Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Äskulap – griechisch Asklepios – gilt als der mythologische Urvater der Ärzteschaft.
Noch heute finden sich Anklänge an ihn z. B. in Form des Äskulap-Stabes. Dieser von
einer Schlange, der Askulapnatter, umwundene Wanderstab ist bis heute das Symbol des
ärztlichen wie auch des pharmazeutischen Berufstandes. Folgt man der griechischen
Mythologie, so hatte er zusammen mit seiner Frau Epione (die Lindernde) 4 Töchter:
Iaso (die Heilende), Aegle (die schön Schimmernde), Hygieia, welche für Gesundheit
und kluge Lebensführung stand und Panakeia, die Allheilerin. Hinzu kamen 4 Söhne.
2 von Ihnen werden von Homer in seiner Ilias erwähnt, wo sie in den Kämpfen um Troja
als Wundärzte große Verehrung erfuhren. So könnte man mit etwas Freimut in den Kindern
des Asklepios verschiedene Fachrichtungen der modernen Medizin wiederfinden: Bei den
Söhnen die operativen Fachgebiete, bei den Töchtern die kurative und rehabilitative
Medizin bzw. psychologische Therapie (Iaso), die Pharmazie (Panakeia), Prävention,
Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz (Hygieia) und – last but not least – vielleicht
auch Wellness und ästhetische Medizin (Aegle). Die Richtigkeit dieser Interpretation
sei dahingestellt. Festgestellt werden kann jedoch eine gleichberechtigte Beteiligung
des weiblichen Geschlechts in der Nachfolge des großen Arztes Asklepios.
Hier drängt sich die Frage nach der heutigen Rolle von Geschlechteraspekten im Gesundheitswesen
auf. Das Überwiegen von weiblichem Personal in der Pflege und in vielen Heil- und
Hilfsberufen hat eine lange Tradition – wenngleich Führungspositionen noch immer
überproportional häufig von Männern besetzt werden. Dies betrifft nicht nur die Pflege.
In der Pharmazie sind mehr als 4 von 5 Berufstätigen weiblich, in den Apotheken sind
es 9 von 10. Auch in der Ärzteschaft vollzieht sich ein Wandel. Während bei den berufstätigen
Ärztinnen und Ärzten das Geschlechterverhältnis beinahe ausgeglichen ist, mit bekannten
erheblichen Variationen zwischen den Fachgebieten, gilt dies nicht für die neu approbierten
Berufsanfänger. Hier überwiegen die weiblichen Absolventinnen bereits im Verhältnis
6:4. Betrachtet man die Studienanfänger, so sind mehr als 2 von 3 weiblich – mit steigender Tendenz.
Aus dieser nüchternen Berufsdemografie leiten sich eine Vielzahl von Fragen und Handlungsbedarfen
ab. Die Fragestellungen betreffen die verfügbare Arbeitszeit nach erfolgreicher Ausbildung,
die regionale Verteilung der Ärztinnen und Ärzte, Präferenzen hinsichtlich der beruflichen
Tätigkeit als selbständige oder angestellte Ärztinnen und Ärzte sowie Fragen nach
dem Zusammenhang zwischen biologischem Geschlecht und sozialen geschlechtsbezogenen
Rollenzuschreibungen. Dies sind nur einige Beispiele. Auf eine Überschätzung des Arbeitszeiteffektes
durch die häufigere Teilzeittätigkeit von Ärztinnen ist hingewiesen worden: Die tatsächliche
Differenz scheint bei 10–15% zu liegen [1]. Präzisiert man die Frage der Geschlechterrolle zu einer Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit
in den Heil- und Hilfsberufen, so ergeben sich für Frauen besondere Herausforderungen.
Im Vordergrund steht die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese allgemeine
Frage lässt sich noch einmal differenziert stellen, nämlich in Bezug auf besondere
Lebenslagen, wie Schwangerschaft, Geburt und Kinderbetreuung in den verschiedenen
Phasen von Kindheit und Jugend, zudem oft mit Bezug auf die Pflege von Angehörigen.
Die informelle Pflege wird häufig von weiblichen Angehörigen geleistet. Zudem sind
Frauen in der Gemeindearbeit und im bürgerschaftlichen Engagement besonders häufig
tätig. Eng verknüpft sind damit besondere Herausforderungen im Arbeitsschutz und in
der betrieblichen Gesundheitsförderung, auch unter Aspekten der Burn-out Prophylaxe.
„Caring“ statt „Curing“, mit womöglich geschlechtsspezifischen Risiken hinsichtlich
der psychischen Gesundheit [2]? Im Zusammenhang mit Pflege und weiblicher Psychologie wurde von der US-amerikanischen
Psychologin Carol Gilligan die These einer eigenständigen „weiblichen“ Ethik aufgestellt:
dem zu Folge werden von Frauen in Differenz zu „männlicher“ Ethik Werte wie Empathie,
Mitgefühl und Beziehungsqualitäten vertieft geschätzt und respektiert [3]. Diese andere, weibliche Stimme einer „Ethic of Care“ ist von weiblicher Seite auch
heftig kritisiert worden: Als lediglich überkommene Rollenmoral weiblicher Fürsorglichkeit
[4]
[5]. Bedenkenswert scheint dieser Ansatz zumindest in der heutigen Realität dennoch,
trotz auch hier vieler offener Fragen.
Werden sich all diese Fragen zur Rolle der Frauen in der gesundheitlichen Versorgung
befriedigend beantworten lassen? Hier ist sicherlich ein einfaches „Ja“ mehr Wunsch
als Realität. Allerdings ist eine „Differenz“, wenn vielleicht nur bedingt zu männlicher
Berufsethik, so doch zu männlichen Berufsbiografien festzustellen. Die Einstiegsquote
in den Arztberuf ist bei Ärztinnen und Ärzten im Vergleich mit anderen Hochschulabsolventen
mit über 90% gleichermaßen sehr hoch [7]. Allerdings finden sich schon nach 5 Jahren erhebliche Unterschiede zwischen den
Geschlechtern. Daten aus dem Hochschulinformationssystem zeigen, dass zu diesem Zeitpunkt
nur noch 4 von 5 Frauen berufstätig sind, gegenüber einer fast 100%igen Berufstätigkeit
bei Männern [7, Seite 75 ff].
Gründe dafür? Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und vom Europäischen
Sozialfonds geförderte KarMed-Studie untersucht unter anderem auch die berufliche und private Situation von Ärztinnen
und Ärzten zu Beginn der fachärztlichen Weiterbildung [6]. Ärztinnen und Ärzte unterscheiden sich demnach schon zu diesem Zeitpunkt in vielen
karriererelevanten Aspekten. Dabei scheint eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen
beruflichen und häuslichen Aufgaben bei Paaren mit mindestens einem ärztlichen Partner
auch unabhängig von Kindern gegeben zu sein. Unterschiede zwischen den alten und den
neuen Ländern wurden ebenfalls beobachtet: In den neuen Bundesländern waren Kinder
häufiger vorhanden und auch häufiger in professioneller Kinderbetreuung. Die SwissMedCareer-Studie berichtet den Befund, dass Ärztinnen bei einer Hinwendung zur Elternschaft
mit traditionellen Rollenmerkmalen einerseits karrierebezogene Nachteile aufweisen,
andererseits im Geschlechtervergleich hohe Werte bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit
[8].
Auch die berufliche Mobilität zwischen den Geschlechtern ist unterschiedlich, bei
Frauen und traditioneller Rollenteilung ist sie häufig familiär bedingt eingeschränkt.
Besondere Arbeitszeitmodelle und Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind damit insbesondere
für Familien relevant. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Bezahlung von
Männern und Frauen in vergleichbarem professionellem Umfeld. Wichtige Handlungsfelder
für Gesundheitseinrichtungen sind bezogen auf die Zukunft damit die Themen Arbeitszeitgestaltung,
Kinderbetreuung, Angehörigenpflege, Aspekte des Wiedereinstiegs in den Beruf sowie
Dual-Career Optionen, also die Unterstützung des Lebenspartners bei dessen oder deren
beruflicher Tätigkeitsaufnahme. Lesens- und beachtenswert sind in diesem Zusammenhang
die Checklisten des Deutschen Ärztinnenbundes zu Themen wie „Medizin studieren mit
Kind“, „Das familienfreundliche Krankenhaus“, „Die familienfreundliche Niederlassung“
oder das „Memorandum zur Verbesserung der beruflichen Entwicklung von Ärztinnen“ (www.aerztinnenbund.de).
Die beschriebenen Themen betreffen mit Variationen alle Länder mit entwickelten Marktwirtschaften.
Unter der Zielvorgabe einer flächendeckend ausreichenden und balancierten ärztlichen
Versorgung legt die OECD 3 Strategien nahe [9]. Die erste Strategie richtet sich auf zukünftige Ärzte und legt ihren Schwerpunkt
auf die Auswahl und die gezielte Ausbildung der Medizinstudenten. Die zweite Strategie
beschäftigt sich mit den gegenwärtig ärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzten. Hier sind
Regulationen und Anreize wirksame Steuerungsinstrumente. Eine dritte Strategie besteht
darin, mit Weniger auszukommen („do with less“). Damit ist die Akzeptanz eines rückläufigen
Personalkörpers im hochqualifizierten ärztlichen Bereich gemeint, welcher bereichsspezifisch
durch nichtärztliche Leistungserbringer ausgeglichen werden könnte. Von gleich hoher
Bedeutung sind auch Innovationen im Bereich der Dienstleistungserbringung. Diese reichen
von einer Technologieunterstützung, von der Telemedizin bis zur Robotik, bis zu einem
verbesserten Management der kostbaren professionellen Ressourcen bzw. umfassen eine
Kombination dieser beiden Ansätze. Es steht zu erwarten, dass ein tiefgreifender Wandel
in der Kultur der ärztlichen Leistungserbringung bevorsteht.
Mit diesen und ähnlichen Herausforderungen im Gesundheitswesen beschäftigt sich auch
die vorliegende Ausgabe: Mit den Überlegungen junger Ärztinnen und Ärzte in Sachsen,
aus der Patientenversorgung auszusteigen, mit der Kundenorientierung in der ambulanten
Medizin, mit den Erwartungen der Patienten an ihre Hausärzte bzw. -ärztinnen hinsichtlich
Prävention und Gesundheitsberatung, mit dem legitimen Verdienst praktischer Ärzte
und Ärztinnen in der Einschätzung der Bevölkerung, mit der kritischen Einschätzung
des Bereitschaftsdienstes durch die teilnehmenden Ärzte, mit den Assoziationen deutscher
Allgemeinmediziner zu muslimischen Patienten, zur Rolle der Gesundheitsämter für die
medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus,
zu beruflichem Selbstverständnis, Ressourcen und Belastungen von Psychologen in rehabilitativen
Einrichtungen und aus dem bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS)
zum Gesundheitsverhalten von 11–17-jährigen Jungen und Mädchen in Deutschland.
Herausforderungen stellen immer auch Chancen dar. So wie gesundheitliche Krisen auch
als Lebenschancen für Patientinnen und Patienten begriffen werden können, kann auch
die mancherorts als Krise erlebte Umstrukturierung im Gesundheitswesen Chancen mit
sich bringen. Die Integration beruflicher und privater Lebenssphären betrifft Frauen
und Männer und sollte als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begriffen werden,
nicht nur, um einen Mangel an personellen Ressourcen zu vermeiden [10]. So kann eine verbesserte technologische Unterstützung und ein verbessertes Ressourcenmanagement
der Professionen im Gesundheitswesen auch zu einem Abbau überzogener Anforderungen
und Belastungsspitzen im besten Interesse aller Beteiligter führen. Diese Beteiligten
sind die Leistungserbringer selbst, ihr soziales Umfeld sowie die betroffenen Patientinnen
und Patienten. Ein Ausblick auf die zukünftige verstärkt „weibliche“ Medizin? Mit
einem Rückblick auf Asklepios Töchter ist sie möglichweise behutsamer und achtsamer
(Iaso), möglichweise stärker auf Prävention und eine Förderung der Gesundheit ausgerichtet
(Hygieia) und vielleicht auch verstärkt auf Wellness (Aegle). Offen bleibt bei diesem
mythologischen Deutungsversuch, ob mit den 4 Töchtern und 4 Söhnen des Asklepios neben
der Gleichberechtigung womöglich auch ein mittelfristig ausgewogenes Geschlechterverhältnis
in der ärztlichen Profession nahegelegt ist.