Zeitschrift für Ganzheitliche Tiermedizin 2014; 28(2): 54-55
DOI: 10.1055/s-0034-1368367
TCVM
Sonntag Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Akupunktur „meets“ Biomechanik der Pferde

Können neue Erkenntnisse der Bewegungslehre in die Akupunktur eingebracht werden?Acupuncture “Meets” Biomechanics of Horses: Is it Possible to Introduce New Insights of Kinetics in Acupuncture?
Martina Steinmetz
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Martina Steinmetz
Thunder Mountain Ranch
Hanauerhof 3
67811 Dielkirchen
Telefon: +49 1729445602   

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
14. Mai 2014 (online)

 

Zusammenfassung

Schlagworte wie „Biomechanik“ und „funktionelle Bewegungslehre“ werden zurzeit in der „Pferdewelt“ recht häufig bemüht, wenn es darum geht, Reitweisen medizinisch zu erklären, Trainingsmethoden zu be-/verurteilen, manuelle Therapien zu begründen, Sattelanpassung zu revolutionieren oder den Reitersitz zu verbessern. Als Biomechanik versteht sich die interdisziplinäre Wissenschaft, die den Bewegungsapparat bzw. die Bewegung lebender Organismen untersucht. Dabei werden Begriffe und Gesetzmäßigkeiten der Mechanik verwendet. Dem Tierarzt dient die Kenntnis der Biomechanik als Bestandteil der funktionellen Bewegungslehre bei der Einschätzung der Gesundheit des Bewegungsapparates des Pferdes. Gerade die Meridianlehre und ihre enge Verbindung zum Bewegungsapparat und damit zur Biomechanik bieten dem Akupunkteur eine gute Möglichkeit, Lahmheiten und Bewegungsstörungen zu beurteilen und zu behandeln.


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Summary

Buzzwords such as “bio-mechanics” and “functional kinetics” are currently used quite frequently in the “horse world” when it comes to medically explaining riding methods, judging or/and condemning training methods, justifying manual therapies, revolutionizing saddle adjustment or improving the rider seat. Bio-mechanics should be understood as the interdisciplinary science that investigates the locomotor system or the movement of living organisms by using the jargon and laws of mechanics. The veterinarian relies on the knowledge of biomechanics as part of functional kinetics in assessing the health of the musculoskeletal system of the horse. Indeed, the meridian doctrine and its close connection to the musculoskeletal system and thus to the bio-mechanics, offers a good opportunity to the acupuncturist to assess lameness and movement disorders and offer appropriate therapy.


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Transponierte Meridiane und TCVM

Die klassischen Schriften der TCVM beschreiben keine Meridianverläufe beim Pferd. Daher können wir uns hier leider nicht einfach auf das über Jahrhunderte erprobte Wissen der „alten Chinesen“ verlassen.

In den Texten der TCVM werden die gleichen Prinzipien wie in der Humanakupunktur angesprochen, z. B. zur Theorie der Zang-Fu-Organe oder zu „Übeln und Schädigungen“. Doch es werden auch wesentliche Unterschiede aufgezeigt. Einer dieser Unterschiede ist, dass die traditionellen Akupunkturpunkte für die Behandlung der Pferde nach Körperregionen geordnet sind und nicht nach Meridianzugehörigkeit. Im Pferdeklassiker [2] werden zwar 6 Yin- und 6 Yang-Meridiane erwähnt, doch wird keine Beschreibung von Verläufen gegeben. Zu jedem Meridian wird nur ein einziger Akupunkturpunkt erwähnt, der sich auf ein Organ und weniger auf eine Leitbahn bezieht. Doch kann man daraus nicht die Bedeutungslosigkeit von Meridianen beim Pferd ableiten. Immerhin bewegen sich auch nach TCVM-Vorstellung Qi und Blut beim Pferd in Meridianen, und es dringen pathogene Faktoren in sie ein.

In den letzten Jahrzehnten wurden vor allem von Tierärzten in den USA und Europa die Meridianverläufe und häufig genutzte Akupunkturpunkte vom Menschen aufs Pferd transponiert (übertragen). Verschiedenste Methoden wurden in der Pferdeakupunktur angewandt, um die Meridianverläufe zu verifizieren und ein anatomisches oder histologisches Korrelat zu finden.

Bei der Transposition (Übertragung) der Meridianverläufe und der Meridianpunkte orientiert man sich vor allem an anatomischen Gegebenheiten wie den Verläufen von Faszien, Muskelketten, Nervenbahnen, Blut- und Lymphgefäßen oder Knochenstrukturen. Auch funktionelle Beziehungen wie neuronale, somatoviszerale Verknüpfungen oder biomechanische Zusammenhänge werden berücksichtigt.

Im „Taschenatlas Akupunktur beim Pferd“ [5] werden bei der Transposition der Meridiane auch alle für den Menschen angegebenen Meridianpunkte auf das Pferd übertragen und bildlich dargestellt, was eine genaue Vorstellung der Meridianverläufe beim Pferd ermöglicht.

Die Kenntnis der genauen Meridianverläufe ist nach Meinung der Autorin sehr wichtig für die Behandlung von Erkrankungen des Bewegungsapparates (= Imbalance der „gesunden Biomechanik“) beim Pferd mit Akupunktur.


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Biomechanik in den Meridianen des Pferdes

Die Biomechanik-Forschung hat insbesondere bei Pferden und Hunden in den letzten Jahren fantastische Ergebnisse hervorgebracht. Hier ist ein neues Bild von Bewegungslehre entstanden. Leider ist der Weg von der Forschung in die Praxis – wie so oft – sehr weit. Viele Erkenntnisse bahnen sich nur langsam ihren Weg, manche werden dagegen nie umgesetzt.

Dem Gedanken folgend, einen Brückenschlag zwischen Forschung und Praxis herzustellen, neue Erkenntnisse und Interpretationen der Bewegungslehre in die Praxis umzusetzen, hat die GerVAS (German Veterinary Acupuncture Society) eine Seminarreihe (Akupunktur „meets“ Biomechanik) aufgesetzt. Den Anfang der Reihe hat im Frühjahr 2013 Prof. Fischer mit seinem Vortrag über die Ergebnisse der Jenaer Studie [1] gemacht, fortgesetzt wurde sie im April 2014 in einem Seminar mit Rikke Schultz, die hier die Ergebnisse zu ihren Untersuchungen der „myofaszialen Linien“ bei Pferden [3] vorgestellt hat. Eine Fortsetzung dieser Seminarreihe ist in Planung. Was die Autorin an diesen Kursen so sehr schätzt, ist nicht nur der „Wissensgewinn“, sondern auch der intensive Gedankenaustausch und die Diskussion mit Kollegen.

Beispiel: Blasenmeridian

Wie man das in den Kursen „Gelernte“ in Bezug auf die Akupunktur der Pferde interpretieren und umsetzen kann, soll an einem Beispiel aufgezeigt werden:

Der äußere Verlauf des Blasenmeridians ([Abb. 1]) tritt mit dem Punkt Bl 1 im Bereich des medialen Augenwinkels an die Oberfläche, zieht parallel der Mittellinie über Stirn, Genick, Hals und Rücken, dann weiter im kaudolateralen Bereich des Hinterbeines nach distal zum kaudolateralen Aspekt des Kronsaumes.

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Abb. 1 Äußerer Verlauf des Blasenmeridians (aus: Steinmetz M. Taschenatlas – Akupunktur beim Pferd. Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 2014).

Innerhalb des Konzeptes myofaszialer, kinetischer Linien besteht beim Menschen eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der oberflächlichen Rückenlinie und dem Blasenmeridian. Diese konnte auch für das Pferd nachgewiesen werden [3]. Die Hauptaufgabe der oberflächlichen Rückenlinie besteht darin, Extension zu erzeugen. Dies kann man auch als „motorische“ Funktion des Blasenmeridians annehmen.

Dabei überzieht und beeinflusst der Blasenmeridian Muskulatur, wie z. B. den M. longissimus dorsi und den M. semitendinosus. Beide Muskeln haben ein Aktivitätsmaximum im Trab am Ende der Stemmphase und zu Beginn der Vorschwingphase des gleichseitigen Hinterbeines. Bei einem Pferd mit einer ausgeprägten motorischen Dominanz der linken Hirnhälfte ist mit einer motorischen Dominanz der Muskeln zu rechnen, die auf der rechten Körperseite überwiegend beugende Funktion haben [4]. Daher findet man in solch einem Falle oft eine Schwäche der Extension (und Extensoren) auf dieser (rechten) Körperseite. In der Folge kann dies dazu führen, dass die Mm. longissimus und semitendinosus der rechten Körperseite schwächer ausgeprägt sind als die der linken Körperhälfte. Dies gilt ebenso für den Blasenmeridian der rechten Körperhälfte, der energetisch schwächer ist als der der linken Seite.

Beobachtet man den Bewegungsablauf eines solchen Pferdes im Trab, so stellt man fest, dass die Trittlänge der rechten Hintergliedmaße am Ende der Stemmphase verkürzt wird. Da der Blasenmeridian im vorderen Meridianverlauf auch über das Genick zieht, wundert es nicht, dass sich solch ein Pferd gerne bei zu starker Handeinwirkung des Reiters im Genick verwirft (sodass seine rechte Ohrbasis tiefer erscheint). Auch hier ist der (rechte) Blasenmeridian „zu schwach“, das Genick (rechts) zu heben. Das Verwerfen hat fatale Folgen u. a. für die Koordinationsfähigkeit des Pferdes. Hieraus lassen sich Ableitungen für die Behandlung dieser Gangstörung mit Akupunktur treffen: Es könnte z. B. der Blasenmeridian der rechten Seite gestärkt oder mit dem der linken Seite ausbalanciert werden. Aus dieser Art der Betrachtung ergibt sich nach Meinung der Autorin ein interessanter Zusammenhang zwischen der Biomechanik der Pferde und der transponierten Meridianlehre.

Sicher lassen sich noch viele weitere Verbindungen zwischen Akupunktur und Biomechanik finden. Ein interessanter Aspekt dabei ist auch, dass sich damit ganz besonders auch das gute Zusammenwirken von Akupunktur mit den manuellen Therapien erklären lässt.


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Martina Steinmetz

Studium der Veterinärmedizin in Gießen; danach Assistenzzeit und verschiedene Weiterbildungen in Akupunktur und manuellen Therapien; seit 2001 tierärztliche Praxis für Akupunktur, Chiropraktik und Osteopathie für Pferde und Hunde; seit 2009 Vorsitz GerVAS; Anfang 2013 Aufbau des Therapie- und Trainingszentrums für Pferde auf der Thunder-Mountain-Ranch in Dielkirchen

  • Literatur

  • 1 Fischer M, Lilje KE. Hunde in Bewegung. Stuttgart: Franck-Kosmos; 2011
  • 2 Heerde M. Pferdebehandlung mit traditioneller chinesischer Veterinärmedizin (TCVM). Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 1999
  • 3 Schultz RM. Can myofascial kinetic Lines be an anatomical Foundation for Acupuncture Meridians? Proceedings of the 39th Annual International Congress on Veterinary Acupuncture. New Orleans: IVAS; 2013
  • 4 Steinmetz M. Die Bedeutung der natürlichen Schiefe der Pferde in der Akupunktur. ZGTM 2004; 18: 142-145
  • 5 Steinmetz M. Taschenatlas – Akupunktur beim Pferd. Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 2014

Martina Steinmetz
Thunder Mountain Ranch
Hanauerhof 3
67811 Dielkirchen
Telefon: +49 1729445602   

  • Literatur

  • 1 Fischer M, Lilje KE. Hunde in Bewegung. Stuttgart: Franck-Kosmos; 2011
  • 2 Heerde M. Pferdebehandlung mit traditioneller chinesischer Veterinärmedizin (TCVM). Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 1999
  • 3 Schultz RM. Can myofascial kinetic Lines be an anatomical Foundation for Acupuncture Meridians? Proceedings of the 39th Annual International Congress on Veterinary Acupuncture. New Orleans: IVAS; 2013
  • 4 Steinmetz M. Die Bedeutung der natürlichen Schiefe der Pferde in der Akupunktur. ZGTM 2004; 18: 142-145
  • 5 Steinmetz M. Taschenatlas – Akupunktur beim Pferd. Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 2014

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Abb. 1 Äußerer Verlauf des Blasenmeridians (aus: Steinmetz M. Taschenatlas – Akupunktur beim Pferd. Stuttgart: Sonntag in MVS Medizinverlage; 2014).