen Pneumothoraxbehandlung oder nach einer passager gemeinten, aber definitiv gewordenen Ausschaltung des Nervus phrenicus ihre bleibende Ateminsuffizienz behielten. Und denken wir an die, deren Tuberkulose heilte, die jedoch an den Folgen der Therapie leiden, und die, in der Jugend dazu erzogen, die Sorge vor dem Rückfall auch heute noch nicht abschütteln. Voll Bewunderung aber müssen in unsere Gedanken auch all die Ärzte einbezogen werden, die sich mit Phantasie und Wagemut, mit Einfallsreichtum und manuellem Geschick, mit Passion und Einfühlungsvermögen um den Kranken bemühten. Das war die Welt von gestern und es ist wohl keine Anmaßung der „zufällig heute Herumlaufenden“, wenn uns ein Wandel in den letzten zwei Jahrzehnten als eine Zäsur erscheint. Die Tuberkulose wird dem Kranken in unserem Land nur noch in seltenen Ausnahmefällen zum Schicksal. Nicht der Tod, nicht einschneidende Konsequenzen für das spätere Leben werden gefürchtet, sondern der Zeitverlust, vorübergehende Trennung von der Familie und die Meinung des Nachbarn und Arbeitskollegen. Gemessen an früher ist der Leidensdruck gering. Gewandelt hat sich die ambivalente Einstellung, die Hassliebe dem Arzt gegenüber. Man sieht in ihm kühl den Kenner der Materie, den sachverständigen Verordner optimaler Therapie, aber als Vormund lehnt man ihn ab. Auch der Alkoholiker und der, der von Eigenverantwortung nicht viel hält, wissen sehr gut, dass die Krankheit heilbar geworden ist. Exakte Diagnose und präzise Therapie gestatten eine sichere Prognose, so dass die Tuberkulose besser berechenbar ist als manche andere Krankheit. So verliert auch die Heilstätte alten Stils, mag sie auch ein modernes Gesicht bekommen, bei Ärzten und Kranken rasch an Glaubwürdigkeit. In der reinen Tuberkuloseklinik wirken manche zur Erhaltung der Ordnung notwendige Maßnahmen zunehmend als Anachronismus. Trotz der noch vorhandenen Reste ist die Tuberkulose die Krankheit von gestern.

    Aber auch die Lungenkranken von heute plagt die Oligosymptomatik Husten, Auswurf und Atemnot in allen Varianten. Teilaspekte der Tuberkulose finden sich wieder. Wie eingreifend ist für den Bronchiektasenträger seine Krankheit für privates und berufliches Leben, wie schwer wiegt für den Sarkoidosekranken die Sorge um das Fortschreiten seiner Krankheit, wie fürchtet der Asthmakranke in verantwortlicher Position den Anfall im ungünstigsten Augenblick, wie hilflos und verzweifelt macht die Atemnot den chronischen Bronchitiker, den an einer Lungenfibrose erkrankten Menschen, und wie schwer ringt der wegen eines Bronchialkarzinoms Resezierte um soziale Position und wirtschaftliche Unterstützung.

    Die Krankheiten haben sich geändert, die Leiden sind geblieben. Und der Pneumologe erkennt, dass er die Tradition des Internisten von vorgestern und des Lungenarztes von gestern fortsetzt. Er kann seinen Status nur rechtfertigen, wenn er einen Schnitt durch viele Disziplinen legt. Wo auch sein Hauptinteresse liegen mag, nur wenn er über Bakteriologie, Bronchologie und Chirurgie, Arbeits- und Sozialmedizin ausreichend orientiert ist, kann er dem Kranken helfen. Die Synopsis aus den verschiedenen Bereichen macht den Pneumologen und sollte die Neuorientierung unseres Faches, die so viel Aufregung verursacht, bestimmen. Wir möchten hoffen, dass die jungen Arbeitskreise an Universitäten und kommunalen Krankenhäusern im Sinne dieser Synopsis die durch viele widrige Umstände entstandene Ausbildungslücke bald schließen.

    Der Kranke von heute zahlt der fortschreitenden Differenzierung der Krankheitsbilder einen Tribut. Er wird, wie überall in der Medizin, in steigendem Maße mit Untersuchungsmethoden konfrontiert, deren Bedeutung er nicht abschätzen kann, deren Belastungen und Risiken er aber tragen muss. Er muss sich mit den Nebenwirkungen einer äußerst differenten Therapie auseinandersetzen. Das begann in unserem Fach mit den antituberkulösen Medikamenten, bei denen der Patient wegen der möglichen juristischen Komplikationen gewarnt, aber nicht in Angst gestürzt werden solle. Dabei ließ die Schwere der zu bekämpfenden Krankheit reversible Risiken vertretbar erscheinen. Schon bei der Kortikosteroidtherapie stellte sich die Nutzen-Schaden-Relation von Arzt zu Arzt anders dar. Es folgten die Antibiotika mit ihren Nebenwirkungen und die Immunsuppressiva, bei denen dem Kranken jede Möglichkeit zu einer Entscheidung aus eigenem Überblick völlig fehlt. Die große Belastung durch die Allgemeinwirkung zytostatischer oder strahlentherapeutischer Maßnahmen beim Bronchialkarzinom betrifft den Kranken zusätzlich zu der Tatsache, dass man ihm über den Anlass der Therapie klare, seine Hoffnungen dezimierende Auskünfte geben muss. Technik und Apparate begegnen dem Lungenkranken auf Schritt und Tritt, und nicht selten führt ihn seine Krankheit in die Nachbarschaft der Intensivmedizin. Dutzende von Laborbefunden unterschiedlicher Genauigkeit begründen die Diagnose. Und da gibt es nicht selten die fraglichen Diagnosen, bei denen Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abgewogen werden müssen, während eingreifende Therapien nur bei sicherer Diagnose vertretbar sind. Hier ist der Kranke darauf angewiesen, dass der Arzt nicht nur monomaner Kämpfer gegen die Krankheit, sondern auch Anwalt des Individuums mit seinen Anschauungen, Erwartungen, materiellen Gegebenheiten und Gewohnheiten ist. Der Patient erwartet die Interpretation der Untersuchungsergebnisse und der therapeutischen Maßnahmen im Hinblick auf seine einmalige Person. Seinem hohen Informationsbedürfnis steht ein Arzt gegenüber, den die Fülle technischer Prozesse Zeit kostet, die ihm für das Gespräch fehlt. Dabei gilt der Ruf nach „patientenzentrierter Medizin“, und die Klagen über die „stumme Medizin“, die von psychologisch interessierten Ärzten wie Engelhardt und Lüth vorgebracht werden, genauso für den Pneumologen wie die sehr lesenswerten Gedanken des französischen Nephrologen J. Hamburger über die Metamorphosen der Medizin. Aufgeklärt und doch nicht wissend, mündig und doch nicht gereift, kritisch und wissensdurstig bleibt der Kranke ratlos, wenn sich nicht der Arzt als Mittler zwischen ihm und der Technik bemüht. Er braucht die ganz persönliche Zuwendung seines Pneumologen, dem nicht selten die Entscheidung auferlegt ist, welche Maßnahmen für dieses Leben sinnvoll sind.

    Die Vorträge dieser Tagung geben einen Überblick über den weiten Rahmen unseres Faches und zeigen gleichzeitig das letzte Stück des langen Weges, den der Lungenkranke und sein Arzt im Wandel der Zeit gegangen sind. Wir sind ein Glied in der Kette, und der Blick auf die Tradition dämpft unseren Stolz auf das Erreichte, das gewiss, morgen schon überholt, durch Besseres ersetzt wird.


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    * Forschbach G, Der Lungenkranke und sein Arzt im Wandel der Zeit. Prax Pneumol 1974; 28: 743 – 748.
    Dem Andenken meines verehrten Lehrers, Dr. Klaus Hoffmann, Hamburg-Wintermoor.



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