Prof. Götz Martin Richter betritt den OP. Es ist 11.30 Uhr. Eine endovaskuläre Aortenreparatur
steht auf dem Plan. Der Patient liegt schon auf dem OP-Tisch. Die beiden Leistenarterien
hat der Gefäßchirurg bereits mit zehn Zentimeter langen Schnitten freigelegt. Am oberen
Ende des Oberschenkels ragen Katheter und Führungsdrähte heraus, und am kleinen Tisch
nebenan bereitet der Assistenzarzt den Aorten-Stent vor. Mithilfe eines Drahtes fädelt
Prof. Richter diese kleingefaltete Gefäßprothese CT-gestützt durch den Katheter in
die ausgebeulte Bauchaorta. Der interventionelle Radiologe navigiert millimetergenau
durch den Körper. Durch Zurückziehen des Drahtes entfaltet sich der Stent und überbrückt
die Aussackung des Gefäßes. Auf den Bildschirmen über dem Patienten kontrollieren
die Ärzte die Position des implantierten Drahtgeflechts. Der Interventionalist zieht,
schiebt und dreht an den dünnen Drähten, bis alles an Ort und Stelle sitzt. Dann ist
Prof. Richter zufrieden. „Ein perfektes Bild“, urteilt er.
Das interdisziplinärste Fach
Das interdisziplinärste Fach
Als der Physiker Conrad W. Röntgen vor knapp 120 Jahren die Röntgenstrahlen entdeckte,
hätte er sich sicher nicht träumen lassen, was man später mit seiner Erfindung alles
anstellen kann. Die Sensation, dass man damit in seinen eigenen Körper hineinschauen
konnte, machte die Strahlen zur populärsten physikalischen Entdeckung ihrer Zeit.
Bis heute ist das Erkennen von Krankheiten mittels bildgebender Verfahren das Kernstück
dieses Fachs. Fast alle klinischen Fächer sind auf die Befunde der Röntgenärzte angewiesen.
Ohne die aufschlussreichen Bilder könnte man viele Krankheiten nur vermuten. Ist der
Knochen tatsächlich gebrochen? Woher kommt der chronische Husten? Wo ist die Arterie
verstopft? Diese Fragen kann der Radiologe beantworten – vorausgesetzt er kennt sich
mit den Diagnosen der anderen Fächer gut aus. „Wir sind ein wandelndes Lexikon“, sagt
Prof. Richter. Der Ärztliche Direktor der Radiologie am Klinikum in Stuttgart sieht
im interdisziplinären Denken ein Grundelement seines Fachs. „Diese Vielseitigkeit
ist eine Herausforderung. Aber mir macht die Zusammenarbeit mit den Kollegen anderer
Fächer viel Freude.“ Dieser intensive Austausch prägt den Alltag in der Klinik: Die
Radiologen diskutieren mit Spezialisten anderer Fächer schwierige Fälle und besprechen
Therapiemöglichkeiten. Auch innerhalb der Radiologie werden unklare Befunde besonders
gründlich besprochen. Komplizierte Fälle werden in Konferenzen erörtert oder zur Qualitätskontrolle
nochmals überprüft.
Einzelkämpfer in Einzelpraxis
Einzelkämpfer in Einzelpraxis
Dr. Stefan Müller ist in seiner Praxis auf sich alleine gestellt, die Möglichkeit
zur direkten Absprache hat er nicht. „Für mich hat es den Vorteil, selbstständig zu
sein. Ich bin mein eigener Herr und habe das Recht, Tag und Nacht zu arbeiten!“, sagt
er mit einem bitteren Lächeln. Sein Arbeitstag ist 12 bis 14 Stunden lang. Alle Abläufe
sind durchorganisiert: „Sie sollten im 15-Minuten-Takt befunden können“, erklärt der
Radiologe. „Von der Befundung gehe ich zum Patientengespräch und sofort weiter zum
nächsten Befund. Sonst warten die Patienten und sind unzufrieden.“ Vor allem Notfälle
wie Arbeitsunfälle oder ein eingeklemmter Meniskus müssen sofort drankommen. Privatpatienten
haben ebenfalls Vorrang, sagt Dr. Müller: „Sonst gehen Sie schlichtweg pleite!“ Betriebswirtschaftlich
gesehen bekommt er von Privatpatienten das zehnfache Honorar eines gesetzlich Versicherten.
„Man muss schon ein bisschen verrückt sein, sich als Radiologe niederzulassen“, gibt
Dr. Müller zu. In seiner Praxis stehen Geräte und Maschinen für mehrere Millionen
Euro. Das muss sich refinanzieren. Das gelingt nur, wenn ihm seine Kollegen ausreichend
Patienten zuweisen. Die meisten dieser Krankheitsbilder betreffen Sportverletzungen,
Bandscheibenvorfälle oder vaskulär bedingte Erkrankungen.
In Deutschland gab es 2012 laut Bundesärztekammer (BÄK) 7.379 Fachärzte für Radiologie. Dabei hält sich die Anzahl der Ärzte, die im niedergelassenen Bereich tätig sind,
die Waage mit den Radiologen in den Kliniken. 3.423 Radiologen arbeiten in einer Praxis, 3.522 in der Klinik. Der Beruf des Radiologen ist derzeit eher noch eine Männerdomäne, nur rund ein Drittel aller Radiologen in Deutschland ist weiblich. Für den Facharzttitel müssen Radiologen unter anderem 1.500 CTs, 750 MRTs, 4.500 Röntgenuntersuchungen und 150 Interventionen durchgeführt, befundet und indiziert haben.
(1) Oft wird bei einer interventionellen OP für wenige Sekunden ein künstlicher Atemstillstand
erzeugt, damit „geknipst“ werden kann. Auch die Ärzte stehen dann still, damit die
Qualität der Angiografie nicht durch Bewegungen beeinträchtigt wird.
(2) Digitale Aufnahmetechniken sind die Basis der Telemedizin. Kleine Kliniken können
ihre Röntgenbilder an Spezialisten oder Radiologiezentren schicken, um sie dort befunden
zu lassen.
(3) Die MTA beaufsichtigt einen Patienten im CT. Eine Untersuchung dauert ca. zehn
Minuten. So kann der Patient in kurzer Zeit völlig schmerzfrei untersucht werden –
falls erforderlich von Kopf bis Fuß!
(4) Typische Handbewegung bei einer radiologischen OP: Damit der Interventionalist
kontinuierlich eine optimale Sicht auf das zu behandelnde Körperareal hat, muss er
das Durchleuchtungsgerät und den OP-Tisch immer wieder neu ausjustieren.
Was macht der Radiologe im OP?
Was macht der Radiologe im OP?
Die diagnostische Seite, die Dr. Müllers Alltag bestimmt, ist heute allerdings nur
ein Bereich der Radiologie: „Im Krankenhaus sind wir Radiologen mittlerweile auch
Therapeuten!“, sagt Prof. Richter. Durch die Entwicklung interventioneller Verfahren
hat sich das Fach ein riesiges Tätigkeitsfeld erschlossen. Experten wie Prof. Richter
verbringen mehr Zeit im OP als beim Befunden. Radiologen können Katheter unter örtlicher
Betäubung mithilfe ausgereifter Bildgebung millimetergenau an einen Tumor heranführen.
Dort zerstören sie dann mit Hitze, Radiofrequenz oder Chemotherapeutika bösartige
Geschwülste. Gefäßverschlüsse oder Aussackungen können durch Stents repariert werden.
Mittels Ultraschall, CT oder MRT lassen sich Biopsienadeln an fast jeden beliebigen
Punkt des Körpers platzieren. Man kann Abszesse drainieren und bei Lungenembolien
die Blutgerinnsel zerstören. So ersparen Radiologen ihren Patienten oft große OPs
– und auch für sie selbst sind diese Verfahren ein großer Gewinn: Bei den Eingriffen
haben sie direkten Patientenkontakt und können therapeutische Erfolge genießen.
Aller Anfang ist schwer
Trotzdem: Der Verdacht, Radiologen würden viel Zeit beim Befunden von Bildern verbringen,
kommt nicht von ungefähr. „Ich wusste, worauf ich mich einlasse, aber am Anfang war
es schon hart!“, erzählt Julian Jürgens, Assistenzarzt in der Radiologie am Uniklinikum
Magdeburg. „Man sollte damit leben können, viel im Dunkeln zu sitzen und Befunde zu
schreiben.“ Dem jungen Arzt macht die Detektivarbeit am Monitor Spaß, aber der Weg,
bis er sich in den Bildern zurechtfand, war lang. „Gerade am Anfang sitzt man neben
dem Oberarzt, und er sagt nur: Sieh da, da und da! Und man fragt sich: Wie konnte
ich so große Schatten nur übersehen?“ Mittlerweile ist der angehende Radiologe schon
routinierter, und ihm springen immer mehr Auffälligkeiten sofort ins Auge. Alles sieht
er noch nicht, aber: „Meine Oberärzte wären bestimmt deprimiert, wenn ich schon alles
entdecken würde, was es zu sehen gibt!“, lächelt der junge Radiologe. Die Angst, etwas
zu übersehen, ist trotzdem ein ständiger Begleiter. Das stundenlange Befunden fordert
Augen und Konzentration. Außerdem sollte man sich niemals allein auf die Fragestellung
des anfordernden Arztes beschränken. Dr. Müller ist der Blick über den Tellerrand
sehr wichtig: „Ein Radiologe muss ein Bild vollständig interpretieren. Ihm muss jede
Kleinigkeit auffallen, auch wenn nicht danach gefragt wurde!“ Deshalb brauchen Radiologen
gute Anatomiekenntnisse und ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen. Von Vorteil
ist auch ein gutes Gedächtnis, um die vielen Differenzialdiagnosen immer präsent zu
haben. Trotz der Hightech-Maschinen braucht man kein Technikfreak zu sein, ein Grundinteresse
an technischen Abläufen reicht. Vor Strahlen braucht man keine Angst zu haben. Radiologen
tragen einen Dosismesser, und bei jeder Untersuchung schützen Bleimäntel vor den Röntgenstrahlen.
Die tatsächliche Strahlenbelastung ist äußerst niedrig – auf jeden Fall liegt sie
unter der von Berufspiloten.
Hürde zum Start
Die Attraktivität des Fachs schlägt sich in den Bewerberzahlen nieder. Um an eine
Weiterbildungsstelle zu kommen, muss man sich schon ein bisschen Mühe geben. Hat man
den Einstieg geschafft, sind die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt exzellent. Besonders
in den Subspezialisierungen werden gut ausgebildete Radiologen gesucht.
Die Facharztausbildung dauert fünf Jahre. Man durchläuft alle Abteilungen von Ultraschall
über Röntgen bis zum MRT und CT. Die angehenden Röntgenärzte bekommen dabei auch Einblick
in Subspezialisierungen wie zum Beispiel Kinderradiologie, Herzbildgebung oder Bauchdiagnostik.
Um zur Facharztprüfung zugelassen zu werden, muss der angehende Radiologe eine Richtzahl
an Untersuchungen erfüllen (Kasten, S. 23). Die Weiterbildung zum Kinderradiologen oder Neuroradiologen dauert nochmals zwei
Jahre. Viele Radiologen spezialisieren sich nach der Ausbildung – z. B. auf muskuloskeletale
Bildgebung oder interventionelle Radiologie.
Maximale Chancen
Im abgedunkelten Befundungsraum sitzt ein Mitarbeiter von Prof. Richter. Er zoomt
in ein Röntgenthoraxbild und verstärkt den Kontrast. So kann er den auffälligen Schatten
viel genauer und detailreicher am Monitor betrachten. Die Leuchtschirme sehen ganz
verwaist aus. Sie sind Relikte aus früheren Tagen, denn der klassische Röntgenfilm
wurde längst von digitalen Aufnahmetechniken abgelöst. Verfahren wie die CT oder MRT
ermöglichen es, einen Körper Schicht für Schicht in weit über 2.000 Bildern abzubilden.
Dabei erhöht die Bilderflut nicht nur die diagnostische Genauigkeit – auch die Anforderungen
steigen. Oft erkennt man den Befund nur auf einem der tausend Bilder.
Ein Problem, mit dem die Radiologie zu kämpfen hat: Sie verliert Untersuchungen an
andere Disziplinen. Kardiologen machen ihre Herz-MRT-Untersuchungen selbst, und die
Internisten schallen die Niere oder die Leber auf eigene Faust. So werden viele Tätigkeitsfelder
der Radiologie von sogenannten „Teilradiologen“ aus anderen Fachdisziplinen verschluckt.
Auf der anderen Seite erobert die Radiologie mit ihren minimalinvasiven Möglichkeiten
neue Gebiete und macht andere Eingriffe überflüssig. „Es ist ein Geben und Nehmen,
wobei das Beste für den Patienten immer im Vordergrund stehen sollte“, erklärt Prof.
Richter.
So sind Radiologen ständig aufs Neue gefordert. Immer wieder müssen sie neue Verfahren
und Begebenheiten in ihren Alltag integrieren. Für sie ist diese Herausforderung nichts
Besonderes. Denn kein anderes Fach musste sich durch die technischen Weiterentwicklungen
so oft neu definieren wie die bildgebende Medizin. Dr. Müller ist überzeugt: „Wer
sich für die Radiologie entscheidet, kann sich in einem Punkt sicher sein: Er wird
dieses Fach nicht so beenden, wie er es angefangen hat.“
Warum lohnt es sich, Facharzt für Radiologie zu werden?
Julian Jürgens, Assistenzarzt: „Ich bin ein kleiner Technikfreak. Deshalb passt die Radiologie sehr gut zu mir.
Dieses Fach entwickelt sich ständig weiter, und es gibt immer etwas, das man noch
besser machen kann. Außerdem ist die Radiologie sehr facettenreich. Man arbeitet mit
allen möglichen Fachbereichen zusammen. Ich bin auch gerne Detektiv. Das Befunden
macht mir viel Spaß!“
Prof. Dr. Götz Martin Richter, Chefarzt „Ich bin ein Vollblutkliniker, auch als Radiologe! Vor allem die Verbindung der modernen
Diagnostik mit minimalinvasiver Medizin finde ich spannend. Die Idee, in einem Fach
Chirurgie, Radiologie und minimalinvasive Medizin zu vermischen, fasziniert mich.
Heute kann der Radiologe im therapeutischen Sektor dem Patienten wirklich Hoffnung
und Heilung bieten! Diese Breite und Tiefe des Fachs hat mich angetrieben, diesen
Beruf zu ergreifen.“
Dr. Stefan Müller, niedergelassener Radiologe: „So spannend wie Hitch- cock ist die Radiologie leider nicht. Ursprünglich wollte
ich Unfallchirurg werden. Leider habe ich das chirurgische Waschmittel nicht vertragen.
Da ich aber technisch begeistert bin, war Radiologie die ideale Alternative für mich.
Als Radiologe kann ich ganz unblutig jedes Detail eines Menschen darstellen, von der
Haarwurzel bis zur großen Zehe. Und Überraschungen sind immer möglich: Der Nebenbefund
kann schnell zum Hauptbefund werden!“