Zahnmedizin up2date 2014; 8(5): 507-532
DOI: 10.1055/s-0033-1358010
Oralchirurgie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Iatrogene Läsionen des Nervus lingualis

Michael Fröhlich
,
Matthias Schneider
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Publication Date:
25 September 2014 (online)

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Einleitung

Unter Nervenläsionen sind Schäden an peripheren Nerven durch mechanische, thermische, ischämische, lokaltoxische, elektrische, elektromagnetische oder ionisierende Einwirkungen sowie immunologisch und erregerbedingte Läsionen zu verstehen. Gelegentlich werden auch neurodegenerativ bedingte Erkrankungen zu den peripheren Nervenläsionen gezählt. Akzidentelle oder iatrogene Nervenläsionen sind im Rahmen von operativen Eingriffen oder durch andere (zahn-)ärztliche Handlungen/Eingriffe hervorgerufene Schädigungen. Iatrogen ist dabei wertneutral und bezieht sich auf die Verursachung, nicht aber ein Verschulden durch den (Zahn-) Arzt/Operateur [1].

Neben Schädigungen anderer somatosensibler Äste des N. trigeminus (N. alveolaris inferior, N. buccalis, N. infraorbitalis) ist auch eine Läsion des Nervus lingualis (N. ling.) als eine typische Gefahr im Rahmen von bestimmten operativen Eingriffen der Oral- und MKG-Chirurgie zu betrachten. Iatrogene Läsionen des N. ling. sind besonders charakteristisch als nicht vorhersehbare Folge von operativen Entfernungen der unteren Weisheitszähne, die in Deutschland 2011 bei gesetzlich Versicherten nach BEMA mehr als 1,15 Mio. Mal abgerechnet wurden [2]. Die Leistungsdefinition beschreibt die Entfernung eines verlagerten/retinierten Zahnes durch Osteotomie, wodurch klar wird, dass als operative Entfernung nur ein Teil der abgerechneten Häufigkeit für die Entfernung von unteren Weisheitszähnen in Ansatz kommt, dass es sich aber sehr wohl um einen häufig ausgeführten Routineeingriff handelt. Geht man von einer Häufigkeit für persistierende Ausfälle im Innervationsgebiet des N. ling. nach operativen Weisheitszahnentfernungen von 0,37 % bis zu 2 % [3], [4] aus, so erleiden immerhin mehrere hundert Patienten pro Jahr in Deutschland eine derartige Schädigung. Somit handelt es sich keineswegs um ein seltenes Ereignis! Die damit einhergehenden Folgen (Taubheit und Geschmacksverlust in den vorderen zwei Dritteln der betroffenen Zungenhälfte) beeinträchtigen den Patienten ganz erheblich in seiner Lebensführung und sind deshalb nicht selten Grund für haftungsrechtliche Auseinandersetzungen.

Deshalb ist dieses Risiko auch in die gängigen Aufklärungsbögen zu den entsprechenden Operationen aufgenommen worden. Die Patienten müssen präoperativ nach eingehender mündlicher Aufklärung durch ihre Unterschrift dokumentieren, davon Kenntnis bekommen zu haben, über das klinische Erscheinungsbild bei Realisierung des Risikos informiert und trotzdem mit dem Eingriff einverstanden zu sein. Dies setzt ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis voraus und verlangt zudem vom Operateur fundierte Kenntnisse über die topografisch-anatomischen Grundlagen sowie alle Fertigkeiten, um einer Nervenschädigung in allen operativen Phasen vorzubeugen und so seiner Sorgfaltspflicht nachzukommen. Die exakte Dokumentation im Operationsbericht – und nicht nur die Aufzeichnung von Abrechnungspositionen – ist obligat und Grundlage für gutachterliche und juristische Entscheidungen.

Bei eingetretener Irritation gilt es, das Schädigungsbild kompetent zu beurteilen. Unter Zugrundelegung der aktuellen Empfehlungen muss dem Patienten die optimale Therapie zugänglich gemacht werden, dafür muss er im Bedarfsfall verantwortungsbewusst und rechtzeitig an entsprechend personell und apparativ-instrumentell ausgerüstete Zentren überwiesen werden. So wird auch haftungsrechtlichen Auseinandersetzungen entgegengewirkt.

In den letzten Jahrzehnten haben umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen unser Verständnis für intakte und gestörte Nerventätigkeit bereichert und die Zuordnung von klinischen Beschwerdebildern zu pathologisch-anatomischen Substraten konkretisiert. Es wurden Indikationsstellungen für bestimmte Therapieregimes in Abhängigkeit vom Beschwerdebild des Patienten, vom klinischen Verlauf, vom objektiven Befund sowie vom zugrunde liegenden Schädigungsprofil des Nervengewebes bestimmten Zeitfenstern zugeordnet. Das Vorgehen kann dabei von einem hoffnungsvollen Abwarten bei berechtigter Aussicht auf eine spontane Funktionswiederkehr bis zur sofortigen oder verzögerten Revision/Rekonstruktion des Nervs reichen. Als Basis dafür dienen größere retrospektive Studien und Metaanalysen aus den letzten Jahren [5]–[8]. Diese können neben der gemeinsamen Stellungnahme der DGZMK und der DGMKG [9] Handlungsrichtschnur sein sowie in einigen Aspekten Konkretisierungen und Ergänzungen herbeiführen.