Z Orthop Unfall 2013; 151(03): 214-216
DOI: 10.1055/s-0033-1348149
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Rückenschmerzen: "Versorgung heute vielerorts auf gutem Weg"

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Publikationsdatum:
14. Juni 2013 (online)

 

    Der Soziologie Prof. Thomas Kohlmann ist seit 2002 Lehrstuhlinhaber am Institut für Community Medicine der Universität Greifswald. Der gebürtige Karlsruher (Jahrgang 1953) ist Spezialist für die Epidemiologie und Versorgungsforschung von muskuloskelettalen Erkrankungen, vor allem der Wirbelsäule. Von 1990–2002 war er Mitarbeiter unter Heiner Raspe am Institut für Sozialmedizin an der Universität Lübeck.

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    Einer der Referenten auf der diesjährigen VSOU-Jahrestagung war Prof. Thomas Kohlmann von der Uni Greifswald. Hier erklärt er, was er von der aktuellen Versorgungslage zu Rückenschmerzen hält und warum er einen neuen Vorschlag für das bundesdeutsche Fernsehprogramm hat.

    ? Was macht ein Soziologe auf einer Tagung von Orthopäden und Unfallchirurgen wie jetzt in Baden-Baden?

    Ich schätze Orthopäden und Unfallchirurgen durchaus. Diejenigen, mit denen ich zu tun habe, haben sich immer offen gezeigt, wenn es um Fragen geht, die berufsund fachpolitisch gelegentlich ein wenig delikat sind.

    ? Was meinen Sie?

    Nehmen Sie die Frage des unspezifischen Rückenschmerzes. Da gibt es in der Literatur und bei einigen Fachleuten die Annahme, dass sich bei 60–80 % der Rückenschmerzen keine spezifische Ursache findet, auch wenn man die Patienten genauer untersucht. Von Orthopäden wird dagegen mitunter ins Feld geführt, dass diese Zahl zu hoch gegriffen sei – dass es vielleicht gar keine unspezifischen Rückenschmerzen gibt, sondern dass diese Fälle nur nicht gut genug diagnostiziert werden.

    ? Und wie sehen Sie das?

    Zunächst mal bin ich kein Mediziner, ich kann nur auf den Stand der Evidenz schauen, wie alle anderen auch. Und auch ich gehe deshalb davon aus, dass es bei der Mehrzahl der Patienten, die mit akuten Rückenschmerzen zu einem Hausarzt oder Orthopäden kommen, keinen Sinn hat, frühzeitig mit womöglich gar invasiven diagnostischen Methoden nach einer Ursache zu suchen.

    ? So steht es auch in der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz.

    Sie hält das sehr gut fest, ja. Ein sehr großer Teil von Rückenschmerzepisoden ist nach zwei, drei, spätestens vier Wochen von selber wieder verschwunden. Daher steht in der Leitlinie klipp und klar drin – so lange keine roten Flaggen zu erkennen sind, bleibt eine zentrale Therapiemaßnahme die Versicherung an den Patienten, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit nichts Gravierendes hat und dass er sich bestmöglich einfach weiter bewegen soll. Wenn Sie als Arzt stattdessen hingehen und sagen, oh, da müssen wir ein Röntgenbild machen und genauer schauen, dann kann es durchaus sein, dass Sie damit mehr schaden als nützen.

    ? Und in dem Punkt herrscht heute bei Orthopäden und Allgemeinmedizinern Einigkeit?

    Da gibt es natürlich Interpretationsspielräume. Der Bertelsmann Gesundheitsmonitor aus dem Jahr 2009 hat Patienten, die zum Arzt wegen Rückenschmerzen gingen, nach der Diagnostik und Therapie befragt. Und von denen, die beim Orthopäden waren, hat 71 % Diagnostik mit bildgebenden Verfahren bekommen. Bei den Allgemeinmedizinern war es 42 %.

    ? Also noch ein erkleckliches Versorgungsproblem?

    Das ist für mich eine Praxisvariation, hinter die man ein Fragezeichen setzen sollte. Ganz klar, Orthopäde und Allgemeinmediziner sollten nach Leitlinie agieren. Genauere Zahlen, wie viele Ärzte sich danach richten, haben wir leider nicht. Ich muss sagen, dass auch der oben erwähnte Bertelsmann-Monitor nur kleine Fallzahlen hatte.

    ? Ein paar Zahlen zu Rückenschmerzen bitte. Wie viele Tage der Arbeitsunfähigkeit gehen derzeit auf die Diagnose Rückenschmerzen zurück?

    Rund zwei Tage im Jahr bei jedem gesetzlich Versicherten hierzulande.

    ? Und wie viele Menschen leiden aktuell an Rückenschmerzen?

    Die Punktprävalenz ist 30 %. Wenn Sie heute auf der Straße Erwachsene im Alter zwischen 18 und 74 Jahren fragen, wird jeder Dritte sagen, dass er Rückenschmerzen hat. Die Lebenszeitprävalenz ist ungleich höher, bei 80 %.

    ? Anders gesagt, nur jeder Fünfte hat nie Rückenschmerzen im Leben?

    Ja. Und das ist eigentlich die Gruppe, die uns besonders interessieren sollte. Von ihr könnte man lernen, welche Prävention wirklich gut ist. Solche Untersuchungen fehlen uns.

    ? Bis dahin hilft vielleicht der Ländervergleich? Ein aktuelles Heft der Gesundheitsberichterstattung (GBE) des Bundes zu Rückenschmerzen nennt Zahlen, nach denen Rückenschmerzen in Holland weniger Probleme machen als hierzulande. Dort nahmen nach einer Studie 81 % aller Patienten, die aufgrund von Rückenschmerzen ein Vierteljahr arbeitsunfähig war, ihre Arbeit in den folgenden zwei Jahren grundsätzlich wieder auf. In Deutschland hingegen nur 54 %. Holland macht es besser.

    Das kann man so natürlich nicht vergleichen. Wie schnell und ob und wie man wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt, hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Dazu gehören die Behandlungsmöglichkeiten, die in Holland kaum besser sind als bei uns. Dann gibt es die sozialrechtliche Seite. Und es könnten auch methodische Verzerrungen hinter solchen Unterschieden stecken. Auch bei uns schwanken die Diagnoseraten im Laufe der Jahre – und das hat überwiegend keine medizinischen Ursachen.

    ? Wieso?

    Die umfassendste Statistik zu Arbeitsunfähigkeitszeiten ist die der AOK. Danach hat die Diagnose Rückenschmerzen als Grund für Arbeitsunfähigkeit von 1995–2000 leicht zugenommen und ist seither wieder rückläufig (‣ Abb. [ 1 ]). Eine Ursache dafür sind Variationen bei den, ich sage mal, Lieblingsdiagnosen der Ärzte. Etwas, was früher mal als vegetative Dystonie behandelt wurde, ist später zum Rückenschmerzsyndrom geworden. Wir wissen auch, dass die Arbeitslosenquote und Krankschreibungen wegen Rückenschmerzen immer eine leicht gegenläufige Bewegung zeigen.

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    Abb. 1 Arbeitsunfähigkeitszeiten: Statistik der AOK.

    ? "Über den Verlauf von Rückenschmerzen wissen wir in Deutschland gegenwärtig so gut wie gar nichts", haben Sie noch 2001 gesagt. Sehen Sie das immer noch so?

    Nein, die Lage ist heute viel besser. Auch unsere damals gestartete epidemiologische Längsschnittstudie, die im Deutschen Forschungsverbund für Rückenschmerz durchgeführt worden ist, hat dazu ja Zahlen geliefert.

    ? Und?

    Wir sehen drei Gruppen von Betroffenen. Zum einen die, die mit leichten bis mittelgradigen Schmerzen in das Beobachtungsgeschehen hineingehen. Die haben sehr gute Karten, dass das auch so bleibt. Bei leichten bis mittelgradigen Rückenschmerzen, die beim niedergelassenen Orthopäden oder Allgemeinmediziner in Behandlung sind, haben wir meiner Meinung nach heute, anders als noch vor zehn Jahren, eine relativ gute Versorgungssituation. Es gibt ausreichend Behandler und gute Leitlinien in diesem Bereich. Da denke ich, sind wir auf einem guten Weg.
    Auf der anderen Seite gibt es Patienten, die einen sehr hohen Schweregrad haben und bei denen ist die Wahrscheinlichkeit, dass das so bleibt, leider nicht gering. Von denen, die mit schweren Rückenschmerzen in die Beobachtungsphase hineingehen, bleiben etwa 50 % auf diesem Niveau stehen. Die meiste Bewegung spielt sich aber in der Mitte ab, bei denen, die mit moderaten Schmerzen in das Beobachtungsgeschehen hineinkommen, da stellt sich besonders die Frage …

    ? …welche Behandlung sinnvoll ist?

    Ja. Zunächst einmal. Und ich halte es schon mal für sehr positiv, möchte ich noch betonen, dass sich die unterschiedlichen Schweregrade vergleichsweise rational verhalten, was die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen betrifft.

    ? Was meinen Sie?

    Aus der Gruppe, die nur geringe Schweregrade angibt, gehen auch nur höchstens 20 % überhaupt zum Arzt. Aus der Gruppe mit dem höchsten Schweregrad hingegen 80 %. Der Schweregrad erhöht also die Wahrscheinlichkeit, dass man den Weg in die medizinische Versorgung wählt – was absolut sinnvoll ist.
    Allerdings landen Patienten aller Schweregrade gleichermaßen bei Allgemeinmedizinern und Orthopäden. Beide Gruppen teilen sich die Versorgungslast. 40 % der Patienten sind beim Allgemeinmediziner, weitere 40 % beim Orthopäden und die restlichen 20 sind bei anderen Ärzten.

    ? Und was haben wir von dieser Erkenntnis für die Versorgungsoptimierung?

    Die Frage bleibt, ob wir bei der großen Zahl an Patienten, die einen niedrigen Schweregrad hat, nicht versuchen sollten, genauer zu steuern.

    ? Sie meinen, diese Gruppe könnte vorrangig beim Allgemeinmediziner versorgt werden?

    Zumindest sollte auch der Orthopäde, wenn solche Patienten sich bei ihm vorstellen, in der ersten Zeit nur sehr zurückhaltend agieren.
    Vor allem aber haben wir in der Gruppe mittlerer Belastung auch gesehen, dass sie deutlich öfter von Problemen, von Stress am Arbeitsplatz berichtet, dass sie sich durch Vorgesetzte und Kollegen nicht gut unterstützt fühlt. Hier sind offenkundig überproportional viele Menschen, die das Leben eher Grau in Grau sehen. Es geht also insbesondere um Faktoren, die psychosozial bedingt sind. Und da sehe ich Defizite in der Versorgung.

    ? Welche?

    Bei diesen Patienten wird von der Nationalen Leitlinie eine zusätzliche psychologische Beratung als wichtig und sinnvoll empfohlen. Das aber lässt sich oft mangels Therapeuten derzeit gar nicht realisieren. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie hat 400 Mitglieder. Wenn wir diese gleichmäßig auf einer Deutschlandkarte verteilten, dann sind das relativ wenige Punkte, einfach zu wenige – zumal die meisten in Ballungsräumen sind. Hier auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern müssten Sie eventuell lange unterwegs sein, bis Sie einen Spezialisten finden.

    ? Müssen es wirklich gerade solche Spezialisten sein?

    Es gibt Problemfelder für Schmerzkrankheiten, die ganz sicher mehr spezialisierte Psychotherapie erfordern.

    ? Die von Ihnen skizzierte Mangelversorgung kontrastiert auf der anderen Seite mit einem deutlichen Anstieg bei der Zahl der Wirbelsäulenoperationen, den auch die Fachgesellschaft DGOOC mit Sorge beobachtet. Sehen Sie auch da womöglich finanzielle Fehlanreize?

    Ich bin da ein bisschen vorsichtig, denn die Statistik der operativen Eingriffe steigt insgesamt in den letzten Jahren an, nicht nur bei den Wirbelsäulenoperationen. Es wird, plakativ gesagt, eher generell zu viel gestochen und geschnitten.

    ? Was tun?

    Grundsätzlich finde ich es sehr sinnvoll, wenn sich Ärzte auch zur Behandlung von Rückenschmerzen zu Ärztenetzen mit klar strukturierten Behandlungswegen zusammenschließen. Das Lübecker Ärztenetz ist ein gutes Modell. Ich verspreche mir auf diese Weise eine Rationalisierung der Behandlung und eine Verminderung von Schnittstellenproblemen in der schmerztherapeutischen Versorgung insgesamt. Auch Modelle zur integrierten Versorgung bei Rückenschmerz sind ein guter Ansatzpunkt.

    ? Die Anschubfinanzierung dafür ist abgeschafft …

    Klar, aber gerade bei Rückenschmerzen führen ja einige große Krankenkassen wie AOK, TK, die Programme weiter. Ich fordere solche Selektivverträge von allen Kassen. Beim Inhalt der Programme brauchen wir auch keinen Wettbewerb mehr. Wenn wir jetzt sehen, dass bestimmte Konzepte zur integrierten Versorgung gut sind, sollten deren Inhalte allen Kassen zu Verfügung stehen, damit die ebenfalls danach eigene Programme auf den Weg bringen.

    ? Gibt es eigentlich belastbare Daten für Prävention? Oder ist dieses "Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz" nur gutes Marketing?

    Da ist die Evidenzlage nicht ganz klar. Aber alles, was man aus anderen Bereichen der Gesundheitsförderung auch kennt, ist, dass Bewegung gleich welcher Art für den Rücken gut ist.

    ? Was ist mit Rückenschule?

    Das ist zwiespältig. Früher war Rückenschule, dass man gesagt hat, wenn du einen Kasten Mineralwasser vom Boden in das Auto hievst, dann geh unbedingt in die Hocke. Oder wenn du bügelst, musst du das Kreuz durchdrücken. Es hat sich gezeigt, dass das genau das Falsche ist.

    ? Wie, also den Kasten Sprudel gleich mit einem einzigen großen Wupp mit Schwung in den Kofferraum?

    Nein, machen Sie es so, wie es für Sie am besten geht. Es hat sich gezeigt, dass man mit Ratschlägen "Vermeide dies, tue das" den Menschen nur Angst macht. Rückenschule nach dem altmodischen Prinzip von Gesundheitserziehung bringt nichts. In Australien gab es da ein viel besseres Programm zur Prävention.

    ? Welches?

    Der Bundesstaat Victoria hat ab 1997 für einige Jahre und für relativ viel Geld, umgerechnet etwa 5 Mio. Euro, zur Primetime Werbespots im Fernsehen geschaltet. Die waren professionell gemacht und vor allem lustig. Die Kernbotschaft war: "Einfacher Rückenschmerz ist nicht dramatisch, kehre sobald wie möglich zu normalen Tätigkeiten zurück".
    Entwickelt wurde die Kampagne von einem Team um Prof. Rachelle Buchbinder von der Monash University. Sie hat parallel eine kontrollierte Studie gemacht, einen Vergleich der Einstellung zu Rückenschmerzen bei der Bevölkerung in Victoria und im Nachbarstaat New South Wales, wo die Spots nicht erschienen. Das Ergebnis war eindeutig: Die Ausfallszeiten wegen Arbeitsunfähigkeitsverschreibungen gingen in Victoria zurück. Das Programm war effektiv, auch kosteneffektiv. Das Dumme ist nur, dass es dann nicht weitergeführt worden ist.

    ? So etwas könnte man hierzulande auch auflegen?

    In der Tat. Ich habe Bertelsmann einmal vorgeschlagen, solch eine Kampagne über RTL zu fahren, der Sender gehört ja zum Konzern. Daraus wurde leider nichts, bleibt aber sehr wünschenswert.

    Das Interview führte B. Epping


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    Abb. 1 Arbeitsunfähigkeitszeiten: Statistik der AOK.