Einleitung
Die medizinische Kompressionstherapie mit unterschiedlichsten Materialien ([Tab. 1]) hat einen festen Platz in der Prophylaxe und Therapie phlebologischer und lymphologischer
Erkrankungen. Angesichts der Vielzahl der zur Verfügung stehenden Komponenten ist
es heute bei entsprechend individueller Auswahl möglich, jeden Patienten mit einer
geeigneten Kompressionstherapie zu versorgen. Es bedarf dafür jedoch v. a. in komplexen
Fällen z. B. bei der Kombination von peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK)
und chronischer venöser Insuffizienz (CVI) einer differenzierten Betrachtung.
Tab. 1
Überblick über die Materialien der modernen Kompressionstherapie.
Verbandsysteme
|
Strumpfsysteme
|
Intermittierende pneumatische Kompressionstherapie
|
|
-
Rundstrick und Flachstrick in verschiedenen Klassen, Passformen und Festigkeiten (Stiffness)
-
Ulkuskompressionsstrümpfe
-
Reisekompressionsstrümpfe
-
Sportkompressionsstrümpfe
|
|
Der aktuelle Artikel soll nun nicht auf die ohnehin bekannten und seit Jahren etablierten
Aspekte der Kompressionstherapie eingehen. Hierzu sei auf die entsprechende Fachliteratur
und die Leitlinien verwiesen [1]
[2]
[3]. Vielmehr wird dieser Beitrag sich auf drei aktuell unter wissenschaftlicher Diskussion
befindliche Themen der Kompressionstherapie und schwierige Alltagssituationen im Umgang
mit der Kompression fokussieren.
Kompressionstherapie bei pAVK?
Kompressionstherapie bei pAVK?
Entsprechend der Leitlinien zur Kompressionstherapie gilt die pAVK in fortgeschrittenen
Stadien (III und IV) als absolute Kontraindikation der Kompressionstherapie. Wir erleben
jedoch tagtäglich in unseren Praxen und Kliniken eine stetig wachsende Zahl älterer
Patienten, die sowohl Zeichen einer pAVK aufweisen als auch eine begleitende CVI haben.
Wie geht man mit diesem Dilemma nun praktisch um?
Aktuelle Arbeiten aus den Gruppen um Mosti, Partsch und Jünger et al. haben zeigen
können, dass sowohl die periphere arterielle Durchblutung als auch der venöse Rückfluss
von einer entsprechend angepassten Kompressionstherapie profitieren [4]
[5]
[6]. Voraussetzung dafür ist jedoch der sichere Ausschluss einer kritischen Ischämie,
d. h. die absoluten Druckwerte der Knöchelarterien sollten > 60 mmHg liegen bzw. der
ABI bei > 0,5 [4]. Zahlreiche Leitlinien geben als Grenzwert auf der Basis von Expertenmeinungen ohne
wissenschaftliche Evidenz einen ABI 0,8 an oder empfehlen die ungenau definierte Anwendung
von „reduzierter“, „moderater“ oder „angepasst modifizierter“ Kompression. Die Arbeiten
von Mosti und Partsch sind die ersten, die klar definierte und objektivierbar zu messende
Grenzwerte angeben. Der absolute Knöchelarteriendruck scheint die wesentliche Einflussgröße
zu sein, er ist der entscheidende Parameter [4]. Ist der Knöchelarteriendruck nicht eindeutig messbar (z. B. bei erheblichem Ödem
oder einer schmerzhaften Ulzeration in dieser Region), bietet sich als Alternative
der arterielle systolische Druck in der Großzehe an. Dieser sollte > 30 mmHg liegen
[4].
Bei Anwendung einer Kompressionstherapie sollte der absolute systolische Knöchelarteriendruck
> 60 mmHg liegen, der absolute systolische Arteriendruck der Großzehe > 30 mmHg.
Unter diesen Bedingungen ist dann die Anwendung einer Kompressionstherapie mit hoher
Stiffness und ggf. reduziertem Anpressdruck möglich und effektiv (z. B. Klasse I Flachstrick).
Die hohe Stiffness sorgt für einen entsprechend hohen Arbeits- aber einen nur geringen
Ruheanpressdruck. Auf diese Weise können Druckspitzen und Schnürfurchen z. B. über
dem Rist verhindert werden.
Mosti und Partsch haben in ihren Untersuchungen sogar Anpressdrucke von bis zu 40 mmHg
benutzt. Darunter zeigte sich keine Einschränkung der arteriellen Perfusion, jedoch
eine Normalisierung der reduzierten venösen Pumpfunktion [4]. Auch Ladwig und Jünger konnten zeigen, dass die 14-tägige Anwendung eines sogenannten
Lite-Kompressionssystems (Coban 2 Lite, 3 M), welches speziell für die Anwendung bei
gemischten Ulzerationen entwickelt wurde, mit Knöchelanpressdrucken von 30 mmHg als
sicher einzuschätzen ist [5]
[6]. Es kam in dieser kleinen Studie an 15 Patienten (ABI 0,5 – 0,8) zu keinen wesentlichen
Nebenwirkungen im Sinne von Druckschäden an der Haut oder hypoxiebedingten Schmerzen
[5]
[6].
IPK bei pAVK
Nicht nur Verbände und Kompressionsstrümpfe haben sich als effektiv erwiesen. Es konnte
auch gezeigt werden, dass Patienten mit einer pAVK von der Anwendung einer intermittierenden
pneumatischen Kompressionstherapie (IPK) profitieren [7]
[8]
[9]. Dabei konnte ein Anstieg der Oxygenierung, des arteriellen Blutflusses, des arterio-venösen
Druckgradienten sowie der Ausschüttung von Vasodilatatoren beobachtet werden. Außerdem
kam es klinisch zu einer Verlängerung der Gehstrecke, einer Reduktion des Ruheschmerzes
und einer Verbesserung der Lebensqualität [8]
[9]
[10]
[11]. Studien zeigten sogar einen klinischen Benefit bei Patienten, die nicht für Revaskularisationsmaßnahmen
mittels Operation oder Angioplastie infrage kommen [7].
In den bisherigen Anwendungen kamen jedoch in meist kleinen Patientengruppen sehr
unterschiedliche IPK-Geräte mit verschiedenen Manschetten (Fuß, Unterschenkel, Oberschenkel)
und uneinheitlichen Anwendungsparametern bezüglich des applizierten Druckprofils zum
Einsatz. Eine generelle Empfehlung mit einem eindeutigen Vorteil für ein bestimmtes
Protokoll lässt sich daher bisher nicht ableiten.
Kompressionstherapie als Prophylaxe beim postoperativen Bypass-Ödem
Ein erhebliches klinisches Problem stellt auch das postoperative Ödem nach Anlage
eines Bypasses bei pAVK dar. Die Inzidenz liegt bei 40 – 100 % der Patienten nach
femoropoplitealer Bypassanlage [12]. Die Patienten beklagen Schmerzen und sind sowohl in der Lebensqualität als auch
in ihrer Aktivität und Mobilität postoperativ deutlich eingeschränkt. Pathogenetisch
geht man von einem Kombinationseffekt aus Lymphödem und Ischämie-Ödem aus.
Die Anwendung einer Kompressionstherapie mit einem oberschenkellagen MKS Klasse I
über eine Woche oder der Gebrauch einer IPK im Fußbereich für 7 Nächte postoperativ
nach Anlage eines femoropoplitealen Bypasses im Ausgangsstadium pAVK II – IV sind
in der Lage, ein Ödem weitgehend zu verhindern bzw. zu reduzieren [12].
Progressiver oder regressiver Druckgradient?
Progressiver oder regressiver Druckgradient?
Entsprechend der in Deutschland gültigen RAL-Norm werden medizinische Kompressionsstrümpfe
für alle phlebologischen und lymphologischen Indikationen mit einem von distal nach
proximal abfallenden Druckgradienten produziert. Hinter dieser Grundlage steht die
Annahme, dass unter physiologischen Bedingungen der venöse Fluss von distal nach proximal
gelenkt werden sollte. Ein entsprechender Druckgradient soll diesen Fluss unterstützen
[13]. Für einen ruhenden Patienten trifft diese Annahme auch zu, doch scheint es sich
bei Bewegung anders zu verhalten [13].
Untersuchungen einer französischen Arbeitsgruppe haben 2009 überraschende Ergebnisse
gezeigt [14]. Insgesamt wurden in einer Pilotstudie 130 Personen mit milder CVI untersucht, welche
über 15 Tage entweder einen knielangen progressiven (höchster Druck an der Wade) oder
konventionellen MKS trugen. Es zeigte sich unter der progressiven Kompression ein
deutlicher Rückgang des Schweregefühls der Beine (nicht-signifikant), jedoch ein signifikant
höherer Komfort und eine signifikant höhere Compliance in der Gruppe der Patienten
mit progressiven MKS [14]. In einer weiteren randomisierten, placebo-kontrollierten Studie mit 401 Patienten
mit moderater bis schwerer CVI und einer Kompressionstragephase von 3 Monaten (progressiver
MKS vs. degressiver MKS mit 30 mmHg) zeigte sich auch klinisch eine signifikante Besserung
von Schmerzen und Unterschenkelsymptomen der CVI mittels progressivem MKS. Das Anziehen
des MKS mit progressivem Verlauf fiel, wie auch in der Vorstudie, signifikant leichter
[15].
Die zunächst erstaunlich erscheinenden Ergebnisse ließen sich in Experimenten von
Mosti und Partsch weiter untermauern [13]. Tatsächlich kommt es nämlich beim Gehen zu Phasen, bei denen der proximale intravenöse
Druck höher liegt als der distale. Ein kontinuierlicher intravenöser Druckgradient
kann somit nicht als generelles physiologisches Prinzip angenommen werden [13]. In der Muskelsystole kann so eine externe Wadenkompression mit einem progressiven
Kompressionsstrumpf den Auswurf des gepoolten Blutes in der Wade im Vergleich zur
Knöchelregion erhöhen [13]. Es zeigte sich eine positive Korrelation zwischen der Ejektionsfraktion und den
Druckspitzen an der Wade, nicht aber in der Knöchelregion [13]. Insgesamt erwiesen sich progressive Kompressionsstrümpfe mit einem Wadenanpressdruck
von 29 mmHG im Liegen und 33,5 mmHg im Gehen als signifikant effektiver als niedrige
Anpressdrucke. Um mit einem konventionellen degressiven medizinischen Kompressionsstrumpf
einen entsprechenden Wadenanpressdruck zu erhalten, müsste der Knöchelanpressdruck
bei ca. 45 – 60 mmHg liegen. Das An- und Ausziehen einer derartigen Kompression ist
sicher nicht einfach [13].
Eine weitere Effektivitätssteigerung lässt sich mit einem Übereinanderziehen von zwei
progressiven Kompressionsstrümpfen erreichen. Angewendet wurden zwei Strümpfe, die
zusammen einen Ruhedruck von 33 mmHg in der Knöchelregion und 48 mmHg in der Wadenregion
ergaben. Die Ejektionsfraktion war bei den experimentell beobachteten 20 CVI-Patienten
im Stadium C2 – C5 damit im Mittel im Normalbereich [16]. Denkbar wäre eine dynamische Anwendung der beiden Kompressionsstrümpfe, z. B. zwei
Strümpfe übereinander in den aktiven Phasen, einen Strumpf ausziehen in den Ruhephasen,
wenn der hohe Druck ggf. als unangenehm empfunden wird. Daten zur mittel- und langfristigen
Wirksamkeit dieser neuen Kompressionsmittel gibt es bisher nicht.
Bisher gibt es noch keinen kommerziell erhältlichen medizinischen Kompressionsstrumpf,
der einen entsprechend progressiven Anpressdruck liefert. Es bleibt aber abzuwarten,
wie die Hersteller auf diese eindrucksvollen Ergebnisse reagieren.
Kompressionstherapie zur Verhinderung des postthrombotischen Syndroms?
Kompressionstherapie zur Verhinderung des postthrombotischen Syndroms?
Seit Jahren sind wir davon ausgegangen, dass eine konsequente Kompressionstherapie
in der Therapie der tiefen Beinvenenthrombose die effektivste Therapie zur Verhinderung
eines postthrombotischen Syndroms (PTS) darstellt [17]. Es zeigten sich Reduktionsraten von ca. 50 % [18]
[19].
Eine aktuelle Studie von Kahn et al. brachte dieses Dogma nun ins Wanken. Nach einer
groß angelegten Untersuchung (n = 410 Patienten, 24 Studienzentren in den USA und
Kanada, placebo-kontrolliert) schlussfolgerten die Autoren aus ihren Ergebnissen,
dass eine Unterschenkelkompressionstherapie nicht in der Lage sei, ein PTS nach erster,
proximaler, tiefer Beinvenenthrombose (V. poplitea oder proximale) zu verhindern [20].
Haben wir uns also all die Jahre geirrt? – Auf den ersten Blick scheint es so. Taucht
man dann aber etwas tiefer in die Methodik und Ergebnisse dieser Studie hinein, so
zeigen sich einige Schwächen, die Zweifel an der Allgemeingültigkeit der gefundenen
Daten aufkommen lassen.
-
Die Patienten erhielten entweder einen knielangen medizinischen Kompressionsstrumpf
(MKS) mit 30 – 40 mmHg Knöchelanpressdruck oder einen gleich aussehenden Placebostrumpf
mit < 5 mmHg Knöchelanpressdruck. Dieser sollte täglich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen
über 2 Jahre nach Erstdiagnose der Thrombose getragen werden. – Tatsächlich erfolgte
die Abgabe des Strumpfes jedoch „innerhalb der ersten 2 Wochen“ nach Diagnosestellung.
Die Patienten erhielten die MKS per Post ohne eine Sitzkontrolle bei Aushändigung.
Bei den Folgevisiten sollte der MKS nicht getragen werden. – Wäre nicht gerade die
erste, akute Phase eine entscheidende Trageperiode? Hierzu gibt es widersprüchliche
Ergebnisse und Bewertungen [21]. Wären aber nicht eine Sitzkontrolle des MKS sowie eine Instruktion der Patienten
zum Beginn der Therapie sinnvoll, um die Compliance zu optimieren?
-
Die Compliance der Probanden nämlich erscheint fraglich bei der Angabe einer Kompressionstherapie
an „mehr als 3 Tagen pro Woche“ durch 86,4 % der Patienten im ersten Jahr, aber nur
noch 55,6 % im zweiten Jahr. Vorgabe war eine tägliche Anwendung über 2 Jahre. – In
früheren Studien lag die Compliance bei etwa 90 % [18]
[19].
-
Erstaunlich erscheint in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass ein großer Teil
der Patienten „unsicher“ war, ob er einen echten MKS oder einen Placebostrumpf trug.
Die applizierten Druckwerte sind sehr deutlich, besonders beim An- und Ausziehen zu
unterscheiden. Haben die Patienten ihre MKS tatsächlich getragen?
-
Die verwendeten primären und sekundären Zielparameter (Ginsberg-Kriterien, Villalta-Score)
zur Bestimmung der Schwere-PTS sind beide leider nicht PTS-spezifisch und basieren
wesentlich auf subjektiven Einschätzungen. Auch Personen mit einer primären CVI können
hier hohe Punktwerte generieren. Objektivierbare Funktionsdiagnostik z. B. mittels
Venenverschlussplethysmografie oder Phlebodynamometrie erfolgte nicht. – Hatten also
tatsächlich alle PTS-Patienten ein PTS?
-
Auffällig erscheint auch die vergleichsweise hohe Rate von Ulzerationen in beiden
Gruppen. Etwa 4 % der Patienten in beiden Gruppen entwickelten innerhalb von 12 – 24
Monaten nach einer ersten tiefen Beinvenenthrombose ein Ulcus cruris. Diese Daten
stehen im Gegensatz zu Ergebnissen europäischer Untersuchungen [22].
Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Ergebnisse der Studie von Kahn et al. nicht
ohne weitere Einschränkungen auf die alltägliche Versorgung von Thrombosepatienten
in Deutschland übertragbar sind. Es gelten entsprechend weiter die auch nach reiflichen
Überlegungen in die ACCP Konsensus-Dokumente aufgenommenen Empfehlungen, eine tiefe
Beinvenenthrombose unmittelbar nach Diagnosestellung mittels suffizienter Kompressionstherapie
(30 – 40 mmHg Verband oder Strumpf) und Antikoagulation zu behandeln [22]
[23]. Für die Kompressionstherapie wird eine Dauer von 2 Jahren empfohlen. Wann immer
möglich, sollten diese Patienten mobil bleiben und zu regelmäßigem Gehen in der Kompression
angehalten werden [22]. Die Bewegung in der Kompression trägt dazu bei, den Venendurchmesser zu reduzieren,
den venösen Abstrom zu erhöhen und die Scherkraft-induzierte Plättchenaktivierung
und Entzündungsaktivität an der Venenwand zu reduzieren [22]
[24].
Letztlich bleibt aber die Notwendigkeit für weitere Studien in diesem Indikationsgebiet
mit der Frage nach einem optimalen Beginn und einer sinnvollen Dauer der Kompressionstherapie
nach tiefer Beinvenenthrombose. Insbesondere gilt es, auch solche Patienten zu identifizieren,
die von einer Kompressionstherapie profitieren [21].