Die Geschichte des Fleckfiebers wird gerne entlang der Biografie bedeutender Forscher
und ihren akademischen Meriten oder der Bedeutung als Kriegsseuche erzählt. Dieser
Artikel wählt eine andere Perspektive: Er beleuchtet die Beiträge einer unkonventionellen
Frau, der Zeichnerin und Biologin Hilda Sikora (1889–1974), die aus der üblichen Perspektive
unsichtbar bleiben. Anhand ihrer Arbeiten können die Querbezüge zur Tropenmedizin
und die Nahtstelle zwischen Biologie und Medizin eindrucksvoll verdeutlich und dabei
zugleich der Genderaspekt innerhalb der Krankheitserforschung berücksichtigt werden.
Vorgeschichte
Fleckfieber, heute eher eine exotische Infektionskrankheit, galt noch im 19. und 20.
Jahrhundert in Europa als Kriegsseuche und wurde auch als Kriegstyphus oder -pest
bezeichnet. Der Übertragungsweg über die Kleiderlaus wurde erstmals während des 1.
Weltkriegs von 2 Mitarbeitern des Hamburger Tropeninstituts nachgewiesen, die beide
keinen deutschen Pass besaßen. Der aus Böhmen stammende Stanislaus von Prowazek identifizierte
gemeinsam mit seinem aus Brasilien stammenden Kollegen Henrique da Rocha Lima die
Laus als Vektor für diese Krankheit. Beide ermutigten die junge Hilda Sikora, über
die Biologie der Laus zu arbeiten.
Sikora, 1889 in Antananarivo, Madagaskar, als Tochter des österreichischen Sammlers
und Naturalisten Franz Sikora geboren, kam im August 1914 aufgrund ihrer fundierten
biologischen Kenntnisse und ihrer zeichnerischen Fähigkeiten ans Hamburger Tropeninstitut.
Bereits 1916 veröffentlichte sie eine längere Monografie zur Anatomie, Physiologie
und Biologie der Kleiderlaus, in der sie sich dezidiert mit deren zur Kopflaus unterschiedlichen
Lebensweise auseinandersetzte. Ihre Zeichnungen waren detailliert, lehrreich und zugleich
ästhetisch ansprechend (Abb. [
1
]). Zwar hat es den Anschein, als handele es sich bei dieser Publikation um eine Qualifikationsarbeit
analog einer Dissertation, doch erhielt Sikora zeitlebens keinen akademischen Grad.
Abb. 1 Anatomie der Kleiderlaus.
Quelle: Sikora H. Beiträge zur Anatomie, Physiologie und Biologie der Kleiderlaus
(Pediculus vestimenti Nietzsche). Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene Bd. 20, 1916;
Beiheft 1, beigefügte Tafel (Ausschnitte)
Mit freundlicher Genehmigung des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin, Hamburg
Zwischenzeit
Bis 1925 wirkte Sikora am Hamburger Tropeninstitut und entwickelte ein Verfahren,
wie die Rickettsien, die Erreger des Fleckfiebers in Kleiderläusen, die am Menschen
gefüttert werden, gezüchtet werden konnten. Denn in Petrischalen überlebten sie nicht.
Diese Arbeiten waren maßgeblich und grundlegend für die Entwicklung des Fleckfieberimpfstoffs
nach der Weigl-Methode. Die nach dem polnischen Biologen Rudolf Weigl (1883–1957)
benannte Methode bestand in einem zeit- und untersuchungsaufwendigen Verfahren, in
dem Kleiderläuse über den Darm mit Fleckfieber infiziert wurden und diese Därme dann
präpariert und zu Impfstoff verarbeitet wurden.
Sikora gebührt der Verdienst, wichtige Vorarbeiten im Rahmen der Impfstoffgewinnung
aus Läusedärmen geleistet zu haben [
1
]. In diesem Verfahren werden die Läuse mithilfe feinster Kapillargefäße über den
Darm infiziert. Als Infektionsmaterial diente das zerriebene und aufgeschwemmte Gehirn
eines Meerschweinchens, welches mit Blut eines fleckfieberkranken Menschen infiziert
worden war. Die infizierten Läusedärme wurden wiederum zur Infektion der Meerschweinchen
genutzt, um so die Passage aufrechtzuerhalten [
2
]. Die anal angesteckten Läuse wurden bis zum Ausbruch der Infektion an Menschen gefüttert.
Dafür wurden fleckfieberimmune Menschen benötigt. In Deutschland war diese Prozedur
kaum durchführbar, weil nur sehr wenige Fleckfieberrekonvaleszente für die Fütterung
der rickettsieninfizierten Läuse zur Verfügung standen. Sikora war jedoch eine davon.
Sie hatte sich während ihrer Forschung unbeabsichtigt mit Fleckfieber infiziert und
behielt neben der lebenslangen Immunität eine bleibende Herzschwäche zurück.
Sikora verbesserte die von Weigl empfohlenen Läusekäfige (Abb. [
2
]). Zunächst fertigte sie aus Streichholzschachteln kleine Käfige, die – am Arm getragen
und an der diesem zugekehrten Seite mit Gaze versehen – den Läusen jederzeit die gewohnten
Lebensbedingungen boten und genaue Beobachtungen ermöglichten. Die von Sikora sehr
bald technisch vervollkommneten Käfige wurden später allgemein für Läusezuchten verwendet
(Abb. [
3
]).
Abb. 2 Läusekäfige nach Weigl.
Quelle: Sikora H. Meine Erfahrungen bei der Läusezucht. Zeitschrift für Hygiene und
Infektionskrankheiten 1944; 541–559; Abb. 1: 542
With kind permission of Springer Science+Business Media
Abb. 3 Aus dem Fotoarchiv von Albin Nestler: Hilda Sikora (rechts) umgeben von Dr.
Rolf Korkhaus, Lola Schmidt und Dr. Koncek vor dem Institut für Parasitenkunde und
veterinärmedizinische Zoologie der Tierärztlichen Hochschule Berlin.
Quelle: Anonymus. Hilda Sikora 80 Jahre alt. Angewandte Parasitologie 11, 1970; 63
Abb. 4 Zeitungslesende Läusefütterin.
Quelle: Behring-Archiv der Emil-von-Behring-Bibliothek für Geschichte und Ethik der
Medizin, Universität Marburg.
Sikora galt als eigenwillig, nonkonformistisch und sehr tierlieb. Ihre unkonventionelle
Erscheinungsform ließ sie nicht selten anecken. So beschreibt Erich Martini in seiner
Biografie über Bernhard Nocht folgende Situation: "Fräulein Sikora hatte eine besondere
Vorliebe für Schlangen und Katzen. Lange Zeit trug sie ständig eine junge Schlange
in der Brusttasche ihres weißen Kittels, damit das kleine Wesen es recht schön warm
habe. Unterhielt sie sich, so sah man sich manchmal plötzlich einem züngelnden Schlangenkopf
gegenüber, und das hatte einen Kursisten, der im Lesezimmer ihr gegenüber gelesen
hatte, so entsetzt, dass er sie beim Chef verklagte" [
3
].
Sikora musste aufgrund dieses Ereignisses und ihrer für das Institut vorgeblich nicht
mehr haltbaren Tierliebe – in ihrem Dienstzimmer beherbergte sie bis zu 7 Katzen –
das Hamburger Tropeninstitut 1925 verlassen. Victor Schilling, der während des 1.
Weltkriegs als Militärarzt dorthin abkommandiert war, nahm sie in seiner Abteilung
für Innere Medizin der Charité in Berlin unter seine Fittiche.
2. Weltkrieg
Der am Hamburger Tropeninstitut bereits 1924 mit einer Venia Legendi für Tropenmedizin
ausgestattete Hygieniker Heinz Zeiss leitete ab 1933 das Berliner Hygiene-Institut
[
4
]. Zuvor war er in Moskau als Abteilungsleiter am Tarassewitsch-Institut für experimentelle
Therapie und Serumkontrolle tätig gewesen. 1935 holte er Sikora an sein Institut für
die Durchführung "Experimenteller Untersuchungen an Fleckfieber-Impfstoffen", die
von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wurden.
In ihren Arbeiten wollte Sikora gemeinsam mit Zeiss ein Referenzinsekt aus der Klasse
der Arthropoden finden, um eine einfachere und billigere Form der Impfstoffproduktion
zu entwickeln. Zeiss ergänzte argumentativ, dass es für ein zivilisiertes Land unschicklich
sei, größere Mengen an Läusen zu züchten. Sikora führte also Grundlagenstudien durch
und veröffentlichte diese in einschlägigen Fachzeitschriften [
5
].
Nachkriegszeit
Trotz ihrer Leistungen und einer eindrücklicher Publikationsliste gelang es Sikora
nach Ende des Krieges nicht, eine gesicherte Stellung zu finden. Der Institutsleiter
Zeiss, der während des Krieges unter anderem militärische Gutachten über die Fleckfiebergefahr
im Osten erstellte, wurde zu Ende des Krieges gefangengenommen. Er war doppelt verdächtig:
Zeiss wurde eine Spionagetätigkeit während seines langen Russlandaufenthalts zwischen
1921 und 1931 vorgeworfen. Hinzu kam die Anschuldigung, er hätte einen bakteriologischen
Krieg gegen die Sowjetunion geplant. Geschwächt von einer Parkinsonerkrankung, starb
er im März 1949 im Gefängnishospital von Vladimir.
Für Hilda Sikora konnte er nichts mehr tun.
Als lediges Fräulein ohne akademischen Abschluss war sie auf die Protektion von Institutsleitern
oder Professoren angewiesen. Auch Victor Schilling, 1941 zum Ordinarius und Leiter
der Inneren Klinik der Universität Rostock berufen, konnte für sie, die im Westen
geblieben war, nichts erreichen.
In ihrer Personalakte vom Hamburger Tropeninstitut finden sich Fragmente einer weitreichenden
Korrespondenz, die sie ab Herbst 1956 geführt hatte, um ihre zu geringe Rente aufzubessern.
Im 68. Lebensjahr stehend versuchte sie, von Ordinarien und Institutsdirektoren Gutachten
und Zeugnisse über ihre wissenschaftlichen Leistungen zu erlangen. Sie schrieb an
Ernst Georg Nauck und Ernst Rodenwaldt, schickte Briefe nach Brasilien an da Rocha
Lima. Insbesondere der Bonner Ordinarius Rudolf Lehmensick setzte sich für eine Rentenerhöhung
ein. Nachdem sie mehrere Jahre in einer Schrebergartenkolonie gelebt hatte, korrespondierte
sie aus dem Altersheim der Heilsarmee in Berlin-Schöneberg [
6
]. Ihren 80. Geburtstag erlebte sie in Wien, wohin sie auf verschlungenen Wegen gelangt
war.
Obwohl sie über 30 Jahre mit berühmten Fleckfieberforschern und Entomologen, die sowohl
aus der Biologie, der Medizin und der Hygiene kamen, zusammengearbeitet hatte, war
es ihr nicht gelungen, eine dauerhafte Stellung zu finden, in der sie sich für das
Alter absichern konnte. Für diese ledige, nonkonformistische Frau, die mit Blick fürs
Detail, wachen Augen und regem Geist ihre Umwelt betrachtete und kommentierte, gab
es keinen Platz in der Akademia.
Dr. Marion A. Hulverscheidt, Kassel