McQueen MM et al.
The Estimated Sensitivity and Specificity of Compartment Pressure Monitoring for Acute
Compartment Syndrome.
J Bone Joint Surg Am 2013;
95: 673-677
Zur Diagnostik und Therapieentscheidung beim akuten Kompartmentsyndrom ist die klinische
Beurteilung etabliert. Inwieweit eine apparative Kompartmentdruckmessung zur Verifizierung
beitragen kann, ist bisher offen. Die Edinburgher Arbeitsgruppe um M.M. McQueen hat
die Sensitivität und Spezifität der kontinuierlichen Druckmessung untersucht.
McQueen MM et al. The Estimated Sensitivity and Specificity of Compartment Pressure
Monitoring for Acute Compartment Syndrome. J Bone Joint Surg Am 2013; 95: 673–677
Methodik
Hinsichtlich der Diagnostik des akuten Kompartmentsyndroms (KS) war die Grundlage
der Studie die retrospektive Untersuchung von Patienten mit diaphysärer Tibiafraktur
in einem Zeitraum von 10 Jahren (1998–2007). Zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme
wurde allen beteiligten Patienten mit Tibiaschaftfraktur eine Messsonde in das vordere
Unterschenkelkompartiment eingelegt und eine kontinuierliche Messung bis 24 Stunden
durchgeführt. Im Rahmen dieses Messverfahrens wurde als Perfusionsdruck die Differenz
zwischen diastolischem Blutdruck und gemessenem Gewebedruck bestimmt und mit 30 mmHg
die Schwelle zur Diagnosestellung des akuten KS definiert. Anhand der Messungen und
der klinischen Befunde wurde die Indikation zur Fasziotomie gestellt. Das Vorhandensein
eines akuten KS wurde intraoperativ durch das Herausquellen der Muskulatur nach Fasziotomie
mit Muskelentfärbung bzw. Nekrose (fehlende Muskelkontrakturen nach Punktion, fehlende
Blutung) definiert. Ein nicht vorhandenes KS wurde bei fehlenden neurologischen Auffälligkeiten
oder klinischer Symptomatik zum Abschluss des Nachbeobachtungszeitraumes (durchschnittlich
59 Wochen) definiert.
Ergebnisse
Die Autoren behandelten insgesamt 1184 Patienten mit Tibiaschaftfraktur. Bei 979 Patienten
erfolgte das beschriebene Monitoring gemäß Kompartmentdruckmessung. 129 Patienten
wurden aus der Studie ausgeschlossen, sodass insgesamt 850 Patienten untersucht werden
konnten. Von dieser Untersuchungsgruppe wurden 152 Patienten fasziotomiert (17,9 %).
Folgende 6 Gruppen wurden hierbei insgesamt eingeteilt:
152 Patienten mit Fasziotomie:
-
korrekt positive Gruppe (141 Patienten) = pathologisch erhöhte Druckmesswerte plus
intraoperative Bestätigung des KS
-
falsch positive Gruppe (6 Patienten) = pathologisch erhöhte Druckmesswerte, intraoperativ
unauffälliger Befund
-
falsch negative Gruppe (5 Patienten) = unauffällige Druckmessung, aber OP, da klinische
Symptomatik und intraoperativ Bestätigung des KS
698 Patienten ohne Fasziotomie:
-
korrekt negative Gruppe (689 Patienten) = unauffällige Druckmessung und langfristig
keine klinische Symptomatik im Beobachtungszeitraum
-
falsch negative Gruppe (4 Patienten) = unauffällige Druckmessung, klinischneurologische
Befunde im Beobachtungszeitraum zurückzuführen auf KS
-
falsch positive Gruppe (5 Patienten) = pathologisch erhöhte Druckmesswerte, aber keine
operative Fasziotomie bei klinisch unauffälligem Primärbefund und langfristig fehlender
klinischer Symptomatik im Beobachtungszeitraum
Aus dieser Gruppenzusammenstellung lassen sich die Sensitivität (94 %) und Spezifität
(98 %) der Kompartmentdruckmessungen berechnen.
Die Autoren empfehlen anhand der ermittelten hohen Sensitivität und Spezifität der
Kompartmentdruckmessung-eine kontinuierliche Messung bei allen Patienten mit kompartmentgefährdeten
Tibiafrakturen. Im Zweifelsfall würde die Empfehlung zur Fasziotomie bestehen, da
eine kalkulierbare geringe Morbidität im Rahmen des Fasziotomieeingriffs weniger einschränkend
erscheint als die Folgen eines übersehenen KS. Als kritische Prüfung des Artikels
ist in der gleichen Ausgabe des J Bone Joint Surg Am ein Kommentar von A.H. Schmidt
publiziert, der die Erfahrungen der Edinburgher Arbeitsgruppe würdigt. Kritisch hinterfragt
wird die Einschätzung des fehlenden Kompartmentsyndroms, wenn nach 48 Stunden ein
vollständiger Faszienverschluss wieder möglich ist. Dieser Bereich fällt in die Grauzone
des "Präkompartmentsyndroms". Ein kurzfristig möglicher Faszienverschluss spricht
nicht automatisch für eine falsche Indikationsstellung zur primären Fasziotomie. Die
beschriebene neurologische Auffälligkeit müsse nicht zwangsläufig die Folge eines
akuten KS sein, direkte myoneurale unfallbedingte Schäden seien ursächlich möglich.
Weiterhin schätzt A.H. Schmidt den Anteil der Fasziotiomierate in der Untersuchungsgruppe
(17,9 %) als unerwartet hoch ein.
Kommentar
Der Leser wünscht sich die Darstellung der konkreten Messmethodik, um somit eigene
in Deutschland praktizierte Meßmethoden mit den Edinburgher Erfahrungen vergleichen
zu können. Stattdessen wird man auf vorausgegangene Artikel von 1990 und 1996 verwiesen.
Insgesamt konnten konkrete klinische Angaben erbracht werden. Im Einklang mit dem
Kommentar von A.H. Schmidt besteht weiterhin keine "absolute Pflicht" zur einmaligen
oder kontinuierlichen Kompartmentdruckmessung. Der behandelnde Chirurg muss in jedem
Einzelfall mögliche Risiken einer "Überbehandlung" gegen die Konsequenzen eines übersehenen
KS abwägen. Dahingehend kann die Nutzung eines Messverfahrens sehr hilfreich sein.