Eine Durchsage über Funk. Wie angekündigt, landet kurz darauf ein Helikopter auf dem
Landeplatz der Kinderklinik. Die Rettungssanis und eine Notärztin in roten Overalls
bringen einen vierjährigen Jungen auf einer Trage in den ER. Die aufgelöste Mutter
erzählt, ihr Sohn habe am Kabel des Wasserkochers gezogen und sich dabei an Arm, Hals
und Körper verbrüht. Das Rettungsteam hat bereits einige i.v.-Zugänge gelegt und die
Sedierung und Schmerzmedikation begonnen. Nun übernehmen Pfleger die Versorgung: Sie
entfernen die Kleidung und schätzen Ausmaß und Tiefe der Verbrennungen. Die Wunden
decken sie mit „Burnshields“ ab – einzeln verpackte Kompressen, die mit Wasser und
Teebaumöl getränkt sind. Mittlerweile ist der diensthabende Arzt aus der Burns-Unit
dazugestoßen. Während die Geräte zur Überwachung der Vitalfunktionen im Hintergrund
piepsen, übergibt die Notärztin den Fall an ihren Kollegen. Eine Krankenschwester
kümmert sich um die Mutter. Sobald der Junge stabilisiert und der Unfallhergang klar
ist, wird der Flüssigkeitsverlust und -bedarf mit der Parkland-Formel[*] berechnet und die Leitung der Burns-Unit über den neuen Patienten informiert.
Als PJler im Red Cross
Angesichts dieser sauber getakteten Rettungskette mag sich mancher verwundert die
Augen reiben. Befinden wir uns hier nicht doch in einer europäischen oder amerikanischen
Klinik? Antwort: Nein, wir sind tatsächlich in Afrika. Genauer: im Red Cross War Memorial
Children’s Hospital in Kapstadt, dem einzigen reinen Kinderkrankenhaus der Maximalversorgung
südlich der Sahara. Hier – vor allem in der Kinderorthopädie und der Trauma-Abteilung
– habe ich mein Chirurgie-Tertial verbracht. Die Qualität der Medizin im Red Cross
ist vergleichbar mit einer deutschen Klinik. Auch die Palette der Krankheitsbilder
ist ähnlich. Und doch gibt es eklatante Unterschiede: Besonders in der Trauma-Abteilung
habe ich vieles sehen können (oder müssen), was es bei uns in diesem Ausmaß nicht
gibt. So sind Verbrennungen hier an der Tagesordnung und stehen an dritter Stelle
der kindlichen Todesfälle. Besonders im Winter verbrühen sich die Kinder häufig, denn
in den riesigen Slums wird oft über offenem Feuer gekocht. Zudem verbreiten sich Brände
durch die enge Bauweise rasant. Hinzu kommen die wirklich extrem häufigen und schweren
Verkehrsunfälle und Übergriffe auf Kinder: Alleine in unserer Abteilung werden um
die 100 neue Fälle sexuellen Missbrauchs pro Jahr registriert. Besonders hier, wo
die HIV-Epidemie so heftig grassiert, ist dies nur schwer zu verdauen.
Ganz anders war das Bild in der Kinderorthopädie: Als eine spezielle Fachrichtung
wurden uns Patienten aus ganz Südafrika überwiesen. Neben typischen Krankheitsbildern,
wie etwa Hüftgelenksdysplasien, M. Perthes und ungewöhnlichen „Kolibris“ wie der Aplasie
von langen Röhrenknochen bei Neurofibromatose, hatten wir regelmäßig Patienten mit
Epiphysiolysis capitis femoris und Morbus Blount, der in der schwarzen Bevölkerung
gar nicht so selten ist. Auch Tuberkulose- Patienten waren häufig. Da bei TBC aufgrund
der langen Behandlung mit Tuberkulostatika eine hohe Compliance erforderlich ist,
lagen diese Kinder oft Monate bei uns.
Oben: Ein Blick in die orthopädische Sprechstunde des „Red Cross“. Typisches Bild hier:
Hellhäutige Ärzte behandeln vornehmlich dunkelhäutige Patienten. Der Grund: Zu wenig
Schwarze studieren Medizin.
Unten: Südafrika mag viele Probleme haben, sein Reichtum an natürlicher Schönheit jedoch
ist atemberaubend. Allein von diesem langhalsigen Tier leben in den Nationalparks
des Landes ungefähr 12.000 Exemplare.
Post-Visite mit Chef und Kaffee
Post-Visite mit Chef und Kaffee
Wie in den meisten größeren Krankenhäusern Südafrikas finden sich auch im Red Cross
viele internationale Studenten – auch deutsche PJer. Trotzdem war die Stimmung gegenüber
den jungen Medizinern stets wertschätzend und entspannt. Abhängig vom jeweiligen Arzt
konnte ich sowohl im ER mithelfen (z. B. beim Gipsen und Nähen) als auch im OP in
der Orthopädie – meistens als zweite Assistenz, manchmal aber auch als erste. Besonders
bei den Orthopäden herrscht ein sehr lockerer und netter Umgang. Nach der Visite lud
uns unser Chef Dr. Dixpeek täglich zum Kaffeetrinken in der Cafeteria ein. Einer der
Assistenzärzte war gerade dabei, sein eigenes Bier zu entwickeln – und war sehr an
meiner „fachfrauischen“ Meinung als Deutsche interessiert. Es wurde aber auch viel
Wert darauf gelegt, dass die Studenten was lernen. Wer Interesse zeigte, dem wurde
viel erklärt. Aufgrund der Bestimmungen unseres Landesprüfungsamtes war ich als offizielle
Studentin der Uni Kapstadt eingeschrieben. So konnte ich an Lehrveranstaltungen teilnehmen
– z. B. an der zweiwöchigen Studentenrotation durch die chirurgischen Abteilungen.
Dafür musste ich natürlich Studiengebühren zahlen: Anstatt im Monat 400 Euro für das
PJ zu bekommen, musste ich den gleichen Betrag investieren.
Das Krankenhaus als Spiegel der Gesellschaft
Das Krankenhaus als Spiegel der Gesellschaft
Angesichts der Professionalität, mit der die Abläufe im Red Cross gemanagt werden,
vergisst man leicht, in welchen Schwierigkeiten das Land steckt. Kapstadt ist ein
Ort, an dem die Gegensätze, die Südafrika prägen, besonders heftig aufeinanderprallen:
Auf der einen Seite gehört die Stadt zu den Modemetropolen mit riesigen Shoppingzentren,
Edelboutiquen und Fotoshootings mit Topmodels, auf der anderen Seite gibt es riesige
Elendsviertel. Die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen treten hier immer wieder
zutage. Wie wenig die Südafrikaner über 20 Jahre nach Ende der Apartheid zu einer
Einheit verschmolzen sind, merkt man schon daran, dass man nach wie vor oft an der
Hautfarbe ablesen kann, aus welchem Viertel jemand kommt oder zu welcher Einkommensschicht
er gehört.
> Theoretisch hat in Südafrika jeder Zugang zu allen Gesundheitsleistungen. Faktisch
sind viele jedoch ausgeschlossen. <
Auch unsere Klinik ist diesbezüglich keine heile Welt. Wenn man Ärzte und Patienten
vergleicht, sieht man die Spaltung der Gesellschaft recht deutlich: Die Mediziner
sind weiß oder kommen aus Indien. Die Patienten sind farbig oder schwarz. Obwohl sie
die Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung stellen, sind mir verhältnismäßig wenige
dunkelhäutige Ärzte begegnet. Bei den Studenten ist die Verteilung ausgeglichener
– auch weil es mittlerweile Quoten und Programme gibt, um eine gerechtere Vergabe
zu gewährleisten.
Der Staat gibt sich durchaus Mühe, das soziale Gefälle auszugleichen. Da die Zuzahlungen
zu den staatlichen Gesundheitsdiensten abhängig vom Einkommen gestaffelt sind, hat
in Südafrika theoretisch jeder Zugang zur Gesundheitsversorgung. Arbeitslose und Geringverdiener
zahlen überhaupt nichts. Es gibt zwar einen großen privaten Sektor, der vor allem
die Bedürfnisse der Besserverdiener abdeckt. Für die ganz speziellen Fragestellungen
gehen aber auch diese in universitäre Einrichtungen, die allen offen stehen. Die medizinische
Versorgung in den großen Zentren ist hervorragend. Besonders positiv ist die Situation
im Red Cross, denn der „Children’s Hospital Trust“ (eine klinikeigene Stiftung) und
viele Einzelpersonen bemühen sich sehr erfolgreich um Spenden und Unterstützung –
die Spendertafeln überall zeugen hiervon. So hat es während meines Aufenthaltes nie
an etwas gefehlt, sei es apparative Diagnostik, Medikamente oder Personal. Zudem zählt
das Haus zu den renommiertesten afrikanischen Referenzzentren in ziemlich allen pädiatrischen
Belangen, und es befinden sich regelmäßig Patienten aus dem Ausland hier in Behandlung,
teils selbst finanziert, teils durch Spenden ermöglicht.
Links: Die „girls ward“ im Maitland Cottage Home. Hier liegen die orthopädischen Patienten
des Red Cross.
(Foto: Laura Olbrich)
Rechts: Bei schweren bzw. großflächigen Verbrennungen hat die Prävention von Infektionen
höchste Priorität. Deswegen werden die Kinder unter Sedierung regelmäßig gewaschen
– oder sie waschen sich selbst.
(Fotos: Red Cross Kapstadt)
Der Mangel abseits der Zentren
Der Mangel abseits der Zentren
Faktisch sind viele Menschen von dieser hohen medizinischen Qualität in den gut ausgestatteten
Zentren aber leider nahezu ausgeschlossen. Sie leben einfach zu weit weg, und die
Transportkosten sind so hoch, dass sie gar nicht erst zu diesen Kliniken kommen. In
den ländlichen Gebieten sind die ersten Anlaufstellen bei einer Erkrankung die Gesundheitsposten.
Diese sind oft nur mit Krankenpflegern besetzt, da, ähnlich wie bei uns auch, in Südafrika
immer weniger Mediziner auf dem platten, leeren Land wohnen wollen. Vom Gesundheitsposten
werden die Patienten gegebenenfalls an die nächsthöhere Versorgungsstufe in einer
kleineren Klinik überwiesen, wo sie dann erstmals von einem Arzt gesehen werden. Dann
erst geht es weiter in die nächste größere Stadt oder in ein größeres Zentrum, sodass
eine „Patientenkarriere“ schon mal sehr lange sein kann. In den Townships sind die
Gesundheitsposten und Kliniken oft völlig überlaufen. Es fehlt an Personal, Platz
und Materialien. Oft müssen selbst Notfälle Stunden warten – obgleich Ärzte und Pflegekräfte
ihr Bestes geben. Weitere Probleme ergeben sich daraus, dass viele Patienten erst
Hilfe aufsuchen, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist, sei es aufgrund
von finanziellen Engpässen, fehlendem Gesundheitsbewusstsein oder einfach Angst vor
einer „brandmarkenden“ Diagnose wie HIV. Diese Krankheit ist nach wie vor ein Stigma.
Das gilt auch für die Tuberkulose, weil sie häufig in Verbindung mit HIV auftritt.
Der Weg zur Freiheit
Die weißen Südafrikaner stellen nur ca. 8% der Bevölkerung. Trotzdem gaben sie in den letzten 350 Jahren den Ton an. Um sich ihre Vorrechte und ihren Wohlstand gegenüber der nichtweißen
Mehrheit abzusichern, praktizierten sie über Jahrzehnte eine Politik der „Apartheid“ (afrikaans: „Getrenntheit“). Es gab getrennte Schulen für Weiße, Schwarze und „Coloureds“.
Gemischte Ehen waren verboten. Sogar die Eingänge zu den öffentlichen Toiletten waren getrennt. Dieses seltsame System führte zu blutigen Ausschreitungen und internationaler
Ächtung Südafrikas. Erst Ende der 80er Jahre entsorgten die Südafrikaner – eher widerwillig
moderiert vom damaligen Präsidenten Willem de Klerk – die Apartheid auf die Müllhalde der Geschichte. Der Freiheitskämpfer Nelson Mandela wurde 1990 aus dem Gefängnis entlassen und gewann1994 mit dem „African National Congress“ die ersten freien Wahlen. Seither stellt der ANC die Regierung, er konnte aber viele
Erwartungen nicht erfüllen. Die Korruption grassiert. Armut, Gewalt und schlechte
Sicherheitslage prägen den Alltag vieler Menschen.
Kapstadt
Im oft euphemistisch als „Regenbogennation“ titulierten Südafrika leben viele Ethnien eng beieinander. Besonders bunt ist das
Bild in Kapstadt. Neben den „typischen“ Capetonians (Nachkommen von südostasiatischen und afrikanischen Sklaven) leben hier auch viele
Mulatten, Schwarze und weiße Südafrikaner. Es gibt eine große muslimische Gemeinde, hinzu kommen Einwanderer aus Europa, den USA, Indien und dem übrigen Afrika. Sehenswürdigkeiten sind der Tafelberg – und die Gefängnisinsel Robben Island ca. 10 km vor Kapstadt im Atlantik. Dort verbrachte Nelson Mandela 18 Jahre hinter
Gittern.
Fazit: Positiv mit Frustanteilen
Fazit: Positiv mit Frustanteilen
Diese Probleme sind nicht nur im Gesundheitssektor, sondern so ziemlich in jedem Bereich
des Lebens zu fühlen. Die Sicherheitslage ist prekär. Ich hatte permanent das Gefühl,
auf der Hut sein zu müssen. Auch das Verhältnis zwischen den Rassen habe ich häufig
als bedrückend empfunden. Selbst zwischen Freunden knallt es immer mal wieder – auch
bei nur kleinsten Missverständnissen zum Thema Hautfarbe. Meine nigerianische Mitbewohnerin
hat mir z. B. erzählt, dass sie merkwürdig angesehen wurde, als sie in einem Café
ihren Kaffee in ihrer westafrikanischen Unbefangenheit mit den Worten „I like it black“ bestellte. Und auch ich habe jedes Mal komische Blicke geerntet, wenn ich in meinem
nicht ganz korrekten Denglisch davon schwärmte, wie bunt („coloured“) ich das Krankenhaus finde ...
Selbst zwischen Freunden knallt es immer wieder mal wegen des Themas Hautfarbe.
Wenige Monate nach meiner Rückkehr nach Deutschland starb Nelson Mandela. Es gibt
in Südafrika Pessimisten, die fürchten, ihr Land werde nun – da der große Brückenbauer
fehlt – noch weiter auseinanderdriften. Schaut man sich an, wie gespalten die Nation
jetzt schon ist, könnte man in der Tat nachdenklich werden. Ich sehe es aber eher
wie Mandela selbst, der in seiner Autobiografie schrieb: „Ich bin Optimist. (...)
Zum Optimistischsein gehört, das Gesicht der Sonne zuzuwenden und immer vorwärtszugehen.
Es gab viele dunkle Stunden, in denen mein Glaube an das Gute auf die Probe gestellt
wurde. Aber ich wollte und konnte mich nicht aufgeben. Denn wer diesen Weg geht, hat
schon verloren.“
www.
Du möchtest in Südafrika ein PJ-Tertial oder eine Famulatur absolvieren? Tipps und
Infos findest du in unserem Infopaket Südafrika unter:
bit.ly/infopaket-suedafrika