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DOI: 10.1055/s-0033-1356092
Intersexualität kommunizieren.
Über das I-DSD-Symposium im Juni 2013 in GlasgowPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
21. Dezember 2013 (online)

Die internationale Organisation I-DSD hat es sich zur Aufgabe gemacht, Studien zu „Disorders of Sex Development“ (DSD)[1] durchzuführen und eine PatientInnen-Datenbank (I-DSD-Registry) zu betreiben. Vom 7. bis 9. Juni 2013 veranstaltete das aus dem EU-finanzierten EuroDSD-Projekt entstandene Netzwerk von WissenschaftlerInnen und MedizinerInnen das „4th International Symposium on Disorders of Sex Development“.
Die Tagung begann mit der Frage nach den Prioritäten für die Zukunft. Nach der formalen Eröffnung durch I-DSD-Koordinator Faisal Ahmed von der Glasgow University erhielt – für die medizinisch geprägte Fachtagung ungewöhnlich – zunächst eine Repräsentantin einer Selbsthilfegruppe (dsdfamilies.org) das Wort: Ellie Magritte, Mutter eines Kindes mit Intersexualität, warb eindrücklich für eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Behandlung von Betroffenen sowie mehr psychosoziale Betreuung. Es solle versucht werden, mehr Normalität im Sinne einer Veralltäglichung des Umgangs mit DSD („reinforce the ordinary“) zu etablieren. Der Behandlungsfokus sei auf Themen wie Körpererleben, Identität, Beziehungsfähigkeit, Selbstwertgefühl und eine lustvoll erlebte Sexualität zu richten, statt Funktionalität bei frühkindlichen Operationen als wichtigstes Argument für geschlechtliche Zuordnung voranzustellen. Weiter plädierte Magritte für einen sensiblen Sprachgebrauch und eine nicht wertende Terminologie, die in gemeinsamer Arbeit mit den Betroffenen entwickelt werden sollten. Magrittes kritischer, zugleich jedoch kooperationsorientierter Beitrag fand beim heterogenen Publikum Zuspruch und verhieß zum Veranstaltungsauftakt einen differenzierten Umgang mit Intersexualität. Erst danach wurde mit Olaf Hiort, dem leitenden pädiatrischen Endokrinologen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und EuroDSD-Projektkoordinator, einem führenden Wissenschaftler das Wort erteilt. Hiort sprach sich für eine internationale Zusammenarbeit bei der Erforschung von DSD aus und stellte die von der EU geförderten COST-Programme (Cooperation of Science and Technology) vor, die ab Ende des Jahres 2013 neue Forschungsprojekte ermöglichen sollen.
Den im Eröffnungsvortrag als bedeutsam eingeführten psychosozialen Themen wurde im Folgenden nur eine Haupt-Session („Care and Communication“) gewidmet, und auch in der Vielzahl der Kurzvorträge ließen sich diese an einer Hand abzählen. Inhaltlich dominierten stattdessen erwartungsgemäß somatomedizinische Forschungsfragen. Der vorliegende Bericht stellt Aspekte der psychosozialen Versorgung dennoch in den Vordergrund.
Hauptredner der Session „Care and Communication“ waren die PsychologInnen Vickie Pasterski (Department of Paediatrics, University of Cambridge, UK), Amy Wisniewski (Department of Urology, The University of Oklahoma Health Sciences, USA) und David Sandberg (University of Michigan Medical School, USA) sowie der pädiatrische Endokrinologe Syed Jamal Raza (National Institute of Child Health, Karachi, Pakistan). Pasterski konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf die Unterstützung von Eltern nach der Geburt. Durch ein geeignetes Behandlungs- und Supportmodell lasse sich eine mögliche traumatische Reaktion der Eltern angesichts der „Besonderheit“ ihres Neugeborenen verhindern. Pasterski unternahm damit einerseits den anerkennenswerten Versuch, das Umfeld von Kindern mit Intersexualität mit einzubeziehen; andererseits erweiterte sie auf diese Weise jedoch auch den Kreis der zu behandelnden „PatientenInnen“. Wisniewski präsentierte anschließend eine Übersicht über bisherige Studien zu geschlechtstypischem Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit DSD. Allerdings waren diese Studien sämtlich vor geraumer Zeit veröffentlicht und in der Fachwelt lange bekannt, so dass die im Abstract angekündigten „Schlüsse“ hinter den Erwartungen zurückblieben. Sandberg appellierte für eine Integration psychosozialer Faktoren bei der Zusammenarbeit von BehandlerInnen unterschiedlicher Disziplinen und kritisierte die vielerorts multidisziplinär statt interdisziplinär praktizierte Kooperation verschiedener Fachrichtungen. In multidisziplinären Teams werde parallel am selben Fall gearbeitet, doch ohne Abstimmung, so dass eine echte Zusammenarbeit in vielen Fällen nicht gegeben sei. Teams müssten vielmehr interdisziplinär und kollaborativ agieren und beispielsweise gemeinsame Behandlungspläne in Abstimmung mit den PatientInnen erstellen. Raza schließlich machte die ZuhörerInnenschaft auf die Herausforderungen der Behandlungen in Pakistan aufmerksam und vermittelte eindrucksvoll die kulturellen Unterschiede im Umgang mit intersexuellen Menschen.
Ähnliches galt für Annastasia Ediati (Faculty of Psychology, Diponegoro University, Indonesien), die am zweiten Tag ebenfalls zahlreiche Unterschiede zu den bekannten Forschungsergebnissen aufzeigte, welche überwiegend aus dem westlichen Kulturraum stammen. Ediatis Resultate gewinnen insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Kontroverse um Genitaloperationen bei Personen mit Adrenogenitalem Syndrom (AGS) an Bedeutung. So referierte sie Zahlen von unbehandelten Personen mit AGS und 46,XX-Karyotyp, die sich dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlten und einen Geschlechtswechsel von Frau zu Mann anstrebten. Dies steht im Gegensatz zur Stellungnahme des Deutschen Ethikrats von 2012, in welcher die Geschlechtszuweisung bei AGS und 46,XX-Karyotyp zum weiblichen Geschlecht klar empfohlen wird und Genitaloperationen zur Angleichung an ein weibliches Genitale (z. B. Klitorisreduktion, Vaginalplastik) im Kindesalter nicht ausgeschlossen werden. Davon, dass frühkindliche Operationen dem Wohle der Menschen mit AGS dienten, zeigte sich Gabriele Jergl-Corkin, Oberärztin der Sektion Kinderchirurgie am Universitätsklinikum Ulm, überzeugt. Ungeachtet des vorangegangenen Vortrags oder der in Deutschland bekannten Kritik eines Teils der Betroffenen sowie kritischer WissenschaftlerInnen fanden sich auf ihren Folien Schlagsätze wie „There is no reason why children with CAH should have genitals that look any different from those of other female children“ (Hervorh. i.O.). In ihrer uneingeschränkten Befürwortung genitaler Operationen im Kleinkindalter warb sie für die in Ulm entwickelte chirurgische Operationstechnik mit „besten Ergebnissen“ und dem Nebensatz, „nur glückliche Eltern“ zu erleben. Diese Ausführungen ließen Assoziationen zu einem in der Vergangenheit vorherrschenden Behandlungsparadigma wach werden, welches u. a. durch die falsche Annahme, mit einem eindeutig erscheinenden Genitale könne ein intersexueller Mensch zu einem Jungen oder Mädchen gemacht werden, erhebliches Leid produzierte. Dass Jergl-Corkin sich selbst als neue Befürworterin eines Behandlungsparadigmas der „optimal gender policy“ sieht, mag bezweifelt werden. Jedoch erscheint die Wortwahl in Anbetracht des in Deutschland in den vergangenen Jahren etablierten Diskurses und des geforderten sensibilisierten Umgangs mit Betroffenen zumindest irritierend.
Die im Laufe des Kongresses von anwesenden Betroffenen und kritischen WissenschaftlerInnen geäußerte Kritik an den vortragenden Fachleuten zeigte deutlich, dass ein lediglich symbolisches Bemühen um die Wahrung der Betroffeneninteressen nicht ausreicht. Besondere Empörung löste ausgerechnet der ebenfalls für den Veranstaltungsauftakt geplante Vortrag Berenice Mendoncas von der medizinischen Fakultät der Universität São Paulo über „The approach to the affected child and family“ aus. Obwohl der Beitrag zu den wenigen mit psychosozialem Inhalt zählte, behielt er einen krankheitsorientierten Zugang wie entsprechendes Vokabular bei und ließ einen sensibilisierten Umgang im psychosozialen Forschungsfeld anzweifeln. Eine deutsche Expertin in eigener Sache äußerte ihre Kritik im Plenum deutlich: Der Beitrag sei für Betroffene ein Schlag ins Gesicht und stehe im krassen Kontrast zu den zuvor in einer Support Group Session angesprochenen Anliegen.
In der Entscheidung, die Tagung durch eine Interessensvertreterin von Eltern betroffener Kinder eröffnen zu lassen, zeigte sich ein Bemühen der Veranstalter um das Wohlwollen derselben. Das direkte Wort blieb den Betroffenen jedoch verwehrt. Forschung und Behandlungspraxis müssen sich – aufgrund früherer Fehler und heute weiterhin bestehender Kontroversen hinsichtlich einer adäquaten Behandlung (u. a. auch wegen fehlender evidenz-basierter Studien) – vor den Betroffenen verantworten wie in kaum einer anderen klinischen Disziplin. So war bereits vor Tagungsbeginn die Nichtbeteiligung Betroffener in einem offenen Brief der Menschenrechtsgruppe „Zwischengeschlecht.org“ kritisiert worden, die ihrem Protest gegen medizinische Eingriffe ohne Einwilligung bei intersexuellen Personen auch vor dem Veranstaltungsgebäude mit Transparenten und Informationsmaterial Ausdruck verlieh. Auf der Tagung wurde Betroffenen (wohl erst auf deren Initiative im Nachhinein) in einer parallel zu den Hauptvorträgen stattfindenden „Support Group Session“ die Möglichkeit zu eigenen Beiträgen gegeben. Welche geladenen VertreterInnen teilnahmen und welches die konkreten Inhalte der Veranstaltung waren, erfuhren die Autorinnen wie wohl der Großteil der an der (Haupt-)Tagung teilnehmenden WissenschaftlerInnen leider nicht. In einem späteren Wortbeitrag wurde lediglich beiläufig erwähnt, dass sensibilisierte Sprache und Kommunikation – also die von Magritte („understanding“) und Hiort („communication“) anfangs geforderten Prioritäten – abseits der (Haupt-)Tagung die Themen der „Support Group Session“ gewesen seien.
Das Sprechen und die Bedeutung von Sprache an sich sind für den Diskurs um Intersexualität nicht zu unterschätzen. Dass die Verantwortlichen, zu einem sensibilisierten Umgang aufgefordert, in bester Absicht mit der Einrichtung eines Extra-Panels für Betroffene reagierten, hatte einen segregierenden Nebeneffekt. Die von allen Tagungsbeteiligten vielfach betonte Kommunikation sowohl unter FachexpertInnen als auch mit Betroffenen und ihren Angehörigen wurde zu einem (ab)gesonderten Anliegen, welchem die Rückkopplung zur Gesamttagung fehlte. Intersexualität mit einer adäquaten Sprache zu begegnen, die Sprechen und Handeln gleichermaßen umfasst, gilt es daher als Priorität zu erkennen und zu verfolgen.