Ergotherapeut Andreas Pfeiffer ist überzeugt: „Leitlinien können die Präsenz der Ergotherapie
in unserer Gesellschaft erhöhen.“ Seit mehreren Jahren vertritt er den Deutschen Verband
der Ergotherapeuten (DVE) in wissenschaftlichen Leitlinien. In Themen rund um die
Psychiatrie bringt er sein Expertenwissen ein, das er als stellvertretender Leiter
der Ergotherapie am LVR-Klinikum Düsseldorf, Kliniken der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf entwickeln konnte. Zuletzt hat er an den Leitlinien „psychosoziale Therapien
bei schweren psychischen Erkrankungen“ und „Zwangsstörungen“ mitgearbeitet. In beiden
wird der Einsatz von Ergotherapie empfohlen. Damit aber nicht genug: Die Leitlinien
beschreiben auch das ergotherapeutische Vorgehen und stellen die vorhandene Evidenz
vor [1, 2].
Vielseitig nutzbar
Solche detaillierten Darstellungen zeigen, welchen Beitrag die Ergotherapie in der
Gesundheitsversorgung leisten kann. Und will. Denn Leitlinien bieten auch eine Plattform,
um das professionelle Selbstverständnis zu beschreiben. Das setzt natürlich voraus,
dass Ergotherapeuten wie Andreas Pfeiffer an ihrer Entwicklung mitwirken. Ihn motiviert,
dass sich Leitlinien an einen großen Adressatenkreis richten: „Sie ermöglichen allen
– vom Patienten bis zum Kostenträger – einen kostenlosen Zugang zu aktuellem Wissen.“
Ärzte und Therapeuten können sie als Orientierungshilfe für ihre klinischen Entscheidungen
nutzen [4]. Bereiten Leitlinien den aktuellen Forschungsstand systematisch auf, erleichtern
sie zudem evidenzbasiertes Arbeiten [3, 5]. Außerdem dienen sie als Grundlage, um
die Qualität in einer Einrichtung zu sichern oder Ressourcen zu verteilen [5].
Abb: A. Pfeiffer
Leitlinien können die Präsenz der Ergotherapie in unserer Gesellschaft erhöhen.
Andreas Pfeiffer
In Deutschland hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF) eine Vorreiterrolle, wenn es um die Entwicklung von Leitlinien geht. Seit 1995
koordiniert sie die Leitlinienarbeit der Medizinischen Fachgesellschaften und veröffentlicht
die Ergebnisse in elektronischer Form [6]. Sucht man nach Informationen für das eigene
Clinical Reasoning, lohnt sich ein Blick auf
www.awmf.org/leitlinien/leitlinien-suche.html
. Dort findet man nicht nur psychiatrische Leitlinien mit ergotherapeutischen Inhalten,
sondern auch orthopädische, pädiatrische und neurologische.
Am besten mit System!
Doch Leitlinie ist nicht gleich Leitlinie. Unterschiede bestehen in der Zielgruppe
und der wissenschaftlichen Qualität. Neben den Leitlinien für medizinisches Fachpersonal
gibt es Patientenleitlinien, die kein medizinisches Fachwissen erfordern und eine
einfache Sprache nutzen [3]. Außerdem können Leitlinien unterschiedliche Entwicklungsstufen
besitzen. Sogenannte S1-Leitlinien basieren auf einem informellen Expertenkonsens.
S2-Leitlinien beruhen hingegen auf einer formalen Konsensfindung (S2k) oder werten
die vorhandene Evidenz aus (S2e). Und S3-Leitlinien verfügen über alle Elemente einer
systematischen Entwicklung („Methodischer Hintergrund von Leitlinien“) [3–5].
Das heißt, nur bei S3-Leitlinien recherchieren die Forscher systematisch nach Evidenz,
klassifizieren diese und diskutieren die Darstellungen und Empfehlungen in einem Konsensverfahren
[3, 7]. Und hier kommt Andreas Pfeiffer wieder ins Spiel: „Bei den meisten psychiatrischen
Leitlinien habe ich den DVE im Konsensprozess vertreten. Ich las über einen längeren
Zeitraum die von der Steuerungsgruppe verfassten Texte und brachte Änderungs- und
Ergänzungsvorschläge ein. Bei evidenzbasierten Leitlinien benötigte ich außerdem Studien,
um Aussagen zu untermauern. Unterstützt hat mich dabei das Referat ‚Standards und
Qualität‘ und die Fachausschüsse des Verbandes.“ Leitlinienarbeit ist Teamarbeit!
In den Konferenzen stimmen die Vertreter der beteiligten Fach-, Patienten- und Angehörigenverbände
sowie die Kostenträger mit je einer Stimme in einem vorgeschriebenen Verfahren über
die Texte und Empfehlungen ab.
S3-Leitlinien als Goldstandard
S3-Leitlinien als Goldstandard
Hat man als Therapeut die Wahl, sollte man sich an S3-Leitlinien orientieren. Sie
haben die stärkste Aussagekraft [5, 7]. Die systematische Literaturrecherche und -analyse
erhöht die Chance, dass die Empfehlungen tatsächlich auf der bestverfügbaren Evidenz
basieren [8]. Finden Therapeuten zu einer Fragestellung mehrere S3-Leitlinien, sollten
sie sich einen Eindruck von ihrer methodischen Qualität verschaffen [5]. Denn: Unterschiedliche
Leitlinien können zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Zu diesem Zweck hat die
AWMF gemeinsam mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) das deutsche
Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI) entwickelt [7, 9]. Das Instrument steht unter
www.leitlinien.de
zum kostenlosen Download zur Verfügung.
Abb: R. Kneschke/fotolia.de
Methodischer Hintergrund von Leitlinien: die S-Klassifikation [7]
S3
|
evidenz- und konsensbasierte Leitlinie
|
> repräsentatives Gremium > systematische Recherche > Auswahl > Bewertung der Literatur > strukturierte Konsensfindung
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S2e
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evidenzbasierte Leitlinie
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> systematische Recherche > Auswahl > Bewertung der Literatur
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S2k
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konsensbasierte Leitlinie
|
> repräsentatives Gremium > strukturierte Konsensfindung
|
S1
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Handlungsempfehlungen von Expertengruppen
|
> Konsensfindung in einem informellen Verfahren
|
Auch die Leitlinie „psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“
besitzt die Entwicklungsstufe S3. Sie spricht sich mit dem Empfehlungsgrad B für den
Einsatz von Ergotherapie aus. Demnach sollten Betroffene im Rahmen des Gesamtbehandlungsplans
ergotherapeutische Interventionen erhalten, die sich an ihren individuellen Bedürfnissen
und Vorlieben orientieren. Neben einer solchen „Sollte-Empfehlung“ gibt die Leitlinie
auch Soll- (A) und Kann-Empfehlungen (C), die vom jeweiligen Evidenzlevel abhängen
[1].
Empfehlenswert!
Um sich angemessen in Leitlinien zu positionieren, benötigt die Ergotherapie also
Studien mit hoher Beweiskraft – in einigen Bereichen leider immer noch Mangelware.
Trotzdem und gerade deshalb ist es wichtig, das Potenzial der Ergotherapie herauszustellen.
Die S3-Leitlinie „Zwangsstörungen“ konnte beispielsweise nur auf zwei Fallstudien
zurückgreifen, um die Wirksamkeit von Ergotherapie zu beleuchten [2]. Zu wenig, um
eine „Kann“-Empfehlung auszusprechen.
Glücklicherweise durfte Andreas Pfeiffer den DVE hier in der Steuerungsgruppe vertreten.
Mit Unterstützung des Verbandes hat er beschrieben, welchen Beitrag die Ergotherapie
für die Lebensqualität und Teilhabe der Klienten leisten kann. Eine Darstellung, die
offensichtlich bei den Experten ankam. Denn sie stimmten im Konsensverfahren für folgende
Empfehlung: „Ergotherapie kann durch konkretes Einüben von Alltagstätigkeiten und
Übungen im häuslichen Umfeld eine sinnvolle Ergänzung von leitliniengerechter Psychotherapie
sein.“ Da diese Empfehlung auf einem Expertenkonsens und nicht auf klinischen Studien
basiert, besitzt sie den Empfehlungsgrad „Klinischer Konsensus Punkt“ (KKP) [2].
Eine Orientierung, kein Patentrezept
Eine Orientierung, kein Patentrezept
Leitlinien erfüllen für die Ergotherapie also gleich mehrere Funktionen. Sie bieten
Therapeuten eine Plattform, um Wirkung und Selbstverständnis ihres professionellen
Handelns zu präsentieren. Erzielen sie dabei eine Empfehlung, stärken sie auch die
Position der Ergotherapie in der Gesundheitsversorgung. Leitlinien können Ergotherapeuten
zudem als Orientierung dienen, wenn sie ihr Vorgehen beschreiben und Interventionen
wissenschaftlich untermauern. Obwohl systematisch entwickelte Leitlinien das evidenzbasierte
Arbeiten erleichtern, stellen sie keine Patentrezepte dar. In begründeten Fällen darf
und sollte man sogar von ihnen abweichen [4].
Auch Andreas Pfeiffer profitiert in seiner praktischen Arbeit von dem Wissen, das
in Leitlinien aufbereitet wird: „Leitlinien sind aktueller als Lehrbücher, gut lesbar
zusammengestellt und noch dazu kostenlos. Sie helfen mir beim Clinical Reasoning.
So berate ich meine Klienten nicht nur auf der Grundlage subjektiver Erfahrungen und
Wünsche. Ich kann meine Überlegungen auch auf die ‚harte Evidenz‘ und eine breite
Expertenmeinung stützen.“