Pro
Psychoedukation ist verbreitet und vielfältig; ein Pauschalurteil ist schwierig. Bei
der Wirksamkeit ist nach den Kriterien zu fragen; die Ergebnisse sind widersprüchlich.
Unsere Auseinandersetzung mit der Psychoedukation ist grundsätzlicher und betrifft
das Wesen und die Zielsetzung von Psychoedukation.
Psychoedukation und Psychoseseminar waren Gegenpole; manches hat sich seitdem verändert.
Die Wirksamkeit von Psychoedukation steht infrage
In den britischen NICE-Leitlinien für die Behandlung von Psychosen gibt es aufgrund
mangelnder Evidenz bzgl. einer Verbesserung des Krankheitsverlaufs explizit keine
Empfehlung für eine spezifische „Adherence Therapy“ bzw. Psychoedukation [1]. Auch in deutschen Behandlungsleitlinien (z. B. zu Psychosozialen Therapien und
zu Bipolaren Störungen) wird relativiert: Wenn Psychoedukation wirkt, dann eher durch
Wiederholung in konstanten Gruppen. Ihre Nachhaltigkeit hängt zudem wesentlich davon
ab, ob die Angehörigen einbezogen werden. Sind also eher der soziale Zusammenhalt
und der Trialog entscheidend? In jedem Fall geht es um Beziehungskultur und Respekt,
einseitige Information allein ist zu wenig [2]; das führt zu grundsätzlichen Fragen:
Edukation der Seele – wie soll das gehen?
Lässt sich die Psyche „erziehen“? Haben wir Therapeuten die inhaltliche und moralische
Legitimation, Menschen in seelischer Not in dieser Weise zu leiten? Mit welchem Ziel
und in wessen Auftrag? Stellen wir uns den individuellen Unterschieden und der subjektiven
Brechung oder ignorieren wir beides? Nutzen wir unsere Sprachgewalt und Definitionsmacht
aus oder suchen wir nach einer gemeinsamen auf Augenhöhe verbindenden Sprache? – Argumentiert
wird, Wissen bedeute Macht und es sei daher notwendig, unser Wissen über Psychosen,
Depressionen usw. (mit)zuteilen und uns mit diesem Wissen kritischen Fragen zu stellen.
Nur haben wir wirklich einen allgemein gültigen lohnenden Wissensvorsprung? Welche
Implikation vermitteln wir mit diesem Wissen? Nehmen wir andere Erklärungsmodelle
ernst? Und wird durch die formale Gestaltung der Edukation das Machtgefälle nicht
eher vergrößert? Drei Beispiele mögen verdeutlichen, in welche Richtung eine Erweiterung
unserer Konzepte ansteht.
„Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ – banal oder wertvoll?
Dieses Krankheitsmodell ist regelhaft Gegenstand der Psychoedukation. Dabei wird Vulnerabilität
oft als biologisch/genetisch und quasi wie eine Vorstufe der Erkrankung angesehen.
Womit die Chancen des Modells zunichte sind: Die Erkrankung erscheint unkontrollierbar
weil biologisch determiniert. Ein derartiger Reduktionismus sorgt in der Öffentlichkeit
für eine Vergrößerung der sozialen Distanz [3], im therapeutischen Zusammenhang kann sie zur inneren Distanz beitragen. In Psychose-Seminaren
löst das Modell eher Erstaunen und Ernüchterung aus: „Dünnhäutige Menschen kommen
schneller in Krisen … und das ist euer ganzes Wissen? Und warum braucht ihr dafür
so umständliche Worte?“ Entscheidend ist wie pathologisch/anthropologisch wir die
besondere Empfindsamkeit und Grenzenlosigkeit eines Menschen verstehen [4].
Krankheitseinsicht oder Sinnbedürfnis?
Psychoedukation will Krankheitseinsicht vermitteln. Doch was ist damit gemeint? Wer
nimmt Einsicht und in was? Welche Einsicht steckt dahinter, wenn jemand sagen kann
„Ich habe F20“? Klar hilft es manchmal und manchem, wenn das Kind einen Namen hat
(Rumpelstilzchen-Effekt). Aber entscheidend ist, ob es gelingt, den eigenen inneren
Bezug zu wahren und zu fördern. Die abstrakte Definition einer nach außen verlagerten
allgemeinen Erkrankung birgt die Gefahr, dass die Entfremdung verstärkt, die Aneignung
der Erfahrung erschwert, also Kohäsion behindert wird. Das Hamburger SuSi-Projekt
konnte zeigen, dass die überwiegende Mehrzahl (fast 80 %) der Psychosepatienten ein
Sinnbedürfnis haben; d. h. sie bringen die eigenen Lebenserfahrungen und den individuellen
Weg in die Psychose in Verbindung. Diese Haltung geht mit einer positiveren Einstellung
zu Erkrankung und mit mehr Zuversicht in die Zukunft einher [5]. Menschen mit einem engen Krankheitskonzept haben ein höheres Depressions- und Suizidrisiko,
solche mit „idiosynkratischen“, also eigensinnigen Konzepten mehr Lebensqualität [6]. Insofern ist es eher unsere Aufgabe, „Einsicht“ zu nehmen, warum ein bestimmter
Mensch mit einer bestimmten Vorgeschichte in einer konkreten Situation psychotisch,
depressiv oder manisch wird.
Einseitige Compliance oder Ringen um Kooperation
Psychoedukation will Compliance verbessern und meint damit v. a. die Bereitschaft
zur Medikation. Suggeriert wird ein einseitiger Prozess. Der Patient soll den Spielregeln
des Arztes folgen. Manche Patienten erleben das wie ein Unterwerfungsritual. Bei einer
Störung, für die das Ringen um Autonomie und Individuation wesentlich ist, kann das
der Weisheit letzter Schluss nicht sein [7]. Wie ist es um unsere Compliance bestellt? Kooperation ist das Ergebnis gemeinsamer
Anstrengungen. Sie funktioniert nur auf Augenhöhe und braucht Zeit. Wir müssen bereit
sein, uns auf den anderen einzulassen, Umwege zu gehen, damit Vertrauen wachsen kann.
Die dafür notwendige Flexibilität und Kontinuität wird strukturell ständig behindert.
Alternativen und Perspektiven
Psychoseseminare und Trialogforen eröffnen einen anderen Sprachraum, eine andere Form
der Begegnung als Experten durch Erfahrung bzw. Ausbildung und Beruf. Wechselseitige
Fragen und Lernprozesse stehen im Vordergrund. Es geht um die Vielfalt des Geschehens,
nicht um Standardantworten. Subjektive Perspektiven stehen nebeneinander; die Triangulierung
bereichert alle. Psychoseseminare/Trialogforen ermöglichen eine aktive Krankheitsbewältigung,
unterstützen Empowerment und Recovery-orientierte Prozesse – beim Einzelnen und in
der Gruppe [5]
[8].
Peerberater als Genesungsbegleiter erreichen auch eigensinnige Patienten und haben
bei Menschen mit langfristigen psychischen Störungen eine gute Resonanz und eine mehrfache
Wirkung hinsichtlich Lebensqualität, Selbstwirksamkeit, aber auch Rehospitalisierungsrate.
Die Behandlungstreue wächst, aber mit gestärktem Selbstverständnis und tendenziell
ohne Autonomieverlust [9]. Die Ergebnisse der randomisierten Studie des Hamburger Psychenet-Peer-Projektes
(www.psychenet.de) dazu werden mit Spannung erwartet. Peergestützte Recovery-Gruppen wären in jedem
Fall eine gute Alternative zur Psychoedukation, ein wissenschaftlicher Vergleich spannend.
Schlussfolgerung
„Wenn ich psychotisch werde, möchte ich in meiner Gewordenheit verstanden, in meinen
So-Sein respektiert und in meiner Zukunftsperspektive ermutigt werden.“ Dieses Zitat
von Gwen Schulz [10] verdeutlicht Wünsche an Psychotherapie und prägt zugleich das Selbstverständnis
von Peerberatung. Information alleine ist zuwenig. Psychoedukation ist ein überholtes
Konzept, wenn sie paternalistisch reduziert wird. Notwendig zu berücksichtigen sind
die anthropologischen Aspekte psychischer Erkrankungen [4], die Vielfalt hinter den Diagnosen sowie die besonderen Aspekte der Genesung. Die
Beteiligung der Angehörigen und die Wertschätzung der subjektiven Perspektive sollten
Qualitätskriterien werden. Dann ist die Psychoedukation auf dem Weg zum Trialog und
die paternalistische Haltung ist überholt.