Herr Dr. Hess, die Zahl der Organspender ist im vergangenen Jahr dramatisch eingebrochen.
Mit 876 Spendern ist ein Tiefpunkt seit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes
im Jahre 1997 erreicht. Muss man den sogenannten Organspendenskandal dafür verantwortlich
machen?
Dr. Rainer Hess: Der Einbruch der Organspenden nach Bekanntwerden der Wartelistenmanipulation
an 4 Kliniken zeigt, dass dieser fälschlicherweise als Spenderskandal bezeichnete
Vorgang die Hauptursache für diesen dramatischen Rückgang ist.
Sind die Transplantationszentren in München, Leipzig und vor allem Göttingen, in denen
Ärzte Patientendaten manipulierten, um für „ihre“ Patienten schneller an ein Spenderorgan
zu kommen, nur die Spitze des Eisberges oder muss man davon ausgehen, dass bundesweit
in den Transplantationszentren gemauschelt wird?
Dr. Hess: Nein, von den Lebertransplantationszentren sind nur 4 Zentren massiv aufgefallen.
Zwar gab es auch an anderen Kliniken kleinere Auffälligkeiten. Aber da handelt es
sich nicht um bewusste Manipulationen, sondern allenfalls um Fehleinschätzungen der
Kriterien.
Wie konnte es zu solchen Manipulationen überhaupt kommen?
Dr. Hess: Spenderorgane werden nach einer Warteliste zugeteilt, die man in den betroffenen
Transplantationszentren mit falschen Daten potentieller Organempfänger manipuliert
hat. So haben Patienten Organe bekommen, die eigentlich nach der Warteliste noch kein
Organ hätten bekommen dürfen.
Wie man an dem Göttinger Transplantationsmediziner Aiman O., der jetzt vor Gericht
steht, sieht, scheint das lange gut gegangen zu sein. Wie ist man dann doch dahinter
gekommen?
Dr. Hess: Durch eine Überwachungskommission, welche die Transplantationszentren regelmäßig
überprüft und speziell im Göttinger Fall über einen anonymen Anrufer. Als erstes wurden
dann alle Lebertransplantationszentren überprüft und dort ist man auf weitere Manipulationen
gestoßen. Bei der Lebertransplantation spielt die Dialyse für die Kriterien auf der
Warteliste eine wesentliche Rolle. Es wurden die Dialysedaten geprüft und festgestellt,
dass zum Teil gar keine Dialyse durchgeführt wurde, aber Dialysedaten eingetragen
waren; oder Blut mit Urin gemischt wurde, um vorzutäuschen, dass es sich hier um einen
Dialysepatienten handelt.
Was haben angesehene Mediziner für ein Motiv, Patientendaten zu fälschen, um schneller
an Spenderorgane zu kommen?
Dr. Hess: Da kommen viele Faktoren zusammen. Zum einen ist es die persönliche Komponente
Eitelkeit und das Ansehen einer Klinik als Transplantationszentrum. Heute kommt aber
auch eine ökonomische Seite hinzu, denn die Kliniken stehen unter dem Wettbewerbsdruck
des Vergütungssystems nach diagnosebezogenen Fallpauschalen. Darüber hinaus gab es
sicher auch Ärzte, die sich über die Vergabekriterien hinweggesetzt haben, um ihren
Patienten zu helfen.
Wie sieht das konkret aus?
Dr. Hess: Aus meiner Sicht hat das in Deutschland praktizierte DRG-System bei den
Organtransplantationen zu Fehlentwicklungen geführt. Die Fallpauschalen für Transplantationen
sind hoch und die Kliniken sind zu ihrer Finanzierung darauf angewiesen. Aber die
Klinik bekommt ihre Fälle aus einer postmortalen Spende nur über die Warteliste. D. h.
der Wettbewerb findet auf der Warteliste statt und das sehe ich als Problem.
Gab es auch persönliche, pekuniäre Gründe dafür, dass Transplantationsmediziner Patientendaten
manipulieren? Ist Geld geflossen?
Dr. Hess: Es hat Prämienzahlungen als Boni aufgrund von Zielvereinbarungen mit Chirurgen
für die Vermehrung der Fälle gegeben. Hier hat man erkannt, dass man bei Organen,
die nur zu einer begrenzten Zahl zur Verfügung stehen, das nicht machen kann. Da stoßen
wir an ethische Grenzen und darum ist das Bonisystem in der Organtransplantation inzwischen
auch abgeschafft worden.
Nach all diesen Manipulationen muss man sich auch fragen, ob in unserem Land der richtige
Patient immer das richtige Organ bekommt?
Dr. Hess: Darüber kann man streiten; das ist eine Frage der Allokationskriterien.
Ist Dringlichkeit das Kriterium, oder ist es die Erfolgsaussicht? Beides steht in
einem Widerspruch: Erfolgsaussicht bedeutet in der Regel eine Auswahl jüngerer Empfänger,
Dringlichkeit bedeutet die Behandlung meist älterer Schwerstkranker.Bei der Lebertransplantation
erfolgt die Vergabe zurzeit eindeutig zugunsten der Dringlichkeit, d.h. wir haben
immer ältere und kränkere Empfänger und das wirkt sich auf die Qualität und Überlebenschance
aus. Deswegen sind wir im internationalen Vergleich in der Ergebnisqualität auch schlechter
als der europäische Durchschnitt.
Die Vorfälle haben gezeigt, dass es so nicht weitergehen darf. Was ist bislang geschehen,
um solche Unregelmäßigkeiten und Fehlsteuerungen zu vermeiden?
Dr. Hess: Einiges! Zunächst hat es eine Intensivierung der Kontrollen gegeben. Die
Kompetenz der Kontrollkommission wurde im Gesetz verankert; die Kliniken sind gesetzlich
verpflichtet, diese Kontrollen über sich ergehen zu lassen und es wurde eine Vertrauensstelle
eingerichtet, an die man sich wenden kann.Dann ist das Sechs-Augen-Prinzip eingeführt
worden: Ob jemand auf die Warteliste kommt, ist nicht mehr die Entscheidung eines
Einzelnen, sondern die gemeinsame Entscheidung von 3 Ärzten.Neu ist auch, dass manipulierte
Eintragungen ein eigener Straftatbestand sind. Wer vorsätzlich eine solche Manipulation
auf der Warteliste vornimmt, hat eine Strafe bis zu 2 Jahren zu erwarten.
Wenn die Zahl der Organspender so nachhaltig zurückgeht, muss man da nicht das System
hinterfragen?
Dr. Hess: Das System ist so komplex, weil es sich aus mehreren Komponenten zusammensetzen
muss! Eine wesentliche Vereinfachung ist für das deutsche System, wie wir es jetzt
haben, nur schwer zu erreichen. Auf der einen Seite ist die Organtransplantation als
Krankenhausbehandlung zu sehen und damit sind die Deutsche Krankenhausgesellschaft
(DKG) und der GKV-Spitzenverband die zentralen Vertragspartner, die über die DRGs
die ökonomische Seite regeln. Die Bundesärztekammer (BÄK) ist als Richtliniengeber
bei der Organtransplantation und Krankenhausbehandlung die Institution, die den Stand
der medizinischen Kunst definiert. Das sind schon mal 3 Player, auf die man nicht
verzichten kann.
Und die reichen nicht?
Dr. Hess: Organspende und Transplantation sind nach deutschem Gesetz streng voneinander
getrennt. Darum muss aus Gerechtigkeitsgründen eine Allokationsentscheidung zwischengeschaltet
werden. Die wird anhand der Spenderorgan- und Empfängerdaten von Eurotransplant in
Holland anonym getroffen.Die Organentnahme selbst ist ein eigener Prozess. Deswegen
bedarf es für die medizintechnische und organisatorische Seite einer weiteren Institution,
die sich um den gesamten Organspendenprozess kümmert. Das ist die Deutsche Stiftung
Organtransplantation (DSO), die diesen Prozess von der Organentnahme bis zur Übergabe
des Organs an das Transplantationszentrum begleitet.
Jedes Organ, das in Deutschland implantiert wird, kommt über die DSO und die Vermittlung
von Eurotransplant. Ist der Transplantationsskandal der Grund dafür, dass man Sie
als Juristen in den Vorstand der DSO geholt hat?
Dr. Hess: Ich bin nicht aufgrund von Skandalen an diese Funktion gekommen! Die DSO
hat mit den Skandalen nichts zu tun, die Manipulationen fanden in den Transplantationszentren
statt. Meine Aufgabe war, die Strukturen der DSO zu überprüfen und neu anzupassen.
Warum?
Dr. Hess: Die DSO ist eine private Stiftung, gegründet vom Kuratorium für Heimdialyse.
Seit 1996 hat sie den gesetzlichen Auftrag, als Koordinierungsstelle den gesamten
Spendenvorgang für alle Organe, von der Entnahme bis Übergabe eines solchen Organs,
verantwortlich zu betreuen. Für diese hohe öffentlich-rechtliche Aufgabe wurden Strukturveränderungen
notwendig. Wir haben jetzt einen Stiftungsrat, in dem sind Bund und Länder Mitglieder.
Der Staat ist von der Stufe der Aufsicht in die direkte Mitgliedschaft in den Stiftungsrat
der DSO gerutscht. Das ist ein Signal dafür, dass sich die Politik der Organspende
mehr annimmt und Entscheidungen verantwortlich mitträgt.
Die jetzt von der DSO veröffentlichten Zahlen der Organspender im letzten Jahr sind
erschreckend niedrig. Was muss noch geschehen, dass die Deutschen einer postmortalen
Organspende zustimmen?
Dr. Hess: Zur Rückgewinnung von Vertrauen bedarf es einer besseren Transparenz der
Qualität der Organspende und der Transplantationsergebnisse. Die Vermittlungsdaten
bei Eurotransplant, die Spenderdaten bei der DSO und Daten des AQUA-Instituts zur
Ergebnisqualität müssen in einem Transplantationsregister zusammengeführt werden.
Dann wissen wir, welches Organ, mit welcher Qualität, welchen Einfluss auf den Empfänger
und seine Krankheit und den Erfolg der Behandlung hat.Damit können auf wissenschaftlicher
Grundlage die Kriterien für die Organzuteilung überprüft und angepasst werden. Die
Überwachungskommission kann ihre Prüffähigkeit anhand von Auffälligkeiten, die sich
aus dem Register ergeben, flexibler gestalten. Und als letztes schafft das Register
ein Benchmark-System für eine vergleichende Beurteilung von Kriterien.
Was ist Ihr persönlicher Wunsch zu diesem Thema?
Dr. Hess: Mehr Transparenz durch das Register und eine sachlichere Diskussion in Deutschland
über den Hirntod.