Übersicht Versorgungsforschung (Teil I)
Definition, Einordnung, Abgrenzung, Aufgaben, Umsetzung
Definition
Die derzeitige klassische wissenschaftliche Definition von „health services research“
leitet sich aus einer Veröffentlichung der Academy for Health Services Research and
Health Policy vom Juni 2000 ab, die (vereinfacht) Versorgungsforschung als Feld sieht,
welches Zugang, Qualität und Kosten von gesundheitlicher Versorgung und deren Einfluss
auf Gesundheit und Wohlbefinden untersucht: "the multidisciplinary field of scientific
investigation that studies how social factors, financing systems, organizational structures
and processes, health technologies, and personal behaviors, affekt access to health
care, the quality and cost of health care, and ultimately our health and well-being.
Its research domains are individuals, families, organizations, institutions, communities,
and populations" [1 ].
Inzwischen gibt es weitere Vorschläge zur Optimierung der wissenschaftlichen Definition,
die sich im Wesentlichen darauf beziehen, das Ziel von „Health Services Research“, also Versorgungsforschung, in die Definition mit
aufzunehmen. Das heißt, klarzustellen, dass man Versorgungsforschung durchführt, um
die Versorgung effektiver, gerechter und effizienter zu gestalten: „attempts to improve
the effectiveness, equity, or efficiency of healthcare“ [2 ].
Nach der Definition des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung (DNVF) wird Versorgungsforschung
als „ein multidisziplinärer Ansatz zur Erforschung der Umsetzung wissenschaftlicher
Erkenntnisse in die Praxis der Gesundheitsversorgung hinsichtlich ihrer Wirkung auf
Qualität und Effizienz in individueller und sozioökonomischer Perspektive“ gesehen
[3 ]. Nach einem aktuellen Lehrbuch der Versorgungsforschung „hat sich in Deutschland
folgende Definition durchgesetzt“: „Versorgungsforschung ist ein fachübergreifendes
Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen
beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte
beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit
von Versorgungsstrukturen und –prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert“ [4 ]. Alle bisherigen Konzepte der Versorgungsforschung beruhen laut Pfaff & Schrappe
[4 ] auf den 3 Grundkonzepten Ergebnisorientierung, Multidisziplinarität/Multiprofessionalität
sowie Patientenorientierung.
Die Bundesärztekammer (BÄK) [5 ] orientiert sich an diesen Definitionen und stellt darüber hinaus die Alltagsorientierung
in den Vordergrund als eine „grundlagen- und problemorientierte fachübergreifende
Forschung“. So ist Versorgungsforschung „die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung
von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen
unter Alltagsbedingungen. Sie studiert, wie Finanzierungssysteme, soziale und individuelle
Faktoren, Organisationsstrukturen und -prozesse und Gesundheitstechnologien den Zugang
zur Kranken- und Gesundheitsversorgung sowie deren Qualität und Kosten letztendlich
unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden beeinflussen“.
Der Begriff Bevölkerung schließt auch gesunde Klienten mit ein, die bspw. im Rahmen
von Früherkennungsmaßnahmen (fälschlicherweise meist als Vorsorgeuntersuchung bezeichnet)
aus unterschiedlichen Anlässen (pädiatrische Untersuchungen, Untersuchung nach dem
Jugendarbeitsschutzgesetz, arbeitsmedizinische Vorsorge, Krebsfrüherkennungsprogramme
u. a.) Leistungen in Anspruch nehmen.
Insbesondere thematisiert Versorgungsforschung die in vielen Gesundheitssystemen nachweisbare
Kluft zwischen den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der realen Versorgungssituation
[6 ].
Die Definition von Versorgungsforschung der BÄK [7 ] enthält 5 entscheidende Punkte (Inhalte teils gekürzt):
Beschreibung der Einflüsse, Prozesse und Ergebnisse der Patientenversorgung mit
wissenschaftlichen Methoden
Erklärung von kausalen Bedingungszusammenhängen soweit möglich
Neuentwicklung theoretisch fundierter und empirisch geprüfter Versorgungskonzepte
Erforschung der Umsetzung neu entwickelter Versorgungskonzepte (begleitend oder folgend)
Evaluation von Versorgungsstrukturen, -prozessen, -konzepten unter Alltagsbedingungen
Die Punkte 1 und 2 sind nach Pfaff [8 ] als Grundlagenforschung in der Versorgungsforschung zu verstehen, die Punkte 3–5
hingegen als anwendungsorientierte Versorgungsforschung.
Laut BÄK [7 ] soll das Ziel von Versorgungsforschung auch sein, Optimierungsprozesse zu fördern
und Risiken zu mindern.
Einordnung
Gegenstand von Versorgungsforschung ist das Versorgungssystem. Das Versorgungssystem
besteht aus einer Anzahl von Elementen, die jedes für sich klar umrissen sind, aber
untereinander in Beziehung stehen. Diese Beziehungen sind nicht monokausal und unidirektional,
sondern die Elemente stehen miteinander in Wechselwirkung. Daraus ergibt sich eine
gewisse Komplexität, die sich dann auf die Verstehbarkeit und die Beeinflussbarkeit
des Systems auswirkt [8 ].
Zur weiteren theoretischen Fundierung wird von den meisten Autoren das systemtheoretische
Modell des Versorgungssystems genutzt. Mittels dieses Modells lassen sich die einzelnen
Forschungsinhalte der Versorgungsforschung klassifizieren ([Abb. 1 ]: adaptiert nach Pfaff [8 ]).
Abb. 1 Systemtheoretisches Modell des Versorgungssystems (adaptiert nach Pfaff [8 ]).
Man geht davon aus, dass das Versorgungssystem nicht nur sehr komplex ist, sondern
letztlich auch nicht klar ist, wie genau die einzelnen Einflüsse und Mittel, die in
das System fließen, das Ergebnis determinieren (Stichwort „Black Box“). Aus diesem
Grund versucht man die Forschung in verschiedene Abschnitte aufzugliedern. Einerseits
wird untersucht, welche von außen einwirkenden Faktoren das System beeinflussen (Input).
Zum anderen werden die Leistungen, die in und durch das System erbracht werden (Output)
betrachtet. Und letztlich wird das Versorgungsergebnis (Outcome), auch als Kosten-Nutzen-Relation
analysiert. Um die Komplexität des Versorgungssystems besser zu verstehen, beschreibt
die „Throughput“-Perspektive dagegen, welche Strukturen und Prozesse im Versorgungssystem
wirken, welche Technologien eingesetzt werden, damit letztlich aus einem bestimmten
Input ein bestimmter Output und ein Outcome erzielt wird.
Aus unserer Perspektive scheint der derzeitige Stand der Versorgungsforschung so zu
sein, dass meistens nicht alle Perspektiven des Versorgungsgeschehens einer Krankheit
gleichzeitig ins Visier genommen werden. Der Fokus liegt oft auf der beschreibenden
Perspektive einzelner Systemelemente (siehe folgende Abschnitte) oder aber auf einer
unidirektionalen Effizienzanalyse (Input vs. Output).
Unter Input-Forschung versteht man nicht nur die Analyse der zugeführten Ressourcen
(Personal, Material, Geld), sondern auch der Faktoren, die den Eintritt in das Versorgungssystem
beeinflussen (Patientencharakteristiken wie: Bedarf, Inanspruchnahme, usw.) bzw.
behindern (Barrieren) sowie Versorgungsvoraussetzungen [8 ]. Hier spielen auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der gesetzlichen und
privaten Krankenversicherung eine wesentliche Rolle.
Die Throughput-Forschung analysiert Versorgungsstrukturen und –prozesse des Versorgungssystems
aus organisatorischer, diagnostischer und therapeutischer Perspektive. Sie untersucht
die Kombination aus Gesundheitsleistung und Kontext in Form von Versorgungsstrukturen
und –prozessen. Systematische Bewertungen von versorgungsrelevanten Gesundheitstechnologien
(z. B. Arzneimittel, Medizinprodukte) im Sinne von Health Technology Assessment (HTA)
werden aktuell unter dieser Perspektive beleuchtet [9 ]. Versorgungstechnologien und deren Anwendungsvoraussetzungen und –möglichkeiten
sind hier von großer Bedeutung.
Die Output-Forschung betrachtet die unmittelbar erbrachten Versorgungsleistungen.
Diese Betrachtung erfolgt zunächst unabhängig vom Versorgungsergebnis, also der Wirkung
der Versorgungsleistung. Von besonderem Interesse sind Menge und Qualität der Versorgungsleistung,
die am Bedarf und der maximal möglichen Qualität relativiert werden müssen. Hier zeigt
sich einerseits, dass die objektive Bedarfsermittlung bisher in Forschung und Wissenschaft
zu wenig Beachtung fand. Zum anderen ist die Versorgungsqualität erst in jüngerer
Zeit Gegenstand der Wissenschaft.
Die Outcome-Forschung evaluiert das Erreichen der beabsichtigten Wirkung durch die
Versorgungsleistung. Das heißt z. B. der Gewinn oder Verlust an Gesundheit, Lebensqualität,
Selbständigkeit, Wohlbefinden, Arbeitsfähigkeit usw. Outcome Research ist nach den
US-Autoren Clancy & Eisenberg „the study of the end results of health services that
takes patients` experiences, preferences, and values into account” [10 ]. Neben patientenrelevanten Endpunkten wie Mortalität und Morbidität, die vor allem
auf die Lebensdauer abheben, werden zunehmend Parameter betrachtet, die Aktivitäten
und Teilhabeaspekte wie Kommunikation, Mobilität, Selbstversorgung, Teilnahmemöglichkeit
am soziales Leben usw. abbilden. Die bisherige Betrachtung des kranken Menschen mit
dem Fokus auf seine Defizite wird zunehmend abgelöst von einer Betrachtungsweise,
welche die erhaltenen und förderungsfähigen Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt
(z. B. International Classification of Functioning, Disability and Health [11 ]), Dieses Prinzip kommt vor allem bereits in der Sozialmedizin zur Anwendung.
Abgrenzung
Versorgungsforschung unterscheidet sich von klinischer Forschung in erster Linie dadurch,
dass klinische Forschung auf Wirksamkeitsnachweise von therapeutischen Interventionen
abzielt, die oftmals unter Idealbedingungen, die nicht den realen Alltag der Betroffenen
abbilden, erbracht werden (efficacy) (nach http://www.cochrane.de/de/cochrane-glossar ). Bei Versorgungsforschung im Zusammenhang mit therapeutischen Interventionen geht
es im nachfolgenden Schritt darum, diese Interventionen (=Versorgungsleistungen),
die sich im klinischen Forschungssetting als wirksam erwiesen haben, auf ihre Wirksamkeit
im Alltag des realen Versorgungssystems (mit seinen multiplen Einflüssen und Wechselwirkungen)
zu untersuchen (effectiveness).
Versorgungsforschung orientiert sich zum einen auf bereits vorhandene Versorgungsstrukturen
und –prozesse und zum anderen auf innovative, evidenzbasierte Weiterentwicklungen
unter Berücksichtigung und Erhalt bestehender Strukturen. Versorgungsforschung hat
gegenüber klinischer Forschung auch das Ziel beratend und regulierend zu Versorgungssystementscheidungen
beizutragen.
Die Versorgungsforschung analysiert die Alltagswirksamkeit der Methoden und Maßnahmen
in der gesundheitsrelevanten Versorgung von gesunden und kranken Menschen unter realen
Bedingungen und kontrolliert im Gegensatz zur klinischen Forschung die moderierenden
Faktoren. Das Forschungsinteresse liegt vor allem auf der Ergebnisqualität, die durch
die Struktur- und Prozessqualität im Versorgungsgeschehen maßgeblich beeinflusst
werden kann.
In [Abb. 2 ] ist ersichtlich, dass im Forschungsablauf einer evidenzbasierten Medizin die Versorgungsforschung
idealerweise routinemäßig einbezogen wird, bevor eine weitreichende flächenmäßige Implementation einer Versorgungsleistung erfolgt.
Versorgungsforschung kann aber auch Ausgangspunkt z. B. bei der Entwicklung neuer
Versorgungskonzepte fungieren. Versorgungsforschung ist aber nicht nur der letzte
Schritt „Forschung“ vor der Praxiseinführung. Versorgungsforschung kann auch Defizite
und Bedarf aufzeigen und bspw. zu klinischer Forschung anregen – nämlich dann wenn
offensichtlich wird, dass die Versorgung mit den Standardtherapien zu unbefriedigenden
Ergebnissen im Versorgungsalltag führt. Damit ist Versorgungsforschung nicht nur
unidirektional, sondern hat auch Rückkopplungsmöglichkeiten. Leider wird sie derzeit
viel zu selten vor der weitreichenden flächenmäßigen Implementierung einer Versorgungsleistung einbezogen
und damit die Chance vertan, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen.
Abb. 2 Positionierung der Versorgungsforschung in der medizinischen Forschung (adaptiert
nach Neugebauer [31 ]).
Aufgaben
Neben den in der methodischen Definition der BÄK genannten 5 Punkten, die die primären
Aufgaben der Versorgungsforschung klar umreißen, kristallisieren sich weitere Kernaufgaben
heraus [12 ]. 3 davon sollen hier beispielhaft genannt werden:
Definition von Unterversorgung und Überversorgung sowie Fehlversorgung Die Feststellung von Unter- oder Überversorgung ist nicht trivial, weil sie sich
nicht auf die bloße Darstellung von Häufigkeiten in der Anwendung oder Nichtanwendung
bestimmter Maßnahmen reduzieren lässt. Vielmehr müssen für die Interpretation solcher
meist regionaler oder sozial bedingter Unterschiede in der Versorgung eine Vielzahl
von konfundierenden Variablen, d. h. erklärenden Fakten, herangezogen werden. Dies
können bestimmte Häufungen von Patientencharakteristika sein, Besonderheiten in den
Versorgungsstrukturen vor Ort, idealerweise auch die Wunschvorstellung hinsichtlich
Behandlungsergebnis des einzelnen Patienten (der für ihn persönlich relevante Endpunkt)
und andere im Versorgungssystem wirkende Einflüsse. Diese Faktoren in die Interpretation
von Versorgungsunterschieden zu integrieren ist eine wesentliche Aufgabe der Versorgungsforschung.
Erforschung von patientenrelevanten Endpunkten zur Spezifizierung der Outcomeforschung Die Feststellung, ob eine Versorgungsleistung
(ein Output) wirklich erfolgreich war, wird bisher mit der Outcomeanalyse erforscht.
Das Ergebnis hängt dabei entscheidend davon ab, welches Outcome gewählt wurde. Bisher
war es nicht selten, dass sogenannte „Surrogate“ als Ergebnisvariable betrachtet wurden.
Dieses sind Ersatzparameter, die quasi eine Vorstufe eines klinischen Parameters darstellen.
Für die korrekte Verwendung muss das Surrogat validiert sein und ein kausaler Zusammenhang
zwischen Surrogat und klinischem Parameter nachgewiesen werden (therapeutischer Effekt
auf Surrogat → kausaler Effekt auf Zielvariable). Diese Validierung ist jedoch bis
heute für viele verwendete Surrogate nicht durchgeführt, sodass es schon zu medizinisch
falschen Schlüssen kam [13 ]. Die Alternative wäre, patientenrelevante Endpunkte zu entwickeln, um ein Outcome
zu beurteilen und infolge dessen Versorgungsentscheidungen anhand solcher validierter
Endpunkte zu treffen. Dies bedeutet, die Patientenpräferenzen und den Patientennutzen
bei Entscheidungsprozessen prioritär einzubeziehen [14 ]. Zu diesem Punkt erfolgt eine detaillierte Darstellung in diesem Heft von Apfelbacher
und Loss.
Politikfolgeforschung Dies bedeutet im letzten Schritt, noch nach der Implementation von Versorgungsaspekten
im deutschen Gesundheitssystem, zu überprüfen, welche Veränderungen (Outcome) dieses
Gesetz gebracht hat (nachdem beschrieben wurde, wie das Gesetz von den einzelnen Beteiligten
umgesetzt wurde). Als ein Beispiel könnte die Evaluation des Gesetzes zur Verbesserung
der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG) genannt
werden, welches zum 01.01.2012 in Kraft getreten ist [15 ].
Eine breit gefächerte Aufstellung von weiteren Aufgaben der Versorgungsforschung findet
sich im Memorandum „Methoden für die Versorgungsforschung“ des Deutschen Netzwerks
für Versorgungsforschung (DNVF) [16 ]
[17 ]
[18 ] und wird außerdem aktuell diskutiert im nationalen Aktionsplan für Versorgungsforschung
des DNVF [19 ].
Umsetzung
Studien der Versorgungsforschung sollten sich bezüglich des methodischen Vorgehens
und der Standards am „Memorandum III: Methoden für die Versorgungsforschung“ des Deutschen
Netzwerks für Versorgungsforschung (DNVF) orientieren [16 ]
[17 ].
Evidenzbasierte Versorgungsforschung (Teil II)
Wie in der vorausgehenden Übersicht dargestellt, wurde in der Versorgungsforschung
bisher der Aspekt des Evidenzgrades von Erkenntnissen kaum Beachtung geschenkt, da
viele der behandelten Fragestellungen hauptsächlich mit beschreibenden Methoden bearbeitet
wurden.
Betrachten wir jedoch eine Maßnahme, die das Versorgungsgeschehen gezielt verändert,
besteht die Möglichkeit, diese Veränderung im Vergleich zur bisherigen Vorgehensweise,
eventuell zum bisher üblichen Standard zu untersuchen.
Damit kann das Konzept des gestaffelten Erkenntniswertes, bekannt aus der klinischen
Therapieforschung als Evidenzgrad ([Tab. 1 ]), auch auf Fragen der Versorgungsforschung angewandt werden und der Grad des Erkenntniswertes
erhöht werden; wir sprechen nun von „evidenzbasierter Versorgungsforschung“.
Tab. 1 Evidenzklassen (in Anlehnung an Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.,
(www.ebm-netzwerk.de ).
Evidenzklassen
Beschreibung
Ia
Evidenz aufgrund einer systematischen Übersichtsarbeit (Meta-Analyse) mit mindestens
3 randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trial, RCT)
Ib
Evidenz aufgrund mindestens einer RCT (oder einer Meta-Analyse von weniger als 3 RCT)
IIa
Evidenz aufgrund mindestens einer kontrollierten nicht-randomisierten Studie mit methodisch
hochwertigem Design
IIb
Evidenz aufgrund mindestens einer quasi-experimentellen Studie mit methodisch hochwertigem
Design
III
Evidenz aufgrund einer nicht-experimentellen deskriptiven Studie (Vergleichsstudie,
Korrelationsstudie, Fallserie)
IV
Evidenz aufgrund von Berichten/Empfehlungen von Expertenkomitees, klinische Erfahrung
anerkannter Autoritäten
Voraussetzung für einen möglichst hohen Evidenzgrad ist die Verwendung einer möglichst
elaborierten Forschungsmethodik, die das Studienergebnis beeinflussende Fehlerquellen
minimiert. Vorgehensweisen, die aus experimentellen Studiendesigns stammen, sind hier
hilfreich: (1) Verwendung von validen, reliablen und objektiven Instrumenten zur Operationalisierung
des Ist-Zustands; (2) kontrollierte Vorgehensweise durch Definition der Vergleichssituation
(3) Bildung von Hypothesen; (4) Festlegung der Rahmenbedingungen, unter denen die
beiden Versorgungsoptionen untersucht werden sollen und (5) Berücksichtigung von Outcome-Parametern
mit möglichst hoher Validität und vor allem mit großer Versorgungsrelevanz.
Als nächstes wird im „Kreislauf der Versorgungsoptimierung“ theoretisch erläutert,
wie eine Optimierung der Versorgung von kranken Menschen im Sinne der evidenzbasierten
Versorgungsforschung erreicht werden kann ([Abb. 3 ]). Der „Kreislauf der Versorgungsoptimierung“ besteht aus 6 Schritten:
Abb. 3 Das Modell „Kreislauf der Versorgungsoptimierung“.
Als erster Schritt wird eine Ausgangsanalyse vorgenommen, um bestehende Defizite in der aktuellen Versorgungssituation
festzustellen.
Dies bildet die Grundlage für den zweiten Schritt , der darin besteht, ein konkretes Versorgungsziel festzulegen.
Im dritten Schritt wird eine neue Vorgehensweise, Maßnahme oder die Verbesserung eines vorhandenen Konzepts
entwickelt, um dieses Ziel zu erreichen.
Im vierten Schritt wird eine vergleichende empirische Studie mit möglichst anspruchsvollem Studiendesign
der Evidenzklasse Ib oder IIa durchgeführt, um die verbesserte Versorgungsstrategie
im Vergleich zur bisher üblichen Vorgehensweise zu prüfen. Eine gesundheitsökonomische
Evaluation ist dabei möglichst mit durchzuführen.
Zeigen die Ergebnisse keine oder nur wenige Vorteile gegenüber der bisherigen Vorgehensweise
(„–“ [Abb. 3 ]), beginnt der „Kreislauf“ wieder mit Schritt 3. Sind die Ergebnisse jedoch signifikant,
versorgungsrelevant und effizient („+“ in [Abb. 3 ]) – auch im Sinne gesundheitsökonomischer Überlegungen, werden im fünften Schritt Strategien der Implementierung in die Regelversorgung oder zumindest in die „Breite“
der Versorgungslandschaft ermittelt und erprobt. Bei Implementationsschwierigkeiten
sollten verbesserte Strategien entwickelt und erprobt werden.
Gegebenenfalls werden in einem sechsten Schritt die Folgen der Implementierung mit Versorgungsforschungsstudien erforscht.
Sollten weiterhin Versorgungsdefizite bestehen (Schritt 1), geht der „Kreislauf der
Versorgungsoptimierung“ iterativ wieder mit Schritt 2, der Festlegung eines weiteren
Versorgungsziels, weiter.
Nachfolgend wird der „Kreislauf der Versorgungsoptimierung“ an einem Beispiel aus
dem Bereich chronisch degenerativer Erkrankungen, hier der degenerativen Demenzen,
veranschaulicht.
Der erste Schritt , die Ausgangsanalyse mündet in die Feststellung, dass bei der Versorgung von Menschen
mit Demenz 3 Probleme vorherrschen: Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen [20 ], Nachlassen der alltagspraktischen Fähigkeiten gefolgt von einer zunehmenden Unselbstständigkeit
im Alltag [21 ] sowie eine große, vor allem psychische Belastung der Pflegenden [22 ]. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass es keine Versorgungsangebote, etwa Therapieansätze
oder sonstige Maßnahmen, gibt, die einen praktisch relevanten Einfluss auf die alltagspraktischen
Fähigkeiten ausüben.
Deshalb wurde im zweiten Schritt als Versorgungsziel eine relevante Verlangsamung der Abnahme der alltagspraktischen
Fähigkeiten festgelegt.
Unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnislage wurde im dritten Schritt angenommen, dass eine multimodale Intervention, bestehend aus kognitiven, psychomotorischen
und alltagspraktischen Elementen, in der Lage sein könnte, die Progression des Nachlassens
der alltagspraktischen Fähigkeiten in relevantem Ausmaß und für längere Zeit abzuschwächen.
Dazu wurde eine standardisierte Umsetzung der Maßnahme, im Sinne eines Manuals entwickelt
[23 ].
Zur Überprüfung der Wirksamkeit wurde im vierten Schritt eine randomisierte kontrollierte Studie durchgeführt, bei der die Kontrollbedingung
die übliche Versorgung darstellte. Zur Erfassung der alltagspraktischen Fähigkeiten
wurde ein Leistungstest verwendet [24 ]
[25 ], der die einfach verblindete Messung der Zielvariable mit hoher Validität ermöglicht
und aus versorgungsrelevanten Items besteht (z. B. Schleife binden können). Die erzielten
Ergebnisse waren nicht nur signifikant, sondern zeichneten sich durch eine hohe Versorgungsrelevanz
aus. So konnten die alltagspraktischen Fähigkeiten für mindestens 12 Monate durchgehend
auf einem stabilen Niveau gehalten werden [26 ]. Zudem zeigten sich auch nach Beendigung der systematischen Intervention deutliche
nachhaltige Effekte auf die alltagspraktischen Fähigkeiten der Betroffenen [27 ]. Außerdem konnte aufgezeigt werden, dass durch die Einsparung von Pflegezeit die
multimodale MAKS-Intervention auch gesundheitsökonomisch interessant ist.
Als erste Strategie der Implementierung in die Versorgungsroutine wurde im fünften Schritt ein Schulungskonzept für die MAKS-Maßnahme nach dem Prinzip „Train-the-Trainer“ entwickelt.
Dies wurde und wird in Schulungen umgesetzt (www.maks-aktivierungstherapie.de ). Parallel dazu wurde das MAKS-Konzept mehreren Landespflegeausschüssen sowie Verbänden
der gesetzlichen und privaten Kranken-/Pflegeversicherung vorgestellt.
Geplant ist, im sechsten Schritt zu ermitteln, welche Folgen die Einführung des MAKS-Konzepts in den betreffenden
Einrichtungen für die von Demenz Betroffenen, aber auch für die dort tätigen Personen
hat.