ergopraxis 2014; 7(03): 18-24
DOI: 10.1055/s-0034-1372204
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

ICF – Ganzheitlich mit Methode

Regina Roth

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. März 2014 (online)

 

Auf den ersten Blick wirkt die ICF mit ihren Codes wie b140 oder s730 unverständlich. Doch der zweite Blick lohnt sich: Denn mit der ICF kann man ausdrücken, was eine Person kann oder wobei sie Probleme hat.


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Regina Roth

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Regina Roth, Coach, Ergotherapeutin BcOT und Master of Medical Education, hält Vorträge und gibt Seminare u.a. zu „Berichte schreiben mit Hilfe der ICF“ bei Fortbildungsinstituten und als Inhouse-Schulungen. Sie betreut außerdem Projekte zur nachhaltigen Einführung der ICF in Rehateams. Ergotherapeutisch arbeitet sie Teilzeit im Hôpital fribourgeois in Tafers (CH). Kontakt: www.regina-roth.com und kontakt@regina-roth.com

Lernziele
  • > Sie sind in der Lage, die Grundbegriffe der ICF zu benennen.

  • > Sie können die einzelnen Komponenten der ICF in Bezug zueinander setzen.

  • > Sie können die Ziele der ICF nennen.

Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) und die Ergotherapie haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Beide beachten das Bedürfnis der Menschen nach „sinnvollem Handeln“. Die Ergotherapie möchte Handlung und Betätigung (wieder) ermöglichen. Die ICF liefert ihr dafür einen international und interprofessionell anerkannten Bezugsrahmen. Für eine ressourcenund handlungsorientierte Denkweise bietet sie eine geeignete Grundlage für die Verständigung und die Erklärung ergotherapeutischer Arbeit gegenüber Kollegen und Nichtergotherapeuten. Die Ergotherapeutin Birte Hucke bezeichnet die ICF in ihren Workshops als einen „Glücksfall für die Ergotherapie“. Das macht den Nutzen deutlich, den diese Klassifikation bietet. Doch was steckt eigentlich dahinter?

ICF und ICD: Zwei unterschiedliche Klassifikationen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), um die verschiedenen Aspekte der Gesundheit zu definieren. Sie ergänzt damit die ICD, das Klassifikationssystem der Medizin, mit dem man Krankheiten einordnet und codiert. Die ICD ermöglicht eine klare Kommunikation zu Erkrankungen innerhalb der Gesundheitsberufe. Steht zum Beispiel auf der Verordnung eines Klienten die Diagnose G35.1–1, dann ist damit „Multiple Sklerose mit vorherrschend schubförmigem Verlauf mit einer akuten Progression“ verschlüsselt. Nur erklärt dieser Diagnoseschlüssel nicht, wie stark welche Symptome bei diesem Klienten ausgeprägt sind und inwieweit sich Probleme auf seinen Alltag auswirken. Das übernimmt die ICF.

Handeln und Betätigen ermöglichen – das möchte die Ergotherapie. Die ICF liefert ihr einen anerkannten Bezugsrahmen dafür.

Grundlage der ICF ist ein biopsychosoziales Modell (Abb. 2). Darin werden Körperfunktionen und -strukturen, Lebensbereiche (Aktivitäten und Teilhabe), Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren in Bezug gesetzt. Die ICF beachtet damit den Lebenshintergrund eines Klienten und die Wechselwirkungen seines Gesundheitsproblems. Sie klassifiziert nicht die Krankheitsfolgen, sondern den Gesundheitszustand und mit der Gesundheit zusammenhängende Zustände.

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Abb. 2 Das biopsychosoziale Modell der ICF mit ihren Komponenten und Wechselwirkungen
(Thieme Verlagsgruppe (Modell der ICF))

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Von Komponenten bis zu Kategorien

Die Klassifikation ist hierarchisch aufgebaut („Die Struktur der ICF mit ihren Definitionen“). Der erste Teil „Funktionsfähigkeit und Behinderung“ beinhaltet die Komponenten „Körperfunktionen und -strukturen“ sowie „Aktivitäten und Teilhabe“. Der zweite Teil „Kontextfaktoren“ beinhaltet die Komponenten „Umweltfaktoren“ und „personbezogene Faktoren“. Bis auf die personbezogenen Faktoren werden die Komponenten in Domänen heruntergebrochen. Zum Beispiel in anatomische Strukturen (Ebene der Körperstrukturen) oder in Handlungen, Aufgaben und Lebensbereiche (Ebene der Aktivitäten und Teilhabe). Jede Domäne enthält verschiedene Kategorien – die kleinsten Einheiten der Klassifikation. So kann man letztendlich die einzelnen Details eines Gesundheitsproblems abbilden, angefangen von Rückenschmerzen oder Denktempo (Funktionsebene) bis hin zum Wäschewaschen ( Ebene der Aktivitäten und Teilhabe).

In der ICF sind alle Begriffe neutral formuliert. Je nach Klient bzw. Fall kann man die „Körperfunktionen und -strukturen“ bzw. „Aktivitäten und Teilhabe“ passend positiv oder negativ interpretieren. Zum Beispiel würde man negativ interpretiert von Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen bzw. von Beeinträchtigungen der Aktivität und Teilhabe sprechen.

ZIELE DER ICF

Allem voran die gemeinsame Sprache

  • > Der Rehabilitationswissenschaftler Dr. Michael Schuntermann sieht das wichtigste Ziel der ICF in der „gemeinsamen Sprache“. Sie verbessert die Kommunikation aller Involvierten eines Falles (Klient, Arzt, Pflege, Therapeutin, ...), zum Beispiel während einer Rehabilitationsbesprechung.

  • > Die ICF liefert eine wissenschaftliche Grundlage für das Verstehen des Gesundheitszustandes und der damit zusammenhängenden Zustände, Ergebnisse und Determinanten.

  • > Mit ihr sind Datenvergleiche zwischen Ländern, Krankenhäusern, Gesundheitsdiensten und Disziplinen im Gesundheitswesen sowie im Zeitverlauf möglich.

  • > Sie verschlüsselt Gesundheitsinformationen systematisch.

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Diagramm: ICF laut DIMDI 2005, Idee von Regina Roth

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ICF am Beispiel Sehnenscheidenentzündung

Ein Beispiel: Ergotherapeutin Luise hat eine akute Sehnenscheidenentzündung in der rechten Hand. Ihre Teilhabe in der Rolle als Ergotherapeutin ist eingeschränkt. Mit der betroffenen Hand kann sie den Telefonhörer nur kurz halten, da sich sonst die Schmerzen verstärken. Ihr Hausarzt hat seine Praxis zwar im selben Ort, aber Luise hat eine Aversion gegen Ärzte und schiebt den Arzttermin immer wieder hinaus. Solche Details kann man mithilfe der ICF und ihrem Codierungssystem aus Buchstaben und Zahlen abbilden. So sind zum Beispiel den Komponenten verschiedene Buchstaben zugeordnet (Tab.). Dann folgt ein Zahlencode, der die weiteren Kategorien abbildet. Wie sähe das im Beispiel von Luise aus?

Tab.

Die ICF nutzt ein System aus Buchstaben und Zahlen, um einzelne Gesundheitsdetails zu codieren.

Komponenten

Codierungsbuchstaben

Beispiele

Körperfunktionen

b (body functions)

• b235 Vestibuläre Funktionen
• b2351 Gleichgewichtssinn

Körperstrukturen

s (body structures)

• s730 Struktur der oberen Extremitäten
• s7301 Struktur des Unterarms
• s73011 Handgelenk

Aktivitäten und Teilhabe

d (daily activities)

• d540 Sich kleiden
• d5400 Kleidung anziehen
• d5401 Kleidung ausziehen

Umweltfaktoren

e (environmental factors)

• e125 Produkte und Technologien zur Kommunikation
• e1250 Allgemeine Produkte und Technologien zur Kommunikation


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Körperfunktionen

Die Körperfunktionen sind unterteilt in:

  • > Mentale Funktionen

  • > Sinnesfunktionen und Schmerz

  • > Stimm- und Sprechfunktionen

  • > Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen, Immunund Atmungssystems

  • > Funktionen des Verdauungs-, des Stoffwechsel- und des endokrinen Systems

  • > Funktionen des Urogenital- und reproduktiven Systems

  • > Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen

  • > Funktionen der Haut und der Hautanhangsgebilde

Körperfunktionen können durch ein Gesundheitsproblem geschädigt sein. Luises Sehnenscheidenentzündung beeinträchtigt vor allem die „Sinnesfunktionen und Schmerz“ und die „neuromuskuloskeletalen und bewegungsbezogenen Funktionen“. So gehört zu den „Sinnesfunktionen und Schmerz“ unter anderem die Codierungsgruppe b280-b289: „Schmerz“. Die kann weiter unterteilt werden – beispielsweise in den „Schmerz in einem Körperteil“ (b2801). Und dazu gehört wiederum der „Schmerz in den oberen Gliedmaßen“ (b28014). Das würde auch auf Luise zutreffen. Zudem sind bei ihr die folgenden Funktionen beeinträchtigt:

  • > Funktionen der Gelenkbeweglichkeit (b710)

  • > Funktionen der Gelenkstabilität (b715)

  • > Funktionen der Muskelkraft (b730)

  • > Funktionen der Muskelausdauer (b740)

Bedingt durch die Schmerzen und die Beeinträchtigungen muss Luise mehr Energie und Kraft aufbringen, um ihre Aufgaben im Alltag zu meistern. Sie schläft schlecht, kann sich deutlich schlechter konzentrieren. Sie hat Mühe, komplexere Situationen zu erfassen. Im Denken ist sie teilweise umständlich. Sekundär wirkt sich ihr Gesundheitsproblem somit auf ihre mentalen Funktionen aus. Codiert nach ICF beträfe das:

  • > Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs (b130)

  • > Funktionen des Schlafes (b134)

  • > Funktionen der Aufmerksamkeit (b140)

  • > Funktionen der Wahrnehmung (b156)

  • > Funktionen des Denkens (b160)

Die ICF kann eine Gesamtsituation abbilden oder auch einen bestimmten Aspekt fokussieren.

ERGOTHERAPIE UND ICF

Die ergotherapeutische Denkweise und ICF passen zusammen

Beschreibt ein Klient, weshalb er manche Aktivitäten nicht durchführen kann, gibt er oft indirekt Hinweise, welche anderen Aktivitäten ebenfalls beeinträchtigt sein könnten. Durch ihre ganzheitliche Perspektive können Ergotherapeuten leicht Rückschlüsse auf andere Aktivitäten des Klienten ziehen. Hat zum Beispiel eine Seniorin Arthrose in den Schultergelenken und Mühe, sich eine Mütze aufzusetzen, dann fällt es ihr wahrscheinlich auch schwer, Gegenstände aus einem Regal in Kopfhöhe zu nehmen. Oder ein Klient mit reduzierter Handkraft schafft es kaum, ein Stück Küchenrolle abzureißen. Wie sieht es dann mit dem Toilettenpapier aus? Die ergotherapeutische Denkweise erleichtert es, weitere Items zu identifizieren und zu definieren und in Bezug zum Gesundheitsproblem setzen.


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Körperstrukturen

Die Körperstrukturen umfassen alle strukturellen Bereiche eines Menschen. Sie sind wie folgt unterteilt:

  • > Strukturen des Nervensystems

  • > Auge, Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende Strukturen

  • > Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind

  • > Strukturen des kardiovaskulären, des Immun- und des Atmungssystems

  • > Strukturen, die mit dem Verdauungs-, Stoffwechsel und endokrinen System in Zusammenhang stehen

  • > Strukturen, die mit dem Urogenital- und dem Reproduktionssystem in Zusammenhang stehen

  • > Strukturen, die mit der Bewegung in Zusammenhang stehen

  • > Strukturen der Haut und Hautanhangsgebilde Bei Luise sind der Unterarm, das Handgelenk und die damit verbundenen Strukturen des rechten Armes betroffen. Nach ICF beträfe das die Strukturen der oberen Extremitäten, die mit Bewegung in Zusammenhang stehen (s730).


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Aktivitäten und Teilhabe

Die Aktivitäten und die Teilhabe werden innerhalb der ICF als Lebensbereiche zusammengefasst. Diese sind in neun Domänen eingeteilt:

  • > Lernen und Wissensanwendung

  • > Allgemeine Aufgaben und Anforderungen

  • > Kommunikation

  • > Mobilität

  • > Selbstversorgung

  • > Häusliches Leben

  • > Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen

  • > Bedeutende Lebensbereiche

  • > Gesellschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben

Luise ist zurzeit in vielen beruflichen Aktivitäten beeinträchtigt. Das betrifft das Behandeln von Klienten, die Auswahl von Behandlungsmaßnahmen, das Telefonieren mit Ärzten und Angehörigen, das Vorbereiten der Therapieeinheiten, das Tragen von Gegenständen, die Dokumentation der Behandlungseinheiten, das Schreiben von Berichten sowie die Bestellung von Therapiematerial. Alle diese Arbeiten fallen unter d850 „Bezahlte Tätigkeit“.

Aber auch in anderen Lebensbereichen ist Luise beeinträchtigt, zum Beispiel in der Domäne „Mobilität“: eine „Tür mit Schlüssel auf- bzw. zuschließen“ (d4453) oder die „Gangschaltung beim Auto bedienen“ (d4751). In der Domäne „Häusliches Leben“ hat sie Mühe beim „Wäsche aufhängen“ (d6400), „Gemüse schneiden“ (d6300) und „Müll entsorgen“ (d6405).


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Umweltfaktoren

Die Umweltfaktoren sind unterteilt in:

  • > Produkte und Technologien

  • > Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt

  • > Unterstützung und Beziehungen

  • > Einstellungen

  • > Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze

Luise arbeitet in Teilzeit (60 Prozent) in einer Rehaklinik und zu 30 Prozent in einer Praxis in einem größeren Dorf. Bei ihrer Praxistätigkeit geht sie vorrangig auf Hausbesuche mit ihrem alten Corsa. Hier wäre der Umweltfaktor e1200 relevant: „Allgemeine Produkte und Technologien zur persönlichen Mobilität und zum Transport drinnen und draußen“.


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Die Komponenten kennen und passende Assessments wählen

Luises Codes sind in dieser Form noch nicht aussagekräftig. Um zu beurteilen, wie stark zum Beispiel Funktionen geschädigt oder Aktivitäten beeinträchtigt sind, muss man Tests auswählen, welche die jeweilige Komponente messen. So könnte man Luises Handkraft mit dem Dynamometer messen. Mit dem COPM (Canadian Occupational Performance Measure) könnte man ihre Aktivitäts- und Teilhabekomponente erfassen. Im ergotherapeutischen Alltag hilft die Kenntnis der Komponenten unter anderem, um geeignete Testverfahren auszuwählen. Die einzelnen Codes bis ins Detail zu kennen, ist aber für die praktische Tätigkeit nicht erforderlich. Hilfreich ist es dagegen beim Lesen von Forschungsartikeln, die mit ICF-Codes arbeiten.


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Was ist förderlich – und was ist hinderlich?

Bei den Umweltfaktoren betrachtet man, ob Förderfaktoren oder Barrieren vorliegen. Förderfaktoren können zum Beispiel die sich automatisch öffnende Tür im Supermarkt sein, die resolute Ehefrau, die ihren Mann unterstützt, eine Schiene für die paretische Hand oder Großeltern, die auf das Kind aufpassen können. Barrieren wären zum Beispiel der defekte Aufzug, die Schwelle zur Sonnenterasse, ein Ehemann mit Demenz oder schlechte Verkehrsanbindungen in die nächste Stadt.

Die ICF erleichtert es den Therapeuten, Ziele zu priorisieren und notwendige therapeutische Maßnahmen auszuwählen.

Luises alter Corsa stellt eine Barriere dar: Er hat keine Servolenkung, daher muss sie beim Lenken viel Kraft aufwenden. Luise arbeitet vorwiegend auf der Stroke-Unit ihrer Rehabilitationsklinik. Hier ist sie am 24-Stunden-Bobath-Konzept beteiligt, bei dem sie die Betroffenen lagern und auch am Wochenende Therapien durchführen muss. Negativ bzw. hinderlich wirkt sich auch ihre Aversion gegen Ärzte aus (personbezogener Faktor). Sie schiebt Termine immer weit hinaus. Alles Kontextfaktoren, die dem Ausheilen ihrer Sehnenscheidenentzündung im Weg stehen.

Fördernde Faktoren wären: Der Weg zum Hausarzt ist nicht weit, er praktiziert im selben Ort. Ihre Familie kennt ihre Abneigung gegen Ärzte. Deshalb hat ihre Schwester einen Termin für Luise organisiert und wird sie zum Arzt begleiten.


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Eine ICF-basierte Problemanalyse erleichtert den Praxisalltag

Mit der ICF kann man für jeden Klienten individuelle Details beschreiben. Und sie erleichtert die Auswahl der notwendigen therapeutischen Maßnahmen. So kann zum Beispiel ein geübter ICF-Nutzer eine schnelle Problemanalyse durchführen: „Luise hat eine akute Sehnenscheidenentzündung in der rechten Hand ( Gesundheitsproblem). Ihre Rolle als Ergotherapeutin (Teilhabe) ist eingeschränkt. Mit der betroffenen Hand (Körperstruktur) kann sie nicht lange den Telefonhörer halten (Aktivität), da sich sonst die Schmerzen (Schädigung der Körperfunktion) im Unterarm (Körperstruktur) verstärken. Sie schiebt den Arzttermin immer wieder hinaus, da sie eine Aversion gegen Ärzte hat (personbezogener Faktor).“

Eine solche schriftlich formulierte Problemanalyse ermöglicht eine fast nahtlose Weiterführung der Therapie bei plötzlichem Therapeutenwechsel, zum Beispiel im Krankheitsfall. Der Kollege, der übernimmt, kennt sofort die wichtigsten Probleme des Klienten, einschließlich welche Komponenten wie miteinander zusammenhängen. Und nicht zuletzt ist die Problemanalyse schon mal eine gute Startposition für den Klientenbericht.


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Die ICF sorgt mit ihrer einheitlichen Sprache für Klarheit

Die ICF läuft im Hintergrund des gesamten ergotherapeutischen Behandlungsprozesses mit. Daher eignet sie sich gut für die Dokumentation, für Berichte und für die Strukturierung von Sitzungen, zum Beispiel Fallbesprechungen. Mit ihr kann man die für den Klienten wichtigen Barrieren und Förderfaktoren bezogen auf sein Gesundheitsproblem sorgfältig erfassen.

Tritt in einem Gespräch zwischen zwei Teammitgliedern ein Missverständnis auf, lohnt es sich, zu prüfen, in welchem Bereich der ICF man sich gerade gedanklich befindet. Oft stellt sich heraus, dass man einen Begriff unterschiedlich interpretiert oder verwendet. Zum Beispiel beim Gehen: Ein Kollege meint das Gehen im funktionellen Sinne (z.B. Standbeinphase), ein anderer Kollege betrachtet eher das Gehen zum Kühlschrank und hat die Aktivität und Teilhabe im Sinn. Oder ein Physiotherapeut und eine Ergotherapeutin diskutieren über den Begriff „Aktivität“, wobei der Physiotherapeut eine Muskelaktivität (Körperfunktion) und die Ergotherapeutin eine Alltagsaktivität (Aktivität) im Blick hat (Abb. 3). Die Frage: „Welchen Bereich der ICF meinst du denn? Ich rede von …“ reicht oft aus, um Probleme zu lösen.

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Abb. 3 Wenn sich im Gespräch zeigt, dass Therapeuten unterschiedliche Dingen meinen, kann man mit der ICF für Klarheit sorgen.
(Abb.: contrastwerkstatt/fotolia.de)

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Auch für Gesundheitsforschung und Pädagogik relevant

Die ICF wird außerdem als statistisches Instrument genutzt, um Daten zu erheben und zu dokumentieren. Geht es zum Beispiel in einer Studie darum, ob Computertablets Klienten mit leichter Demenz im Alltag unterstützen können, kann man zuvor die relevanten Items herausfiltern, die als Daten erfasst werden sollen.

Die ICF dient als Forschungsinstrument, etwa bei Wirksamkeitsstudien zu bestimmten Therapiemaßnahmen: Man erfasst die Situation des Klienten in seinen Komponenten vor einer Behandlung – eine zeitlich definierte Standortbestimmung. Danach wird die Therapiemaßnahme angewandt, und es erfolgt eine erneute Standortbestimmung. Beide Standortbestimmungen werden miteinander verglichen, und die Differenz zeigt das Ergebnis der Studie auf.

In der gesundheitlichen Versorgung ist die ICF hilfreich, um beispielsweise Bedarfe zu erfassen und Behandlungen an spezifische Bedingungen anzupassen. Außerdem wird die Klassifikation als sozialpolitisches Instrument eingesetzt: Man findet das ICF-Vokabular unter anderem im SGB IX. Nicht zuletzt eignet sie sich auch als pädagogisches Instrument. So dient sie bei vielen Studiengängen als Struktur für den Lehrplanaufbau und Kategorisierung der Lehrplaninhalte. Sie kann eingesetzt werden, um ein Problembewusstsein zu wecken, und sie gibt Anstöße für soziales Handeln.

Die vielen Anwendungsbereiche zeigen, dass die ICF neben dem Gesundheitswesen auch im Erziehungs-/Bildungswesen, in der Wirtschaft, Sozialpolitik und in der Fortentwicklung der Gesetzgebung nützlich ist. Die ICF beschränkt sich nicht nur auf Menschen mit Behinderungen. Sie ist auf alle Menschen anwendbar, denn sie kann Gesundheitszustände und die mit Gesundheit zusammenhängenden Zustände in Verbindung mit jedem Gesundheitsproblem beschreiben.

Nicht nur für Menschen mit Behinderungen: Die ICF kann man auf alle Menschen beziehen, denn sie beschreibt Gesundheitszustände.


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Die ICF hat Grenzen

Die Klassifikation kann funktionelle Befunde und Symptome abbilden, Einschränkungen in verschiedenen Aktivitäten, Beeinträchtigungen der Teilhabe in bestimmten Lebensbereichen sowie fördernde Faktoren und Barrieren. Sie kann aber keine Diagnosen stellen. Dafür bedarf es der ICD.

Die ICF ist kein Assessment. Mit ihrer Hilfe kann man jedoch passend zum festgestellten Problem Assessments auswählen, um das Problem und dessen Qualität zu messen.


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Hilfreich bei der Zielformulierung

Die ICF ermöglicht es, genau die Probleme zu erfassen, die durch das Gesundheitsproblem eines Klienten ausgelöst werden. Sie bietet verschiedene Perspektiven auf den Klienten: Top-down oder Bottom-up. Sie kann die Gesamtsituation eines Klienten darstellen, aber auch ein ganz bestimmtes Thema, ein Detail oder eine Struktur. Aus den identifizierten Problemen erarbeitet man gemeinsam mit dem Klienten die Ziele, die er anstrebt, und wählt dazu passende Behandlungsmethoden. Ist das Ziel erreicht, kann die Therapie abgeschlossen und der Abschlussbericht geschrieben werden.

Wer die ICF-Denkweise verinnerlicht und die Klassifikation in seiner Arbeit nutzt, wird einen Zeitgewinn spüren, beim Berichteschreiben, beim Einarbeiten von neuen Mitarbeitern oder in fachlichen Diskussionen.


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Abb. 2 Das biopsychosoziale Modell der ICF mit ihren Komponenten und Wechselwirkungen
(Thieme Verlagsgruppe (Modell der ICF))
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Diagramm: ICF laut DIMDI 2005, Idee von Regina Roth
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Abb. 3 Wenn sich im Gespräch zeigt, dass Therapeuten unterschiedliche Dingen meinen, kann man mit der ICF für Klarheit sorgen.
(Abb.: contrastwerkstatt/fotolia.de)