Neuroprotektion ist sicherlich in den verschiedenen neurologischen Erkrankungen
unterschiedlich zu bewerten. In der Multiplen Sklerose kann festgehalten werden,
dass sich dieses Thema erst in den Anfängen befindet.
Die Multiple Sklerose wird herkömmlich als eine entzündliche, demyelinisierende
Erkrankung des zentralen Nervensystems gesehen, in der die schubförmigen
remittierenden neurologischen Symptome aus der Beschädigung der Myelinscheide, d. h.
Entmarkung oder Demyelinisierung, entstehen. Multiple Sklerose ist die häufigste
chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems in westlichen Ländern und
führt zu einschneidenden Behinderungen bei jungen Leuten, für die die bislang zur
Verfügung stehenden therapeutischen Möglichkeiten immer noch nicht zufriedenstellend
sind. Sozioökonomisch stellt diese Erkrankung eine große Aufgabe dar. Junge Leute
erkranken in der Regel in einem Lebensabschnitt, in dem wesentliche Entscheidungen
zu Beruf und Familie anstehen. Es finden sich komplexe Bilder in der Pathologie mit
disseminierter Entzündung (mit Entmarkung, Remyelinisierung, Nervenfaser-Schädigung)
subkortikal und kortikal sowie Neurodegeneration. Remissionen nach klinischen
Schüben deuten auf eine Reparatur-Kapazität des Zentralnervensystems hin, die sehr
unterschiedlich sein kann von Patient zu Patient und im Verlauf der Erkrankung.
Trotz intensiver Forschung auf dem Gebiet in den letzten drei Jahrzehnten sind die
zugrundeliegenden molekularen Mechanismen nach wie vor nicht geklärt und es kann im
Wesentlichen keine prognostische Einschätzung des Verlaufs erfolgen.
Immunmodulatorische und -suppressive Therapien wurden parallel zu anderen
Autoimmunkrankheiten entwickelt. Jedoch unterscheidet sich die Multiple Sklerose
diesbezüglich von anderen Autoimmunkrankheiten. Die zur Verfügung stehenden
Therapien haben wenig Einfluss auf die Krankheits- und Behinderungsprogression.
Zusätzlich sind die neuen Therapien in der Multiplen Sklerose mit deutlichen Risiken
einer opportunistischen Krankheit assoziiert. Daher muss therapeutisch noch einmal
grundsätzlich an neuen Strategien gearbeitet werden.
In den letzten zehn Jahren ist klar geworden, dass neurodegenerative Mechanismen auch
eine wichtige Rolle in der Pathologie der Multiplen Sklerose spielen. Moderne
histopathologische und zunehmend auch Bildgebungsmethoden können eingesetzt werden,
um die wesentlichen neurologischen Schäden in Form von axonaler Pathologie und früh
vorkommendem neuronalen Verlust sowie transiente neuronale Schädigung experimentell
und in Ansätzen auch klinisch nachzuweisen. Diese Schäden sind besonders ausgeprägt
in den Demyelinisierungsherden, ganz gleich, in welcher Phase der Erkrankung sie
auftreten. Die axonale Pathologie, die sich aus der Schädigung der isolierenden
Funktion der Myelinscheide ergibt, ist somit am ehesten der verantwortliche
Pathomechanismus in schwer demyelinisierten Regionen. Die veränderte Verteilung und
Expression verschiedener Ionenkanäle und Transporter führt hier zu einer örtlichen
Akkumulation intrazellulären Calciums in den demyelinisierten Neuronen und damit zu
dem darauffolgenden neuronalen Zelltod. Diese Mechanismen sind noch nicht voll
verstanden. Sie scheinen ebenso eine Rolle zu spielen, wenn Neurone direkt von
T-Lymphozyten angegriffen werden, vermutlich in einem frühen Krankheitsstadium. Hier
kommt die in histopathologischen Untersuchungen festgestellte vermehrte neuronale
Pathologie nämlich nicht nur in den typischen Demyelinisierungsherden, sondern auch
in morphologisch scheinbar normaler grauer und weißer Substanz (normal-appearing
gray and white matter) vor. Diese Schädigung ist damit möglicherweise
unabhängig von der entzündlichen Demyelinisierung.
Die Schädigung von neuronalen Strukturen hat, wie wir aus der Kernspintomografie
wissen, eine viel größere Bedeutung für die tatsächliche Behinderung der jungen
Patienten, als dies die Einwanderung der Entzündungszellen mit Angriff zunächst auf
die Markscheiden hat. Es gibt mittlerweile zwei Arbeitsgruppen, die gezeigt haben,
dass die erste Phase der Erkrankung bis zu einer sichtbaren Behinderung
offensichtlich sehr variabel hinsichtlich der Schübe und der zeitlichen Ausdehnung
verlaufen kann. Wenn eine sichtbare Behinderung (EDSS 3–4) erreicht ist, dann
scheint die Progression der Behinderung sehr stereotyp zu verlaufen unabhängig von
Schüben. Auf der Basis dieser Beobachtungen, kernspintomographischer Untersuchungen
und experimenteller Hinweise muss man davon ausgehen, dass neuroprotektive Therapien
am besten früh eingesetzt werden sollten und mit antientzündlichen Therapieansätzen
synergistische Wirkung entfalten könnten. Zu einem späteren Zeitpunkt in der
Erkrankung sind möglicherweise nur noch Medikamente mit Reparaturpotenzial sinnvoll.
Ob wir an dieser Stelle noch etwas mit neuroprotektiven Strategien erreichen können,
werden klinische Therapie-Studien in den nächsten Jahren zeigen.
Die bislang wenigen neuroprotektiven und neuroregenerativen Studien, die an Patienten
mit Multipler Sklerose durchgeführt wurden, sind methodologisch sicherlich nicht
ausreichend gut konzipiert gewesen, um klar Wirkprinzipien zu be- oder widerlegen.
Die neuen Therapien, die sich in der späten Phase III oder im Zulassungsverfahren
befinden, wie z. B. Alemtuzumab, Sphingosin-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren oder
Fumurat, weisen hauptsächlich antientzündliche Wirkmechanismen auf. Experimentelle,
klinische und Bildgebungsdaten deuten jedoch darauf hin, dass sowohl bereits
zugelassene als auch die neu entwickelten Substanzen potentiell auch protektive oder
möglicherweise auch reparative Eigenschaften haben könnten, die über eine reine
Entzündungshemmung hinausgehen. Durch die Untersuchung dieser Wirkmechanismen und
ebenso durch unsere experimentellen und klinischen Untersuchungen können wir
möglicherweise ganz neue Erkenntnisse zur Pathologie und damit besseren Behandlung
dieser chronisch-autoimmunen Erkrankung, den Schädigungsmechanismen und ihrer
Blockade sowie Reparaturmöglichkeiten gewinnen.