Die Frage, ob die Begleitung Sterbender zur Arbeit eines Osteopathen gehört, habe
ich mir als junge Osteopathin nicht gestellt. Ja, das Sterben gehört grundsätzlich
zum Leben dazu, aber was hatte das mit meiner Arbeit zu tun? Das betrifft doch überwiegend
alte Leute, oder? Es gab für mich erstmal keinen Anlass, mich mit dem Thema zu beschäftigen.
So kam es, dass ich mit dem Tod eines Patienten unvorbereitet konfrontiert wurde.
Nicht, dass es in meinem näheren Umfeld noch keine Todesfälle gegeben hätte. Aber
bis dato hatte ich den Tod noch nicht als Therapeutin erlebt. Ich hatte eine Idee
vom Tod und Sterben und hatte mir dazu auch schon Gedanken gemacht, mich spirituell
damit auseinandergesetzt. Auf einer professionellen Ebene hatte ich mich mit diesem
Thema aber noch nicht beschäftigt.
Palliative osteopathische Sterbebegleitung
Palliative osteopathische Sterbebegleitung
Ein 50-jähriger Patient kam nach einem Langstreckenflug zurück aus Asien mit einer
Schwäche des M. peroneus in meine Praxis. Laut ärztlichem Befund war diese auf eine
Kompression des N. peroneus durch das Übereinanderschlagen der Beine während des Fluges
zurückzuführen. Ich behandelte den Patienten ein Vierteljahr lang 1–2-mal im Monat.
Gleichzeitig erhielt er 2–3-mal pro Woche Physiotherapie. Der Mann war ein dynamischer
Marathonläufer, der das ihm verordnete Übungsprogramm gewissenhaft absolvierte. Das
Behandlungsergebnis war trotzdem unbefriedigend.
Abb. 1 In der Begleitung Sterbender ist es wichtig, empathisch und präsent zu sein, aber
zum Eigenschutz dennoch auch distanziert. Foto: © istockphoto
Ich hatte ein komisches Gefühl, irgendetwas stimmte nicht, ohne dass ich das mit meinen
mir damals zur Verfügung stehenden osteopathischen Mitteln hätte verifizieren können.
Weil sich der Befund objektiv zusehends verschlechterte, intervenierte ich beim behandelnden
Neurologen so lange, bis der Patient zu einer umfangreichen Diagnostik in eine Spezialklinik
überwiesen wurde. Nach 3 Wochen sahen wir uns wieder, die Diagnose: amyothrophe Lateralsklerose.
Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine rasch voranschreitende, degenerative Erkrankung
des zentralen Nervensystems. Von der Krankheit betroffene Menschen verlieren kontinuierlich
Muskelsubstanz an Armen und Beinen, am Sprech-, Kau- und Schluckapparat. Die Krankheit
verläuft sehr unterschiedlich. Die meisten Patienten leben bei fortschreitender Lähmung
noch 3–5 Jahre, meistens bei vollem Bewusstsein.
Mein Patient und seine Frau waren bereits gut informiert, sie wussten – zumindest
theoretisch –, was auf sie zukommen würde. Sie bedankten sich für meine Hartnäckigkeit,
da die Diagnosestellung sonst mit Sicherheit wesentlich später erfolgt wäre. Ab jetzt
war Zeit kostbar.
Das Paar reiste noch einmal nach Asien. Etwa 1 Jahr nach unserem ersten Kontakt nahmen
die Lähmungen zu, sodass der Patient innerhalb kürzester Zeit auf einen Rollstuhl
angewiesen war. Bis dahin hatte ich noch nie über osteopathische Hausbesuche nachgedacht. Nun ergaben sich diese fast von selbst. Im Nachhinein betrachtet gehört
das Behandeln zu Hause (oder in einer palliativen Abteilung) als einer der wesentlichen
Faktoren bei der osteopathischen Begleitung von Sterbenden dazu.
Ich behandelte bei dem Patienten nun jeweils die Region oder das Organ, das am meisten
„Unruhe“ machte. Oft waren es die Leber auf viszeraler Ebene und die reziproken Spannungsmembranen
im kranialen Bereich. Häufig ging es darum, den Patienten darin zu unterstützen, zur
Ruhe zu kommen.
Es fühlte sich für mich an, als würde sein Körper Abschnitt für Abschnitt sterben.
Es kehrte mehr und mehr Stille in ihm ein, und auch äußerlich, denn mein Patient konnte
bald nicht mehr sprechen und schlucken. Er war aber immer sehr wach und präsent.
Wir hatten über das Sterben gesprochen, wo er sterben wolle und wie: in Ruhe und zu
Hause. So sorgfältig, wie er früher sein Marathontraining geplant hatte, hatte er
sich im Wissen um sein baldiges Ende über sein Verhältnis zu seinen Freunden und Angehörigen
Gedanken gemacht. Er hatte Dinge gesagt und geklärt, die noch gesagt werden mussten,
finanzielle Angelegenheiten erledigt und auch schon über seine Beerdigung nachgedacht.
Nicht jeder Mensch kann das, aber das respektvolle Daraufhinweisen, ob alles, was
es zu erledigen, zu sagen und zu ordnen gibt, auch getan ist, gehört manchmal auch
zu unseren therapeutischen Aufgaben, damit ein Patient in Ruhe und innerem Frieden
sterben kann. Unser Vorteil als Therapeut ist, dass wir nicht zu nah sind und nicht
zur Familie gehören. Wir wahren einen gewissen professionellen Abstand und haben dennoch
ein intimes – im Sinne von sehr nahes und vertrautes – Verhältnis zu dem jeweiligen
Menschen.
Eines Tages kam ich zum Hausbesuch und merkte schon beim Betreten der Wohnung, dass
eine besondere, ruhige und gelassene Stimmung herrschte. Beim Behandeln des Patienten
spürte ich eine von tief innen kommende Stille, die sich in ihm ausbreitete. Ich konnte
gut spüren, dass ihm dabei wohl war. Ich war mir sicher, er wusste, dass er bald sterben
würde. Im Stillen dankte ich ihm dafür, dass er so viel Vertrauen zu mir hatte und
ich ihn auf seinem Weg begleiten durfte, und nahm dann in Demut von ihm Abschied.
Als ich am Ende der Behandlung war, spürte auch seine Frau, dass es wahrscheinlich
mein letzter Besuch gewesen sein würde.
Rückblickend bin ich froh, dass mich dieser Patient damals nicht gefragt hatte, ob
ich ihn bei seinem Sterbeprozess begleiten würde. Sicher hätte ich es mir nicht zugetraut
und abgelehnt, soviel Verantwortung zu übernehmen. So war aber unausgesprochen klar,
dass ich die Behandlung, die ich derzeit begonnen hatte, auch beenden würde. Natürlich
war mein ursprüngliches Behandlungsziel ein komplett anderes gewesen. Mir kam damals
sehr entgegen, dass auch ich fast 2 Jahre Zeit hatte, um mich auf sein Sterben vorzubereiten.
Was habe ich in dieser Zeit gelernt, was ist für mich als Osteopathin wichtig, wenn
ich einen Menschen auf seinem Weg zum Tod osteopathisch begleite? Meines Erachtens
ist es wesentlich, dass man sein persönliches Verhältnis zum Tod und zum Sterben geklärt
hat, wenn man als Osteopathin in diesem Bereich arbeitet. Was bedeuten Sterben und
Tod für einen selbst? Was glaubt man, passiert nach dem Tod oder eben auch, was passiert
nicht? Wie ordnet man den Übergang vom Leben zum Tod spirituell ein? Ist man selbst
bereit zu sterben? Wie geht man mit dem möglichen Sterben von Familienmitgliedern
oder Freunden um? Das alles sind Fragen, denen wir uns stellen müssen. Für mich war
es dabei hilfreich, mich mit Texten der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross auseinanderzusetzen
[1], [2].
Ein überraschender Verlust
Ein überraschender Verlust
Das nächste Mal, dass einer meiner Patienten starb, war das genaue Gegenteil von dem
ersten beschriebenen Fall. Ich hatte gerade meine Ausbildung in Kinderosteopathie
abgeschlossen, meine eigenen Kinder waren noch klein, und wie zum eigenen Schutz als
Mutter hatten Sterben und Kind für mich miteinander nichts zu tun.
Eine knapp 40-jährige Mutter kam mit ihrem 3 Wochen alten Sohn in unsere Praxis. Es
war ihr 3. Kind und sie kam auf Anraten ihres Kinderarztes. Das Neugeborene hatte
einen ausgeprägten Schiefhals, massive Verdauungsstörungen und einen deutlichen Plagiozephalus
im okzipitalen, temporalen und frontalen Bereich rechts. Die Mutter berichtete von
einer schwierigen Schwangerschaft mit Blutungen zwischen der 7. und 9. Schwangerschaftswoche
und vorzeitigen Wehen. Sie selbst habe sich, im Gegensatz zu den beiden vorherigen
Schwangerschaften, nicht wohl gefühlt.
Der kleine Junge lag ruhig auf meinem Behandlungstisch, während ich ihn untersuchte
und behandelte. Ich fand mechanische Auffälligkeiten, wie sie bei einem Schiefhals
häufig auftreten: einen Beckenschiefstand, eine Dysfunktion des Os sacrum und eine
erhöhte Zwerchfellspannung. Alle Diaphragmen waren sehr gespannt. Außerdem wirkte
das Kind „noch nicht angekommen“, es war noch nicht richtig da und der Ausdruck des
Primären Respiratorischen Mechanismus (PRM) war sehr reduziert. Das beunruhigte mich
nicht, denn das findet man ja häufiger mal. Im Nachhinein hätte die geringe Vitalität
des PRM mich stutzig werden lassen sollen, aber damals dachte ich, das sei auf die
schwierige Schwangerschaft und Geburt zurückzuführen.
Nach der ersten Behandlung verbesserte sich der Befund bei dem Neugeborenen. Alles
wirkte symmetrischer und auch der PRM drückte sich kräftiger aus. Ich bestellte Mutter
und Kind für 2 Wochen später zur nächsten Behandlung. In der Regel halten unsere Patienten
ihre Termine zuverlässig ein und so wunderte ich mich, dass die Mutter mit ihrem Kind
nicht zur Behandlung erschienen war. Ich wartete zur vereinbarten Uhrzeit 10 Minuten
und griff dann zum Telefon, um nachzufragen, ob sie den Termin vergessen habe. Der
Vater war am Apparat und fragte, ob ich denn nicht wüsste, dass ihr Sohn letzte Woche
gestorben sei. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Er sei am plötzlichen Kindstod
gestorben, erklärte er mir. Ich kondolierte und wünschte der Familie noch viel Kraft
in dieser schweren Zeit.
Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich in mich und fragte mich, ob ich es hätte wissen
oder ahnen können. Heute, 15 Jahre später und einiges an Berufserfahrung reicher,
würde ich sagen: Ja, ich hätte es ahnen können. Aber welche Konsequenz hätte es gehabt?
Ich bin nicht so vermessen zu behaupten, ich hätte es verhindern können. Jedenfalls
habe ich aus diesem Todesfall viel gelernt – im Umgang mit meinen eigenen Kindern
und mit meinen Patientenkindern und deren Eltern. Ich begann, das Leben noch mehr
wertzuschätzen und es nicht als selbstverständlich hinzunehmen, gesunde Kinder zu
haben. Ich versuche diese positive Grundhaltung dem Leben und dem Kind gegenüber in unserer Praxis allen Eltern zu vermitteln. Ich
möchte sie besonders darauf hinweisen, was ihr Kind gut kann, denn gerade das verlieren
sie bei verhaltensauffälligen, behinderten oder chronisch kranken Kindern schnell
aus den Augen. Und ich selbst bin noch wachsamer geworden, habe gelernt, mein „komisches“ Gefühl ernst zu nehmen. Ich versuche den
Patienten alles zu geben, wonach sie fragen. Ich bitte meinen Kollegen um eine zweite
Meinung und tausche mich mit dem Kinderarzt aus, wenn ich der Meinung bin, dass etwas
nicht stimmt. Den Eltern sage ich davon allerdings nichts. Denn ich möchte, dass sie
ihrem Kind unvoreingenommen begegnen können, und keine Ängste schüren, wenn es nicht
notwendig ist. Schließlich sind wir keine Wahrsager – Intuition hin oder her.
Unterstützung beim Sterbeprozess
Unterstützung beim Sterbeprozess
Manchmal bekommt man ein Kompliment und versteht erst einmal nicht, dass es eines
ist. Das ist Ihnen bestimmt auch schon einmal so gegangen. Wir haben unsere Praxis
auf dem Land und z. T. sind alle Generationen einer Familie bei uns Patienten. Dieser
Tatsache hatte ich es zu verdanken, dass eines Tages die 65-jährige Schwiegermutter
einer Patientin mit der Begründung zu mir zur Behandlung kam, sie habe schon so viel
Gutes über uns gehört.
Bei der Anamnese gab sie an, 2 Jahre zuvor wegen eines Mammakarzinoms operiert worden
zu sein. Sie wurde anschließend erst bestrahlt und bekam dann noch über ein halbes
Jahr Chemotherapie. Sie kam, weil sie insgesamt etwas für ihr Wohlbefinden tun wollte.
Ich persönlich habe ein sehr kritisches Verhältnis zur „Wellnessosteopathie“, wollte
die Dame aber nach der ausführlichen Anamnese nicht ohne Behandlung wieder wegschicken.
Also untersuchte ich sie von Kopf bis Fuß. Außer dass sie von Zeit zu Zeit Kopfschmerzen
hatte, gab sie keine Symptome an. Ich fand ein paar Dysfunktionen im Bereich des Bewegungsapparats,
weitere im Bereich von Leber und Darm, der linke Lungenflügel war operationsbedingt
restriktiv und die Mobilität in den kranialen Membranen war deutlich eingeschränkt.
Da war es wieder, das komische Gefühl. Nicht greifbar, keine wirklich signifikante
Einschränkung, aber ein Mangel an Vitalität des PRM, der nicht zu der sonst ganz munteren
Patientin passte. Beiläufig fragte ich sie, wie oft sie denn zur Nachkontrolle müsse.
Sie antwortete, sie sei vergangene Woche erst beim CT gewesen und hätte morgen eine
Besprechung beim Onkologen. Ich behandelte die Dysfunktionen, die mir relevant erschienen,
und vereinbarte, dass sie sich melden sollte, falls sie eine weitere Behandlung haben
wolle.
Nach 2 Wochen rief die Patientin erneut an und bat um einen Termin. Sie kam und berichtete,
wie gut es ihr nach der Behandlung gegangen sei. Die Verdauung funktionierte besser,
sie habe besser geschlafen und insgesamt sei sie emotional stabiler. Ich fragte sie
zu Beginn der Behandlung, wie denn der Befund der Nachkontrolle gewesen sei. Da wurde
sie plötzlich ganz ruhig. Man hätte 2 Metastasen gefunden, in der Leber und im Gehirn.
Auf Anraten des Onkologen würde sie nächste Woche erneut mit einer Chemotherapie beginnen.
Sie fragte mich, ob ich sie in den Wochen zwischen der Chemotherapie jeweils behandeln
könne. Ich schluckte innerlich – das würde kein Spaziergang werden. Aber ich sagte
zu, und wir sahen uns von da an alle 3 Wochen.
In den darauffolgenden Wochen und Monaten funktionierte insbesondere die Verdauung
sehr schlecht und auch die Atmung war eingeschränkt. Ich versuchte, so sanft wie möglich
die immer schwächer werdende Patientin zu unterstützen. Wir klärten schnell miteinander,
dass ihr und mir wohler war, wenn sie während der Behandlung ihre Perücke ablegte.
Bei jeder Behandlung fielen mehr innerliche Mauern. Schnell kamen wir zu den Dingen
im Leben, die für sie noch wichtig waren.
In dieser Zeit war ich sehr dankbar für meine Kommunikationsausbildung, die ich in
den letzten 3 Jahren absolviert hatte. Präzises Ausdrücken und Hinterfragen waren
mir als Osteopathin damals eine große Stütze. Ebenfalls war es wichtig, um meine persönlichen Grenzen zu wissen und sie zu meinem eigenen Schutz zu respektieren. Ich machte mir zu dieser Zeit absichtlich keine Gedanken darüber, wie ich in der
eigenen Familie mit so einer Problematik umgehen würde. Diese innere Auseinandersetzung
hob ich mir für die Zeit danach auf. Auch meinen persönlichen Gefühlen wollte ich
Raum geben können; während den Behandlungen jedoch brauchte ich aber immer wieder
Distanz.
Wir unterhielten uns vor und nach den Behandlungen viel über Themen, die sie persönlich
bedrückten, aber nie über das Sterben an sich, obwohl es naheliegend gewesen wäre.
Irgendwann sprach ich das Thema Tod an, denn es war offensichtlich, dass sie nicht
mehr lange leben würde. Ich tat das, während meine Hände an ihrem Zwerchfell lagen,
ich sie aber nicht direkt anschaute. Die Spannung unter meinen Händen löste sich sofort
auf. Sie sagte, es sei sehr schwierig, denn ihr Umfeld sei der Meinung, „es würde
schon wieder werden“. Sie selbst aber merke, dass dem nicht so sei. Wir sprachen darüber,
warum die Familie damit solche Schwierigkeiten habe und wie sie darauf reagieren könne.
Ich machte ihr Mut, dieses Thema mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Freunden
anzugehen, damit das, was sie ausdrücken wollte, noch Zeit und Raum finden könne.
Für mich waren unsere Treffen mindestens so sehr Coaching wie osteopathische Behandlung.
Irgendwann sagte, sie fürchte, sie könne nicht mehr lange zu den Behandlungen kommen;
sie sei zu schwach, um die Fahrt noch weiter auf sich zu nehmen. Sie fragte, ob es
mir möglich sei, sie zu Hause weiter zu begleiten, was ihr enorm wichtig sei. Die
Ruhe und das Wohlsein nach der Behandlung trage sie.
Da war er wieder: der osteopathische Hausbesuch. Ich behandelte die Patientin die letzten 4 Wochen ihres Lebens in ihrer eigenen
Wohnung. Die Behandlungszeiten legte ich so, dass mir Zeit blieb, um meine innere Mitte zu finden und zu halten. Nach den Behandlungen nahm ich mir jeweils Zeit, um spazieren zu gehen,
sodass ich wieder genügend Abstand hatte, bevor ich weiter arbeitete. Ich spürte, dass ich für mich genauso viel Sorge
tragen musste wie für meine Patientin. Dies wurde mir damals bewusst. Für mich gehört
die eigene Fürsorge im hohen Maß zur professionellen Berufsausübung. Ich kann mich meiner Meinung nach
nur gut um meine Patienten kümmern, wenn ich mich vorher gut um mich selbst gekümmert
habe. Dazu gehört auch, dass ich meine geplanten Ferien einhalte.
Die Ferien standen an und ich sagte meiner Patienten, dass ich nun für 2 Wochen nicht
kommen könne. Wir verabschiedeten uns und sie bedankte sich für alle Unterstützung,
die ich ihr in dem letzten dreiviertel Jahr gegeben hatte. Sie und auch ihre Familie
seien nun ruhig. Das letzte Jahr sei das wertvollste, das sie in ihrem Leben gelebt
habe. Sie bedauerte, nicht vorher jemanden gehabt zu haben, mit dem sie so gut hätte
reden können.
Als ich aus den Ferien zurückkam, lag der Umschlag mit der Todesanzeige in der Post.
Die Patientin war an meinem ersten Ferientag im Kreise ihrer Familie gestorben. Ganz
ruhig und friedlich, wie mir ihr Sohn später erzählte. Auch er sagte, dass die Zeit
davor für ihn sehr wertvoll gewesen sei.
Fazit
Zusammenfassend kann ich sagen, dass in meinen Augen eine osteopathische Begleitung Sterbender nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist. Wir können möglicherweise krankheits- oder stressbedingte körperliche Symptome
lindern oder abmildern, aber auch über unsere Arbeit mit dem vegetativen Nervensystem
und ZNS die Patienten darin unterstützen, gelassener in ihrer schwierigen Situation
zu sein. Als Behandelnder braucht es jedoch dafür ein paar Voraussetzungen; nicht
nur eine respektvolle, kritische und ruhige osteopathische Herangehensweise, sondern
vor allen Dingen Selbst-Bewusst-Sein. Das Wissen um eigenen Schwachstellen und einen guten Umgang mit ihnen sind Voraussetzung,
denn wir sollten uns nicht zu viel zumuten, sondern auch Raum lassen für die eigene
Verarbeitung des Geschehenen. Die spirituellen „Hausaufgaben“ mit der zentralen Frage „Was bedeutet der Tod für mich?“ sollten meiner Meinung nach
vorher gemacht worden sein. Auch das Wissen über die Macht der Sprache kann hilfreich sein. Es ist wichtig, Sterbenden Raum zu geben, um sich von eher emotional
geladenen Situationen innerhalb der Familie zu entlasten. Haben wir diese Themen gut
in uns selbst integriert, sodass wir unser eigenes Fulkrum behalten können, sind wir
sicher gut auf die Höhen und Tiefen des Lebens vorbereitet. So können wir dem Tod
als Teil der Gesundheit in Frieden begegnen.
Ein wesentlicher Impuls für die Entwicklung der Osteopathie war für Still der frühe
Tod zwei seiner Kinder und eines Adoptivkinds [3]. Er arbeitete sein Leben lang mit Patienten, die vom Tod bedroht waren und konnte
einige retten, andere nicht. Die Situation heutiger Osteopathen ist meist eine andere;
wir sind seltener mit solch extremen Situationen konfrontiert. Jedoch ist es auch
für uns heutzutage wichtig, uns mit dem Thema Tod und Sterben auseinanderzusetzen
und dies im Sinne einer ganzheitlichen Osteopathie nicht auszuklammern. Dabei müssen
wir sehen, wo unsere persönlichen Grenzen bei der Arbeit sind und sie u. U. neu auszuloten.