Die meisten Therapeuten haben es schon einmal erlebt: In der letzten Behandlung klagt
der Patient, es habe sich nichts verändert und seine Beschwerden seien noch genauso
stark wie zu Beginn der Therapie. Der Physiotherapeut weiß jedoch, dass sich bestimmte
Funktionen und Aktivitäten verbessert haben. Mit der patientenspezifischen Funktions-Skala
(PSFS) kann er dem Patienten die Fortschritte widerspiegeln. Bei diesem Assessment
hält der Therapeut zu Beginn und am Ende der Therapie schriftlich fest, wie leicht
oder schwer dem Patienten drei Aktivitäten aus dem täglichen Leben fallen. So kann
er ihm beispielsweise aufzeigen, dass das Treppensteigen nach der Behandlung deutlich
besser klappt – auch wenn die Schmerzen am Ende der Therapie zunächst unverändert
sind oder sich nur minimal verbessert haben. Gerade bei Patienten mit chronischen
Erkrankungen ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Verbesserung der Alltagsaktivität
zu richten [3, 5].
Drei Alltagsaktivitäten als Referenz
Drei Alltagsaktivitäten als Referenz
Zu Beginn der Behandlung wählt der Therapeut zusammen mit dem Patienten drei individuelle
Aktivitäten aus dem täglichen Leben aus. Diese sollten für den Patienten schwer durchzuführen
sein und häufig im Alltag vorkommen, zum Beispiel Schuhebinden, Radfahren oder Treppensteigen.
Es dürfen keine Aktivitäten sein, die der Patient vermeidet, da er diese nicht bewerten
kann. Bereits die Auswahl der „Activities of daily living“ ist für den Therapeuten
interessant, denn der Patient „inventarisiert“ [4]: Er lässt sich seinen Alltag durch
den Kopf gehen und benennt Situationen, die ihm dabei am meisten Probleme bereiten.
Oft lässt sich auf diesem Weg herausfinden, ob ein Patient dazu neigt, die Zähne zusammenzubeißen
oder ob er Unangenehmes eher vermeidet. Zudem wird der Therapeut durch das gemeinsame
Durchdenken der Alltagsaktivitäten auf mögliche Therapieziele und -inhalte aufmerksam
gemacht. Bei Dauerpatienten kann er überprüfen, ob die festgesetzten Therapieziele
noch aktuell sind.
Nicht die Schmerzen, sondern die Aktivität bewerten
Nicht die Schmerzen, sondern die Aktivität bewerten
Sind die Aktivitäten ausgewählt, bewertet der Patient auf einer Skala von null bis
zehn, wie schwer sie ihm fallen. Der Therapeut kann helfen, indem er ihn zum Beispiel
fragt: „Wie schwer ist Ihnen das Treppensteigen in der vergangenen Woche gefallen?
‚Null‘ würde bedeuten, dass es Ihnen überhaupt keine Schwierigkeiten bereitet hat,
‚zehn‘, dass es für Sie unmöglich war.“ Manche Patienten finden es schwierig, zwischen
Schmerzen und Funktion zu unterscheiden. Hilfreich ist dabei die Anleitung: „Bitte
bewerten Sie nicht Ihre Schmerzen, sondern wie schwierig es für Sie ist, die Aktivität
durchzuführen.“
In der letzten Behandlungseinheit bewertet der Patient erneut, wie ihm die Alltagshandlungen
gelingen. Anschließend überprüft er mit dem Therapeuten, ob sich diese verbessert
haben (Tab.)
Tab.
In diesem Beispiel schätzt der Patient alle drei gewählten Aktivitäten nach der Behandlung
als weniger problematisch ein als zu Beginn der Therapie.
|
Aktivität
|
Wert beim Eingangstest (vor der ersten Therapie)
|
Wert beim Re-Test (in der letzten Behandlung)
|
|
Schuhebinden
|
6
|
1
|
|
Radfahren
|
5
|
3
|
|
Treppensteigen
|
7
|
5
|
Besonders hilfreich bei multilokulärer Symptomatik
Besonders hilfreich bei multilokulärer Symptomatik
Therapeuten können die PSFS sehr gut bei Patienten mit chronischen Schmerzen, neurologischen
oder internistischen Erkrankungen anwenden. Besonders hilfreich ist das Assessment,
wenn ein Patient eine multilokuläre Symptomatik hat – er also an mehreren Stellen
unter Schmerzen und Funktionseinschränkungen leidet – und der Therapeut somit sehr
viele Parameter evaluieren und die Therapieergebnisse mit dem Patienten durchsprechen
müsste. Dadurch dass der Patient die mit der PSFS zu bewertenden Aktivitäten selbst
ausgewählt hat, ist immer sichergestellt, dass sie eine hohe Relevanz für ihn haben.
Legen Therapeut und Patient die Aktivitäten auch als Therapieziele fest, steigert
deren hohe Relevanz außerdem die Adhärenz in der Behandlung. Das heißt, es fällt dem
Patienten umso leichter, Empfehlungen zu Verhaltensänderungen und therapeutische Maßnahmen
wie Übungen tatsächlich umzusetzen.
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
In der ursprünglichen Version des Assessments von Paul Stratford und Kollegen („patient-specific
measure“) bewerten die Patienten die Durchführbarkeit der gewählten Aktivitäten. Anna
Beurskens änderte das Original-Assessment in eine aktivitätsbezogene Schmerzskala
um [1]. Das bedeutet, dass die Patienten die Schmerzen angeben, die sie während der
Aktivität empfinden. Beide Ansätze sind möglich. Doch auf Grundlage des Salutogenese-Prinzips
empfiehlt es sich, die Aufmerksamkeit nicht auf den Schmerz zu lenken, sondern die
Patienten wie in der ursprünglichen Version einschätzen zu lassen, wie gut oder schlecht
sich eine Aktivität durchführen lässt.
Gute Validität und Reliabilität
Gute Validität und Reliabilität
Mehrere Wissenschaftler haben untersucht, wie valide und reliabel die PSFS ist, und
bescheinigten dem Assessment für beide Kriterien gute Werte [1, 2, 6, 7]. Die Korrelation
mit den Werten des anerkannten Roland Morris Disability Questionnaire lagen mit r
= 0,53–0,88 im moderaten bis exzellenten Bereich [6]. Optimal ist der Wert „1,00“.
Der Test-Retest-Reliabilitäts- Koeffizient war ebenfalls sehr gut: Der Intraklassen-Koeeffizient
(ICC) betrug 0,97 [6]. Auch hier wäre der Wert „1,00“ optimal.
Vorschläge für die PSFS bei unterem Rückenschmerz [4]
-
> gehen (auf ebenem oder unebenem Gelände)
-
> stehen
-
> Treppen steigen
-
> laufen
-
> aufstehen (aus dem Bett oder von einem Stuhl)
-
> lang sitzen
-
> heben
-
> nach vorne beugen
-
> an- und ausziehen
-
> im Bett liegen
-
> Fahrrad fahren
-
> Gartenarbeit
-
> tanzen
-
> putzen (zum Beispiel saugen oder Fenster putzen)
-
> bügeln
-
> Bett machen
In der englischen Originalversion des PSFS ist die Bewertung übrigens entgegengesetzt:
Die maximale Einschränkung enspricht null Punkten, keine Einschränkung bei der Aktivität
zehn Punkten [6].
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
Abb.: Bildnachweis siehe Impressum
Die Erfahrung zeigt, dass es den Patienten häufig schwerfällt, adäquate Aktivitäten
für die PSFS zu finden. In diesem Fall kann der Therapeut Vorschläge nennen („Aktivitäten“). Gelegentlich fallen den Patienten nur Aktivitäten ein, die ihnen zu einem Zeitpunkt
mit geringer Schmerzintensität keine Schwierigkeiten und bei einer Schmerzattacke
große Probleme bereiten und deswegen nicht als generell „leicht“ oder „schwer“ bewertbar
sind. Dies erschwert die PSFS, macht sie jedoch nicht unmöglich: Der Patient soll
die Aktivität dann in der Phase bewerten, in der er körperlich eingeschränkt ist.