Klin Padiatr 2013; 225(05): 243-244
DOI: 10.1055/s-0033-1354377
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neonatales Drogenentzugssyndrom – Wandel der Therapieoptionen?

Neonatal Abstinence Syndrome – Change in Therapy Options?
L. Gortner
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Ludwig Gortner
Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie
Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin
Universitätsklinikum des Saarlandes
Gebäude 9
66421 Homburg/Saar

Publication History

Publication Date:
10 September 2013 (online)

 

Das neonatale Drogenentzugssyndrom ist definiert als eine Kombination von physiologischen Zeichen sowie Verhaltensauffälligkeiten des Neugeborenen, die Konsequenzen einer Drogenexposition im Mutterleib sind [5]. Die zitierte Arbeit wurde international als Grundlage zur Beurteilung der Therapienotwendigkeit des neonatalen Drogenentzugssyndroms herangezogen und ging als „Finnegan-Score“ in die Literatur ein. Die seinerzeit empfohlenen Therapiegrundlagen wurden in den Folgejahrzehnten immer weiter adaptiert und mündeten in Empfehlungen, die aus der primär stationären Therapie auch eine Öffnung in ambulante Therapieoptionen einschlossen [1] [8].

Aus den USA wurde unter dem Aspekt der medikoökonomischen Konsequenzen eine aktuelle Analyse publiziert, die einen signifikanten Anstieg der Rate von behandlungsbedürftigen Neugeborenen mit neonatalem Entzugs-Syndrom von 1,2/1 000 in 2000 auf 3,4/1 000 in 2009 nachwies, der steigende Trend war statistisch signifikant. Die Autoren berichten weiter, dass Neugeborene mit Drogenentzugssymptomatik ein erhöhtes Risiko eines gestörten intrauterinen Wachstums und einer beeinträchtigten postnatalen respiratorischen Adaptation zeigen. Entsprechend der Zunahme der Häufigkeit Neugeborener mit neonatalem Drogenentzugssyndrom mit komplexeren klinischen Zeichen wurden die Kosten in dem Beobachtungszeitraum mit einer Steigerung von rund 40 000 $ pro Fall im Jahr 2000 auf rund 53 000 $ pro Fall im Jahr 2009 kalkuliert, wobei im Wesentlichen die Abrechnung über Medicaid – in 2009 zu rund 78% – erfolgte [15].

Neben der gesamtgesellschaftlichen Betrachtung des Problems unter medikoökonomischen Aspekten ist naturgemäß die Frage nach der optimalen Therapie für betroffene Neugeborene ein Schwerpunkt der Forschung. Hierbei ist neben den Behandlungsdaten während der Neonatalperiode naturgemäß die Langzeitprognose in Abhängigkeit von mütterlicher und neonataler ­Therapie der Schwerpunkt von Forschungsprogrammen zum neonatalen Drogenentzugssyndrom [3] [11] [12] [17].

Sorgfältig durchgeführte Metaanalysen belegen, dass zum einen die intrauterine Wachstumsstörung während der ersten 3 Lebensjahre aufgeholt wird, zum anderen zeigt sich bei Entwicklungstests im Alter von 18 Monaten bis 3 Jahren ­durchgängig eine Einschränkung der kognitiven ­Entwicklung sowie verschiedener sozialer Maturationsmarker [11]. Ein Vergleich von Literaturdaten von Neugeborenen nach prä- und postnataler Opioidexposition mit Entzugssymptomatik im Vergleich zu pränataler Exposition gegenüber Kokain und Crack-Substanzen zeigt nach neueren Analysen eine geringere Beeinträchtigung nach Exposition gegenüber den letztgenannten Substanzen, was im Widerspruch zur bis dahin geltenden wissenschaftlichen Meinung zu sehen ist [3]. Zur endgültigen Wertung sind hier zusätzliche vergleichende klinische Studien unabdingbar.

Weitere Forschungen gingen dahin, bei pränataler Exposition gegenüber Methadon im Vergleich zu Buprenorphin Unterschiede in der neonatalen Prognose zu erarbeiten. Es konnte übereinstimmend belegt werden, dass der Einsatz von Buprenorphin im Vergleich zu Methadon zu geringeren postnatalen Raten und Schweregraden der neonatalen Entzugssymptomatik führt [6].

Andere Untersuchungen adressierten die Frage, inwieweit eine offene stationäre Behandlung, d. h. ein früher Übergang in eine ambulante Therapie betroffener Neugeborener, sowie die Möglichkeit einer Muttermilchernährung unter neonatalem Drogenentzug und bestehender Abhängigkeit der Mütter möglich ist.

Hierzu werden 2 aktuelle Studien in der gegenwärtigen Ausgabe der Klinischen Pädiatrie vorgelegt, die unter anderem diese Fragen adressieren [10] [16].

In der Kölner Studie konnte belegt werden, dass Neugeborene im sog. Rooming-in-Verfahren im Rahmen einer Therapie der neonatalen Drogenentzugssymptomatik mit Tinctura opii behandelt werden können und dass dies mit kürzeren Verweildauern in der Klinik einhergeht [10]. Weiter konnte gezeigt werden, dass die kumulativen Dosen von Morphin bei Komedikation, unter anderem mit Barbituraten und Chloralhydrat, geringer gehalten werden können [16]. Auf Besonderheiten in der pflegerischen Versorgung unter Einschluss von NIDCAP-Elementen [4] in der letztgenannten Arbeit ist zu achten [16].

Beide Untersuchungen führen hin zur Frage, inwieweit weitere Modifikationen unserer Therapien in der Lage sind, die Gesamtprognose Neugeborener mit neonataler Drogenentzugssymptomatik zu verbessern. Hier fehlt es an systematischen, klinisch-kontrollierten Studien mit langfristiger ­Beobachtung der Probanden bis hin in das Schulkindesalter, um neben der Gesamtentwicklung auch die später auftauchenden Teilleistungsschwächen und Verhaltensbesonderheiten miterfassen zu können. Dies gilt für in der Literatur auftauchende Empfehlungen wie Stillen beim gleichzeitigen Drogenentzug von Müttern unter Methadon oder Buprenorphin [14] und für die Einführung neuerer Substanzen in der medikamentösen Therapie des Drogenentzugs, wie z. B. Clonidin. Weitere Forschungsschwerpunkte ­sollten hierbei auf der Basis unter anderem von familienzen­trierten Programmen, ggf. ergänzt durch eine häuslich aufsuchende Nachsorge, liegen [9].

Ähnliche Programme wurden für Kinder mit fetalem Alkoholsyndrom [2] oder in Nachsorgeuntersuchungen bei sehr kleinen Frühgeborenen etabliert [13].

Somit stellt die Problematik des neonatalen Drogenentzugssyndroms eine unverändert dringende medizinische sowie gesellschaftliche Aufgabe dar, bei der es notwendig ist, prospektive Untersuchungen in der perinatalen Periode mit einer langfristigen Analyse der Entwicklung betroffener Kinder zu kombinieren, um einerseits bessere Konzepte für die Akuttherapie zu entwickeln, andererseits deren Wirksamkeit im Rahmen einer langfristigen Nachbeobachtung zu belegen [7].



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Prof. Dr. Ludwig Gortner
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Universitätsklinikum des Saarlandes
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66421 Homburg/Saar