Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Migration ist ein Menschheitsthema. Ebenso wie schon die Ausbreitung des Homo erectus,
eines Vorfahren des Neandertalers, über eine Out-of-Africa-Theorie erklärt wird, wird
dies auch für den modernen Homo sapiens angenommen. Moderne Menschen traten vermutlich
120 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung im Gebiet des heutigen Äthiopiens erstmals
auf. Anschließend finden sich Anzeichen für Wanderungen von kleinen Sippen entlang
der afrikanischen Küste in den Nahen Osten. Von dort gelangten sie entlang der Küsten
nach Südasien und vor etwa 50 000 Jahren bis nach Australien. Die Besiedelung von
Zentral- und Ostasien, Europa und Amerika erfolgte erst später. Genetische Untersuchungen
legen nahe, dass eine relevante Bevölkerungsvermehrung und damit verbundene Migration
aus Afrika erst vor etwa 60 000 Jahren stattgefunden hat, innerhalb Asiens vor 50 000
Jahre und nach Europa vor 30 000 Jahren [1]
[2]
[3]. Dabei ist das Nebeneinander des modernen Homo sapiens mit dem älteren Neandertaler
in Europa wahrscheinlich das einzige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Hominidenformen.
Was die Ursachen für die Migrationswellen gewesen sein mögen? Hier finden sich verschiedene
Theorien. Angenommen wird eine Steigerung der Komplexität der menschlichen Fähigkeiten
auf technologischem, ökologischem, sozialem und kognitivem Gebiet [1]. In Reflexion prähistorischer Funde und historischer Erfahrungen dürften sicher
immer auch Neugier und Not eine Rolle gespielt haben. Nur einer von drei steinzeitlichen
Menschen wurde älter als 40 Jahre, Familienverbünde mit Waisen und Halbwaisen sind
damit als Normalität anzunehmen [4].
Während der Jetzt-Mensch sich in seinen genetischen und phänotypischen Ausprägungen
von den Frühmenschen, den Urmenschen und den Vormenschen deutlich abgrenzt, sind sich
die modernen menschlichen Populationen untereinander sehr ähnlich. 1972 beschrieb
Richard Lewontin anhand der damals verfügbaren genetischen Information, dass über
80% der genetischen Variation innerhalb einer Population zu beobachten ist, unter 10% zwischen Populationen und wiederum nur unter 10% zwischen sogenannten menschlichen Rassen [5]. Sein Gedankenexperiment: Auch bei einem Aussterben der gesamten Menschheit bis
auf den relativ kleinen ostafrikanischen Stamm der Kikuyu bliebe noch immer 85% der
menschlichen genetischen Variation erhalten. Seine Schlussfolgerung: „Human racial classification is of no social value and is positively destructive of
social and human relations“ (dt. “Die Klassifikation nach menschlichen Rassen hat keinen sozialen Wert und ist
definitiv destruktiv hinsichtlich der sozialen menschlichen Beziehungen“, [5, S. 397]).
Einschränkend ist zu sagen, dass kaum ein Forschungsgebiet seither derartige grundlegende
Umwälzungen erlebt und Fortschritte gemacht hat wie die Molekularbiologie.
Welche Bedeutung hat Migration heute, insbesondere mit Bezug zu unserer Gesundheit
und unserem Gesundheitswesen? Das statistische Bundesamt definierte für den Mikrozensus
2005 als Personen mit Migrationshintergrund „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten,
sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche
geborenen mit mindestens einem nach 1949 zugewandertem oder als Ausländer in Deutschland
geborenem Elternanteil“ [6]. Nach dieser Definition weist fast jeder fünfte in Deutschland lebende Mensch einen
Migrationshintergrund auf, bei den unter 5-jährigen hat jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund.
Etwa jeder zehnte Mitbürger zog aus dem Ausland zu. Knapp ein Viertel der Zuwanderung
erfolgte aus der EU, über die Hälfte der Zuwanderung erfolgte aus europäischen Ländern.
Die bedeutsamsten Herkunftsländer sind die Türkei, die Russische Föderation und Polen.
Personen mit Migrationshintergrund sind im Durchschnitt etwa 10 Jahre jünger, häufiger
ledig und weisen einen leicht erhöhten Männeranteil auf. Dabei unterscheidet sich
der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung regional erheblich:
Die alten Bundesländer weisen mehr Mitbürger mit Migrationshintergrund aus als die
neuen Bundesländer, Städte und insbesondere Großstädte haben ebenfalls einen höheren
Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund bzw. Migrationserfahrung. Dies betrifft
ein Drittel der Bevölkerung in München, etwa 30% der Bevölkerung in Hamburg und etwa
ein Viertel der Bevölkerung in Berlin. Die soziodemografischen Analysen ließen sich
noch detailliert fortführen.
Was bedeutet Migration für Gesundheit und das Gesundheitswesen? Ergeben sich daraus
besondere Risiken, vielleicht auch besondere Chancen? Zu den Risiken finden sich erwartungsgemäß
Zusammenhänge mit Altersstruktur und Geschlecht – eine erhöhte Risikobereitschaft
bei jungen Männern hinsichtlich verschiedenster Risikofaktoren, vom Verkehrsverhalten
bis zum Tabak- und Alkoholkonsum, überraschen nicht. Allerdings sind auch hier ethnische
Einflüsse, z. B. auf den Umgang mit Alkohol, zu berücksichtigen. Daten bei einzuschulenden
Kindern deuten darauf hin, dass der Migrationshintergrund mit einer erhöhten Neigung
zu Übergewicht und einem verzögerten Spracherwerb verknüpft ist. Hier wäre eine genauere
Kenntnis der vermittelnden Faktoren von großem Interesse. Sind es die Auswirkungen
von Familienstrukturen und Gebräuchen, von sozialen Nachteilen, vielleicht von den
Wohnverhältnissen und der „gebauten Umwelt“ (built environment)? Direkte genetische
Einflüsse dürfen als unwesentlich eingestuft werden.
Bezogen auf die Einrichtungen im Gesundheitswesen sind bei Personen mit Migrationserfahrung
Unterschiede im Nutzungsverhalten bekannt. Bei diesen Gruppen spielt insbesondere
die medizinische Versorgung über die Krankenhausambulanzen eine große Rolle. Ansätzen
zur Stärkung der Health Literacy, also der Kompetenz in gesundheitlichen Dingen einschließlich
der Nutzung des Gesundheitswesens und zielgruppenspezifischen Programmen wie z. B.
MiMi („mit Migranten für Migranten“), kommt große Bedeutung bei. Gleichzeitig finden
sich auch besondere Chancen abhängig vom Migrationshintergrund. So konnte die Roseto-Studie
in den USA zeigen, dass Zuwanderer aus Italien ein deutlich verbessertes Gesundheitsverhalten
und damit eine verbesserte Lebenserwartung aufwiesen als die amerikanische Durchschnittsbevölkerung.
Dieser Gesundheitsvorsprung verlor sich erst im Verlauf nachfolgender Generationen
[7]. In Deutschland war ein interessanter Befund der Mikrozensusklassifikation, dass
Menschen mit einem so definierten Migrationshintergrund im Schnitt sogar gebildeter
und gesünder sind als der Bevölkerungsdurchschnitt.
Zudem gibt es auch eine Migration von Gesundheitspersonal, nach Deutschland und aus
Deutschland heraus. So ist die Einwanderung von Pflegefachkräften nach Deutschland
eine wesentliche Unterstützung des deutschen Gesundheitswesens, während gleichzeitig
Probleme durch die korrespondierende Abwanderung in den Herkunftsländern zu beobachten
sind. Gleiches gilt für die Zuwanderung von Ärztinnen und Ärzten nach Deutschland,
oftmals aus osteuropäischen Ländern, die die Abwanderung von deutschen Ärztinnen und
Ärzten um ein Vielfaches übersteigt. Ärztinnen und Ärzte aus Deutschland haben als
Zielländer insbesondere die Schweiz, Österreich und die USA [8]. Von der Weltgesundheitsorganisation wurde diesbezüglich ein internationaler Verhaltenskodex
formuliert [9].
Weitere Aspekte? Auch die Patienten werden mobil. Bei dieser Patientenmigration wird
von Experten zwischen Medizintourismus mit dem Ziel einer hochwertigen Versorgung
im engeren Sinn sowie einem Gesundheits- bzw. Wellnesstourismus mit Schwerpunkt im
Bereich von Kurorten, Heilbädern und Wellnessanbietern unterschieden [10]. Die Bezeichnung Tourismus sei dabei als Fachterminus verstanden, der sich auf eine
Reise mit mindestens einer Übernachtung bezieht. Im Bereich der Medizinreisen ist
ein Wachstumstrend zu beobachten: Für Reisen innerhalb eines Landes ebenso wie für
den länderübergreifenden „Inbound-“ und „Outbound-“ Tourismus. Auch in Deutschland
lassen sich gegenwärtig jährlich etwa 100 000 ausländische Patienten in Krankenhäusern
und Kliniken stationär behandeln, hinzu kommen die Patienten im ambulanten Bereich.
Weltweit zählen vor allem asiatische Länder zu den beliebtesten Reisezielen des Medizintourismus.
Die großen Medizindestinationen Thailand, Singapur und Indien geben jeweils über 500 000
einreisende Medizintouristen an.
Und noch ein weiterer Aspekt ist die Migration von Gesundheitsrisiken und Gesundheitschancen.
Diese reichen von den klassischen epidemischen Infektionskrankheiten zu den Epidemien
nicht-übertragbarer Krankheiten, von synthetischen Drogen und „Social Beer Games“
zum Ernährungsverhalten wie dem Verzehr von rohem Fisch und der Portionsgröße auf
den Tellern und, als Positivbeispiel, bis zu Jogging und Tai Chi. Migration ist in
seinen vielfältigen Facetten ein weites Feld, dass immer auch eine sorgfältige Differenzierung
in der Deskription, in den Ursachenanalysen und ggf. den daraus entwickelten Handlungsoptionen
erfordert. Diese Vielfalt lässt sich hier nur in ausgewählten Aspekten ansprechen.
Chancen und Herausforderungen für Gesundheit und im Gesundheitswesen – teilweise mit
direktem Migrationsbezug – bestimmen auch die Themen dieser Ausgabe: Die Abbildung
des Ressourcenverbrauchs im Krankenhaus über DRGs, Fehler im hausärztlichen Bereich
und die Gleichwertigkeitsprüfung für ausländische Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg,
Patientenzufriedenheit in der onkologischen Nachsorge, Ökonomisierung und Work-Life-Balance
als Perspektiven der Abwanderung von deutschem Gesundheitspersonal, Erfahrungen der
ÖGD-Schutzambulanz für Gewaltopfer in Fulda, medikamentöse Prävention mit Vitamin
D, die Bedeutung des Migrationshintergrunds für die Tabakrauchbelastung von Kindern,
das sexuelle Risikoverhalten von Auszubildenden in der Pflege sowie ein Blick in unser
europäisches Nachbarland Österreich mit einer Gesundheitsbefragung der dortigen bäuerlichen
Bevölkerung.
Um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen: Nicht nur im Hinblick auf unsere Väter
und Mütter bzw. Ururgroßväter und Ururgroßmütter kann gesagt werden, dass das Unterwegssein
und damit ein Migrationshintergrund eine menschliche Bedingtheit zu sein scheint.
In zur Migration abgeschwächter Form nimmt heute die Mobilität allgemein zu: In unseren
Erwerbsbiografien genauso wie in unserem beruflichen und privaten Reiseverhalten.
Vielleicht wird auch einmal die Besiedlung der neuen Welten des Cyberspace kulturgeschichtlich
als ein Stück Migrationsgeschichte der Menschheit verortet werden. Eines sollte uns
modernen Menschen heute genau so präsent sein wie den frühen Menschen: Unser Angewiesen-Sein
auf die tragenden Strukturen und Prozesse unseres Planeten. Katastrophen mit dem Kollaps
ganzer Zivilisationen sind reale Möglichkeiten, wie Jared Diamond beschreibt [11]. Zu Recht wird unser Planet auch als durchaus verwundbares „Raumschiff Erde“ bezeichnet.
Dieses Raumschiff trägt uns nicht nur durch das All, sondern auch durch die Zeit.
Hoffen wir auf ein weiterhin gutes, gemeinsames Unterwegssein unserer planetaren Schicksalsgemeinschaft.