Prof. Dr. Manfred Wildner
Der Ausspruch „Alles ist Zahl“ wird dem griechischen Philosophen Pythagoras von Samos
(570 v. Chr. bis 510 v. Chr.) zugeschrieben. Ob Pythagoras, ungeachtet der Nennung
im Mathematikunterricht, tatsächlich zu den Pionieren der Mathematik gehörte, ist
wissenschaftlich ungesichert. Kulturgeschichtlich ist er sicherlich bedeutsam. Die
von ihm gegründete Schule legte Wert auf eine „pythagoräische“ Art des Lebens, d. h.
eine disziplinierte, bescheidene – damit potentiell gesunde – und der Wahrheit verpflichtete
Lebensweise. Ein Pendant in der Moderne wäre wohl am ehesten der „Lifestyle of Voluntary
Simplicity“ (LOVOS), ein einfaches Leben als Gegenentwurf zu einer konsumorientierten
Überflussgesellschaft, oder zumindest ein Lebensstil bewussten und gezielten Konsumierens
(„Lifestyle of Health and Sustainability“, LOHAS). Während das einfache Leben wohl
ein Minderheitenphänomen geblieben ist, zumindest soweit es freiwilliger Natur ist,
hat sich die Bedeutung der Zahlen weltweit als „philosophischer Blockbuster“ erwiesen.
Mathematik ist für viele Wissenschaftszweige geradezu das Merkmal und Echtheitssiegel
ihrer Wissenschaftlichkeit. Sie hat nicht nur als Grundlage von (Bio-)Physik, Physiologie
und (Bio-)Chemie Bedeutung, sondern auch in Form der Biometrie und Biostatistik im
Bereich von klinischer Forschung und Public Health sowie allgemein in den empirischen
Sozial-, Wissenschafts- und Lebenswissenschaften.
Konzeptionell hat unser moderner Umgang mit Zahlen Impulse und Entwicklungsschübe
aus verschiedenen Epochen und Kulturräumen erhalten und ist auch in der Gegenwart
nicht abgeschlossen. Die als „arabische“ Zahlzeichen gebräuchlichen Ziffern sind besser
als arabisch-indische Ziffern zu bezeichnen. Sie entstammen der altindischen Brahmi-Schrift
und deren 9 Zahlzeichen mit einem zusätzlichen als Kreis geschriebenem Zeichen für
die Null. Dieses „Nichts“ als Stellzeichen im Dezimalsystem war eine Revolution. Die
Bezeichnung „Ziffer“ ist in diesem Sinne auch abgeleitet von arabisch „as-sifr“ (Null,
Nichts), der Übersetzung des Sanskrit-Bezeichnung „sunya“ für „leer“ [1].
Ihren zweiten großen und ebenfalls weltweiten Durchbruch haben die Zahlen im Binärsystem
(0,1) erlebt. Der Binärcode ist Grundlage der infomationellen Prozesse in Computern,
auf Zahlenfolgen basierenden Rechnern, in Gestalt von Handheld Devices, Tabloids,
Laptops, Desktops und Großrechenanlagen bis hin zu Cloud Computing, Internet und Cyberspace
– wenn man so will Ausdruck einer vom Binärcode getragenen, weltumspannenden Sphäre
zunehmend vernetzter geistiger Aktivitäten („Noosphäre“). In einer kulturellen Reflexion
dieser technologischen Errungenschaften könnten damit alte philosophische Fragen aktualisiert
gestellt werden: Sind wir, die wir nun selber virtuelle Welten erzeugen und in virtuellen
Welten Identitäten annehmen können, vielleicht auch selber nur rechnerische Erzeugnisse
eines gigantischen Computerprogramms, Produkte einer Zahlen-Matrix? Reicht unser Personensein
vielleicht nur bis zu einem Dasein als „Avatar“ in der uns zugänglichen Welt? Spätestens
an diesem Internet-Begriff, wiederum mit Herkunft aus dem Sanskrit (Avatara: „Herabkunft“), soll die Spekulation enden.
Die (All-)Gegenwart der Zahlen ist auch ohne derartige Spekulation und ganz im Konkreten
gut zu fassen: Im Gesundheitswesen in Form von Leistungsstatistiken und Personalzahlen,
als ökonomische Berechnungen und Planungsszenarien, als Laborwerte, Grenzwerte und
Verlaufskontrollen und natürlich in Forschungszusammenhängen als elaborierte Berechnungen.
In unserer modernen wissensbasierten und evidenzorientierten Welt sind Signifikanzschwellen,
Evidenzgrade und Metaanalysen geradezu zu Eckpfeilern des praktischen Medizinbetriebes
und damit auch des medizinischen Angebotes geworden. Sie erscheinen als Garanten und
Koordinaten in einer zunehmend unübersichtlichen, komplexen Informationsgesellschaft.
Wer die Zahlen kennt, hat einen Informationsvorsprung – zumindest, solange die Zahl
und der zugehörige Kontext ausreichend verstanden sind. Schwierigkeiten bestehen naturgemäß im „Begreifen“ sehr
großer und sehr kleiner Zahlen, die außerhalb unserer alltäglichen Lebenswirklichkeiten
liegen. Ist uns – um hier nur ein Beispiel zu geben – im Verständnis der statistisch signifikanten Ergebnisse aus „großen“ Studien ausreichend bewusst, dass sich diese gerade bei hohen
Teilnehmerzahlen auf sehr kleine Unterschiede beziehen können? Deren praktische Relevanz, auch bei gegebener Signifikanz, noch einmal gesondert zu bewerten ist?
Ein möglicher Ansatz, sich in diesem bisweilen undurchdringlich erscheinenden Dschungel
präsentierter Informationsvielfalt und Informationsunsicherheit nicht nur zu Recht
zu finden, sondern auch Wege zu weisen, ist die Erarbeitung von wissenschaftlichen
Leitlinien, mit ihren Qualitätsgraden S1–S4. Bedenklich ist dieser Ansatz dann, wenn
sich derartige Leitlinien auf Metaanalysen bzw. Forschungsarbeiten abstützen, welche
im Nachhinein als unzuverlässig eingestuft werden. Ein Beispiel dafür ist die S3-Leitlinie
zur Behandlung der Psoriasis vulgaris wegen einer vermuteten möglichen Einflussnahme
pharmazeutischer Unternehmen [2]. Ein weiteres Beispiel ist die Empfehlung zur Verwendung von Betablockern bei chirurgischen
Risiko- bzw. Hochrisikoeingriffen. Hier hat eine Re-Analyse publizierter randomisierter
kontrollierter Studien unter Ausschluss von mit hoher Wahrscheinlichkeit manipulierten
Studienergebnissen ein beunruhigendes Ergebnis gezeigt [3]. Eine Re-Analyse allein auf Basis der Originalarbeiten mit verlässlichen Ergebnissen
kam zu einer zu vielen Leitlinienempfehlungen divergenten Empfehlung hinsichtlich
des Einsatzes von Betablockern in der oben genannten Patientengruppe. Diese Studie
wirft die Frage auf, ob sich das Sterberisiko durch die nicht gerechtfertigte Vergabe
von Betablockern um ein Viertel erhöht, was sich wiederum in Tausende von vermeidbaren
operativen Todesfällen übersetzen ließe.
Damit stellt sich die Frage, inwieweit – gerade weil Zahlen allgegenwärtig scheinen
– diese Zahlen auch zutreffen. Gilt womöglich das Gegenteil: alle Zahlen sind falsch?
Lässt sich daraus eine Ablehnung von Metaanalysen und anderen zahlengestützten Instrumenten
des Erkenntnisgewinns ableiten? Doch wohl eher nicht – das Problem ist wie so oft
„menschliches Versagen“. Vielleicht auch eine in unserer menschlichen Natur begründete
und dem Menschen somit eigentümliche, vorgegebene Unvollkommenheit, nicht ein Versagen
der wissenschaftlichen Methode an sich. Metaanalysen haben auch zur Wendung medizinischer
Praxisstile zum Besseren beigetragen, wie z. B. die Analysen zur Volumenersatztherapie
mit Hydroxyethylstärke [4]. In der akademischen Diskussion wird allerdings auch die Hypothese vertreten, dass
alle oder zumindest die meisten Ergebnisse empirisch-statistischer Forschung falsch
sein könnten [5]. Mögliche Argumente für diese Ansicht begründen sich vor allem in der Kritik an einem von mancher Seite propagierten
hypothesenfreien Vorgehen allein auf Basis von „big data“, wie dies bei genom-wide association studies (GWAS) mit buchstäblich zigtausenden, multiplen statistischen Testungen zum Einsatz
kommen kann. Mögliche Argumente gegen diese Ansicht sind ebenfalls stichhaltig. Sie dürften im konventionellen wissenschaftlich-empirischen
Arbeiten mit seinem Iterieren zwischen Hypothesengenerierung unter Rückgriff auf verschiedene
Erkenntnisquellen und anschließender empirischer, hypothesengesteuerter und fokussierter
Prüfung auch tatsächlich „stechen“.
Schlechte Dinge gehen an sich selbst zugrunde, gute Dinge an ihren Übertreibungen.
Möglicherweise ist ein deterministischer Ansatz, welcher gesundheitsbezogene Ergebnisse
in der Individualmedizin wie auch in der Bevölkerungsmedizin auf Nachkommastellen
genau festhalten und dingfest machen will, in der Medizin bzw. in den Lebenswissenschaften
ähnlich verfehlt wie auf vielen Gebieten in der Physik, schon aufgrund der Warnungen,
die uns die Chaostheorie bei kleinen Unschärfen der Ausgangsdaten in komplexen Systemen
mit auf den Weg gibt. Einen gewissen Ausweg aus dem deterministischen Dilemma bietet ein probabilistisches Zahlenverständnis – also der Umgang mit Zahlen als Bezeichnung für Wahrscheinlichkeiten.
Diese können durchaus Erkenntnisse befördern, auch wenn sie im Einzelfall keine absoluten
Sicherheiten in die eine wie in die andere Richtung zulassen. Beispielsweise lässt
ein positiver Quantiferontest in den meisten Fällen eine Infektion mit Tuberkuloseerregern
vermuten, kann aber auch fälschlich positiv sein. Ebenso lässt sich die Aussage treffen,
das eine Grippe- oder Masernimpfung wahrscheinlich vor der Erkrankung schützen wird,
wobei eine 100%-ige Serokonversion und ein damit verbundener 100%-iger Schutz nicht
zugesichert werden kann. Trotz dieser Unsicherheiten sind Labortests und Schutzimpfungen
hilfreich und von hoher praktischer Relevanz, sowohl in der Individual- wie auch in
der Bevölkerungsmedizin bis hin zur Ausrottung von Geiseln der Menschheit wie den
Pocken.
In diesem angestrebten verständigen Sinn werden auch in dieser Ausgabe unserer Zeitschrift
wieder Erkenntnisse aus den verschiedensten Bereich des Gesundheitswesen berichtet:
Zu Gesundheitsreformen und Versichertenpräferenzen, zu direkten Krankheitskosten von
Diabetes mellitus in Deutschland, zum Zusammenhang von Deprivation im Wohnumfeld und
Diabetes mellitus sowie zur Gesundheitskompetenz türkischstämmiger Menschen mit Diabetes,
zu konservativer und chirurgischer Adipositas-Therapie, zum Einfluss nicht-klinischer
Faktoren auf Innovationen bei Implantaten, zu psychologischen Interventionen bei Patienten
mit chronischen Rückenschmerzen, zur schulärztlichen Bewertung des Förderbedarfs der
kindlichen Sprachentwicklung, zum Weg aus dem Dickicht des Formulardschungels bei
Anschlussrehabilitation bzw. Anschlussheilverfahren sowie zum gewünschten und tatsächlichen
Sterbeort am Beispiel Rheinland-Pfalz.
Alles ist Zahl? Ein weiterer, aktuell gerade bei komplexen Interventionen und Sachverhalten
viel diskutierter Weg verbesserten Erkenntnisgewinns ist eine methodische Erweiterung:
die Integration von qualitativen und quantitativen Verfahren, sog. Mixed methods-Designs. Im Zusammenhang mit Individual- und Bevölkerungsgesundheit sei dazu ein Aphorismus
berichtet, der dem Maler Ernst Fuchs (geboren 1930), einem Vertreter der Wiener Schule
des fantastischen Realismus, zugeschrieben wird: „Gott zählt Menschen nicht 1, 2, 3, sondern 1, 1, 1.“ Diese komplementäre Zählweise – qualitative Forschung par excellence – dürfte auch in den modernen diesseitigen Gesundheits- und Lebenswissenschaften
ihre Berechtigung haben.