Seit der ersten publizierten Verwendung einer Infusionslösung bei kritisch kranken
Patienten durch Dr. Thomas Latta aus Leith (Schottland), während der englischen Choleraepidemie
im Jahre 1832, herrscht eine kontroverse Diskussion über die Vor- und Nachteile der
Infusionstherapie. Während die Gabe von Flüssigkeit im Schock, einer lebensbedrohlichen
Verminderung der Blutzirkulation, zu einer Kreislaufstabilisierung führt und somit
lebensrettend sein kann, geht eine Flüssigkeitsüberladung mit einer Ödembildung (Gewebeaufschwemmung)
einher, die ihrerseits die Entstehung eines tödlichen Organversagens begünstigen kann.
Eine Maßnahme, die in einer frühen Phase lebensnotwendig ist, kann Patienten also
im weiteren Verlauf – und insbesondere bei unsachgemäßer Handhabung – schaden.
Erstaunlicherweise konnte trotz der weltweiten Verwendung verschiedenster Infusionslösungen
bislang nicht eindeutig nachgewiesen werden, dass die Infusionstherapie per se zu einer geringeren Sterblichkeit schwer kranker Patienten führt. Ursächlich hierfür
scheint einerseits die Komplexität der Therapie kritisch erkrankter Patienten zu sein,
andererseits die erheblichen Unterschiede in der klinischen Anwendung der Infusionstherapie.
Obgleich bislang kein allgemein gültiger Konsens bezüglich der „richtigen“ Behandlungsalgorithmen
für die Infusionstherapie existiert, legen aktuelle klinische Erkenntnisse nahe, dass
in der kritischen frühen Phase von Schockzuständen, den ersten 6 bis 24 Stunden (den
sogenannten „golden hours“), eine zielgerichtete Infusionstherapie die Sterblichkeit
reduziert und daher sinnvoll ist. Nach der Stabilisierung des Kreislaufs sollte möglichst
wenig Flüssigkeit infundiert werden, da eine positive Flüssigkeitsbilanz mit einer
erhöhten Wahrscheinlichkeit eines multiplen Organversagens einhergeht.
Ähnlich unklar wie Zeitpunkt, Dosis und Zielgrößen der Infusionstherapie ist die Wahl
der zu verwendenden Infusionslösung. Während bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausschließlich
wässrige Salzlösungen (sog. Kristalloide) zur Verfügung standen, wurden in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts Makromoleküle entwickelt, die die Verweildauer der Infusionslösung
im Blut und somit deren Effektivität steigern sollten. Diese so genannten Kolloide
wurden zunächst vornehmlich in Kriegszeiten eingesetzt, um den Blutverlust Schwerverletzter
schnell und nachhaltig ausgleichen zu können, weil deren Verweildauer in der Blutbahn
länger als die der Kristalloiden Lösungen ist. In den letzten Jahrzehnten wurden moderne
Kolloide zunehmend auch bei großen Operationen oder kritisch kranken Patienten mit
Schockzuständen verwendet. Die offenkundige Effektivität in der initialen Kreislaufstabilisierung
hat zu einer weiten Verbreitung der Kolloide geführt.
Während die initiale Kreislaufstabilisierung insbesondere beim Blutungsschock mit
Kolloiden effektiver ist als mit Kristalloiden, konnten große klinische Untersuchungen
keinen klaren Überlebensvorteil zeigen. Die besten Beweise aus klinischen Studien
mit Blick auf günstige Wirkungen existieren aktuell für die Verwendung balancierter
(d. h. an die Elektrolytzusammensetzung des Blutplasmas angepasster) Lösungen an Stelle
der klassischen isotonen Kochsalzlösung (Natriumchlorid-Lösung 0,9 %), die nachweislich
zu mehr Nierenversagen und Dialysepflichtigkeit führt. Dennoch ist die isotone Kochsalzlösung
leider weiterhin die weltweit mit Abstand am häufigsten eingesetzte Infusionslösung.
Im letzten Jahrzehnt hat eine Vielzahl klinischer Studien den Einfluss der am häufigsten
verwendeten Gruppe von Kolloiden, der sogenannten Hydroxyethylstärke-Lösungen, im
Vergleich zu Kristalloiden auf die Sterblichkeit und das Organversagen kritisch kranker
Patienten evaluiert. All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass der Einschluss
der Patienten in die Studien (meist auf Grund der aufwändigen Gruppenzuordnungs- und
Einwilligungsverfahren) erst mehr als 24 Stunden nach Beginn der kritischen Erkrankung
– also jenseits der „golden hours“ – erfolgte. Zu diesem Zeitpunkt war die initiale
Stabilisierung bereits abgeschlossen, und die meisten Patienten waren kreislaufstabil.
Dennoch wurden die Patienten nach Studieneinschluss mit zum Teil hohen Dosierungen
von Hydroxyethylstärke bzw. Kristalloiden behandelt, teilweise auch mit veralteten
Lösungen. Es ist für die Autoren nicht verwunderlich, dass diese Studien entweder
keinen Vorteil oder sogar Nachteile (insbesondere ein häufigeres Nierenversagen) einer
Therapie mit Hydroxyethylstärke gegenüber Kristalloiden gezeigt haben, da Kolloide
nicht nur potenter in der Kreislaufstabilisierung sind, sondern bei Fehlanwendung
auch ein höheres Potenzial für Nebenwirkungen haben. Trotz der offensichtlichen Schwächen
der o. g. Studien, waren die Ergebnisse für die Europäische Arzneimittelbehörde (European
Medicines Agency: EMA) Anlass, den Nutzen und das Risiko von Hydroxyethylstärke grundlegend
neu zu bewerten. Kurz vor Abschluss dieses Bewertungsverfahrens wurden die Ergebnisse
einer internationalen Studie bekannt, die erstmals bereits im akuten, noch unbehandelten
Schock den Einfluss von Kolloiden gegenüber Kristalloiden auf die Sterblichkeit von
2854 kritisch kranken Patienten untersuchte. Diese mittlerweile im hochrangigen „Journal
of the American Medical Association“ (JAMA) publizierte Untersuchung zeigte nach 90
Tagen eine geringere Sterblichkeit der Patienten, die initial mit Kolloiden behandelt
wurden. Die vorwiegend verwendete Kolloidlösung war die Wachsmaisstärke-basierte Hydroxyethylstärke
6 % HES 130/0,4.
6 % HES 130/0,4 ist aktuell die modernste und wissenschaftlich am besten untersuchte
Kolloidlösung. Zulassungsstudien zeigten die Effektivität und Sicherheit der Verwendung
im Rahmen von Operationen mit hohem Blutverlust. Aktuell konnte eine südafrikanische
Studie deutliche Vorteile von 6 % HES 130/0,4 gegenüber Kristalloiden in der Schockbehandlung
von Schwerverletzten mit offenen Wunden zeigen. Auch in einigen tierexperimentellen
Untersuchungen wurde ein positiver Einfluss von 6 % HES 130/0,4 auf die Entzündungsreaktion
und die Gewebedurchblutung gezeigt. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang ferner,
das Medikament HES in 6 %iger Konzentration (130/0,4), streng von anderen verfügbaren
Hydroxyethylstärke-Präparaten zu unterscheiden. Ein Vorteil dieser Lösung ist die
kürzere Halbwertszeit und die reduzierte Verweildauer im Organismus sowie die deutlich
verminderte Beeinflussung der Blutgerinnung und Nierenfunktion. HES-Lösungen der älteren
Generation (z. B. 10 % HES 200/0,5 oder 6 % HES 200/0,62) neigen auf Grund ihrer langen
Halbwertszeit besonders zu Ablagerungen im Gewebe und haben dadurch ein erheblich
höheres Risiko für Nebenwirkungen. Bereits Anfang 2000 konnte gezeigt werden, dass
die Infusion dieser Lösungen vermehrt zu akutem Nierenversagen und Dialysepflichtigkeit
führt, so dass es verwunderlich ist, dass 2003 noch eine große klinische Studie unter
Verwendung von 10 % HES 200/0,5 in Deutschland initiiert wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt
bereits 6 % HES 130/0,4 zur Verfügung stand.
Ebenso unterscheiden sich die chemische Zusammensetzung, die Molekülstrukturen und
die pharmakologischen Wirkungen verschiedener HES-Lösungen in Abhängigkeit vom zur
Herstellung verwendeten Rohmaterial erheblich. In diesem Zusammenhang konnten in ersten
experimentellen und klinischen Untersuchungen Unterschiede der aus Wachsmaisstärke
hergestellten 6 % HES 130/0,4 gegenüber der aus Kartoffelstärke bestehenden 6 % HES
130/0,42 aufgezeigt werden. Leider werden sowohl in systematischen Übersichtsarbeiten
als auch in Empfehlungen und Leitlinien sämtliche Hydroxyethylstärke-Präparate unabhängig
und unterschiedslos von Zusammensetzung und Rohmaterial gemeinsam betrachtet. Dabei
sind die meisten älteren HES-Lösungen mittlerweile gar nicht mehr für den klinischen
Einsatz verfügbar.
Die aktuellen Daten und die Einschätzung zahlreicher Experten haben bewirkt, dass
die EMA die Verwendung von 6 % HES 130/0,4 für die Therapie von Patienten mit akutem
Blutverlust (z. B. im Rahmen von Unfällen oder operativen Eingriffen) weiter zulässt.
Bei schweren Infektionen (Sepsis), Verbrennungsschock oder kritisch kranken Patienten
soll in Zukunft auf Hydroxyethylstärke-Lösungen verzichtet werden, bis weitere Daten
verfügbar sind, die eine eindeutige Einschätzung des Nutzen-Risiko-Spektrums bei diesen
Patienten erlauben.
Generell bleibt festzuhalten, dass die Infusionstherapie sich in den letzten Jahrzehnten
als eine zunehmend komplexe Thematik darstellt, bei der sowohl Zeitpunkt, Dosis, Zielparameter,
als auch die zu wählende Substanz Anlass kontroverser Diskussionen sind. Nach kritischer
Interpretation sämtlicher vorliegender Daten unterstützen die Autoren die Entscheidung
der EMA, die Zulassung moderner Hydroxyethylstärke-Lösungen als Blutplasmaersatz aufrecht
zu erhalten. Ein wesentliches Forschungsziel der folgenden Jahrzehnte muss es sein,
die Datenlage zur Infusionstherapie bei kritisch kranken Patienten durch gut konzipierte
Studien mit Patienten-zentrierten Endpunkten zu verbessern und somit evidenzbasierte
Behandlungsalgorithmen zu generieren. Ganz im Gegensatz zu diesem Ziel stehen Berichte,
die durch unzureichend differenzierte Darstellung von Fakten (siehe u. a. FAZ-Beitrag
vom 09. 10. 2013 unter der Rubrik „Natur und Wissenschaft“) zu einer Verunsicherung
nicht nur unserer Patienten sondern auch der klinisch tätigen Ärzte führen. Letztlich
muss es im Interesse aller sein, die existierenden Daten zu medizinischen Themen sachlich
und neutral zu interpretieren, ohne voreilig weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen,
die eine Therapie mit potenziell lebensrettenden Medikamenten künftig unmöglich machen
könnten.
Hugo Van Aken
Norbert Roewer
Kai Zacharowski