Psychiatr Prax 2013; 40(05): 246-247
DOI: 10.1055/s-0033-1343214
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Recovery ist eine Illusion – Pro & Kontra

Recovery is an Illusion – Pro & Contra
Michaela Amering
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien
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Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18–20
1090 Wien

Publication History

Publication Date:
01 July 2013 (online)

 

Kontra

Recovery ist in den letzten Jahren gesundheitspolitische Orientierung für die Psychiatrie in einflussreichen englischsprachigen Ländern geworden [1]. Mit großer Ambition formuliert die USA Präsidentenkommission in diesem Zusammenhang drei Haupthindernisse für „vollen Zugang zu effektiven Behandlungen und Unterstützungen zur vollen Teilhabe am Leben in der Gemeinde“:


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  • das Stigma, das psychische Erkrankungen noch immer umgibt;

  • die weiter vorherrschenden Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlungen im Versicherungssystem;

  • das fragmentierte psychiatrische Versorgungssystem.

Von dem Ziel sind nicht nur die USA leider weit entfernt. Die genannten Hindernisse sind keineswegs überwunden. Internationale Zahlen zeigen, dass weniger als ein Viertel aller PatientInnen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen diejenigen Behandlungen erhalten, die umfassend evidenzbasierten Vorschlägen entsprechen. Die Hauptziele der Psychiatriereform – Schließung der alten Anstalten, Entwicklung gemeindenaher Versorgungssysteme, Integration von psychiatrischen Angeboten in den allgemeinen Gesundheitsbereich, Integration von sozialen und Gesundheitsleistungen – sind auch in westeuropäischen Ländern nur zum Teil umgesetzt. Die Ressourcen für die psychiatrische Versorgung weltweit sind von Knappheit, Ungerechtigkeit und Ineffizienz geprägt und die Menschenrechte von Personen mit psychiatrischen Erkrankungen und Behinderungen sind vielfältig bedroht.

Recovery mag unter diesen Bedingungen wie eine Illusion erscheinen.

Die am häufigsten zitierte Definition von Recovery ist jene von Bill Anthony aus dem Jahre 1993: „… ein zutiefst persönlicher, einzigartiger Veränderungsprozess der eigenen Überzeugungen, Werte, Gefühle, Ziele, Fertigkeiten und Rollen. So eröffnen sich Möglichkeiten, um ein befriedigendes, hoffnungsvolles und aktives Leben zu führen, und zwar auch mit den von der Erkrankung verursachten Einschränkungen. Während man über die katastrophalen Auswirkungen der psychischen Erkrankung hinauswächst, gewinnt das Leben eine neue Bedeutung, kann man einen neuen Sinn entwickeln.“

Seltener zitiert wird der darauffolgende Absatz [2]:

„Recovery von psychischer Erkrankung verlangt sehr viel mehr als Recovery von der Erkrankung selbst. Personen mit psychischen Erkrankungen müssen sich häufig auch von dem Stigma erholen, das sie in ihr Selbst integriert haben; von den iatrogenen Effekten der Behandlungssituationen; vom Mangel an Gelegenheiten zur Selbstbestimmung; von den negativen Effekten von Arbeitslosigkeit; von der Zerstörung ihrer Träume. Recovery ist häufig ein komplexer und zeitaufwendiger Prozess. Recovery ist das, was Menschen mit Behinderungen tun. Behandlung, Case-Management und Rehabilitation sind Angebote, die die HelferInnen machen, um diesen Prozess zu unterstützen.“

Stigma und Diskriminierung haben für Personen mit Schizophreniediagnose in den letzten Jahrzehnten nicht ab-, sondern zugenommen. Internalisiertes Stigma zu überwinden und Stigmaresistenz zu erlangen, ist eine lebenslange Aufgabe für viele Menschen mit Schizophreniediagnose. Die medizinische Versorgung ist mangelhaft, die Lebenserwartung deutlich verringert.

Ist es Zeit einzusehen, dass die Ziele der Recovery-Bewegung illusorisch sind?

Die Datenlage zeigt, dass gegen Stigma und Diskriminierung nur dann effizient etwas erreichbar ist, wenn Personen mit Erkrankungen und Behinderungen selbst sichtbar werden und sich organisieren und als ÖffentlichkeitsarbeiterInnen, DozentInnen und SelbstvertreterInnen in politischen Gremien tätig werden. Und das tun sie, viele von ihnen im Rahmen der Recovery-Bewegung, oft gemeinsam mit Angehörigen und PsychiaterInnen [3].

Ein rezenter Erfolg der internationalen Betroffenenbewegung im Hinblick auf die Umsetzung der Rechte auf soziale Inklusion mit Teilhabe- und Solidarrechten sowie auf Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung ist die explizite Nennung von psychosozialen Behinderungen in der UN-Konvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen [4]. Die Erarbeitung der Konvention war von einer historischen Beteiligung der Zivilgesellschaft, insbesondere auch SelbstvertreterInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen geprägt [5]. Die Ratifizierung dieser Konvention durch viele nationale Regierungen, wie auch die deutsche und österreichische, leitet einen Prozess ein, der uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten beschäftigen wird. Aus Sicht der RechtsexpertInnen eröffnen sich durch die Konvention neue weite Felder von aktuellem Handlungsbedarf, wie z. B. die Wohnsituation von Menschen mit psychosozialen Behinderungen, Gesundheit und Lebensstandard, politische und kulturelle Partizipation, aber auch Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch [6].

Es ist zu wünschen, dass psychiatrisches Fachwissen und Fachmeinung eine konstruktive Rolle in dem Prozess zur Umsetzung der UN-Konvention spielen werden.

Wo aber steht unser Fach? In seiner Analyse der letzten 30 Jahre findet Stefan Priebe [7] als Hauptursache von praktischem Fortschritt politischen Gestaltungswillen, aber kaum gesicherte wissenschaftliche neue Erkenntnisse. Er fordert Engagement für die Erhaltung der Werte der Psychiatriereform und der dadurch erreichten Fortschritte und eine mutigere Forschung für Innovation und zum Verständnis von bisher als unspezifisch betrachteten Behandlungsfaktoren.

Hans Joachim Salize [8] (2012) kommentiert den „Niedergang“ der Sozialpsychiatrie im Hinblick auf „praxisrelevante und nachhaltige Antworten auf gesellschaftspolitische Kernfragen“. Er bestreitet die unerfüllten Versprechungen der Grundlagenforschung als Ursache dafür und fordert, dass sich die Sozialpsychiatrie „schnellstmöglich wieder in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang“ stellt. Er hebt in seiner Analyse die Theorielosigkeit im Bereich von Hilfen zu Wohnen, Arbeit, Freizeit- und Sozialbeziehungen, die Ungleichheit von sozialpsychiatrischer Versorgung in Deutschland, den Mangel an Evidenzbasierung, Nutzung von Innovationen aus dem In- und Ausland sowie die Versäumnisse im Hinblick auf Prävention und psychiatrische Gesundheitsförderung hervor und weist auf das Scheitern der ambulanten Soziotherapie [9] hin.

Larry Davidsons [10] (2010) Kommentar zu den letzten Empfehlungen von PORT (Patient Outcome Research Team) aus Recovery-Sicht betont einerseits ebenfalls die Enttäuschung über den Mangel an relevanten wissenschaftlichen Fortschritten. Andererseits betont er Erkenntnisse zu Interventionen, die Personen, die über längere Zeit Symptome und/oder Behinderungen haben, dabei helfen am Leben in der Gemeinde teilzunehmen und dabei im Lernen im Umgang mit Symptomen und Behinderungen den Verlauf von Erkrankungen deutlich zu verbessern. Dabei handelt es sich um supported employment, betreutes Wohnen, peer support, Information, Austausch und Selbsthilfe zum Umgang mit verschiedenen Aspekten von Erkrankung und Behandlung, unterstütze Entscheidungsfindung anstelle von Fremdbestimmung, Einbeziehung von Familien und Freunden in rehabilitative Anstrengungen, Unterstützung für Eltern mit psychischen Störungen und andere Unterstützungsleistungen im Alltag.

Die Ansicht, dass Recovery eine Illusion sei, ist angesichts der Kluft zwischen Anspruch und Realität und der enormen Herausforderungen und Aufgaben, die ich für unser Fach sehe, verständlich, erscheint mir aber nicht legitim und deutlich zurückzuweisen. Lieber halte ich es mit Niels Birbaumer, der zum Ende seines Hauptvortrags am DGPPN-Kongress 2011 zu dem aktiven und Erfolg versprechenden Forschungsbereich „Willentliche Beeinflussung dysfunktionaler Gehirnkreisläufe“ seine berechtigten Hoffnungen und den resultierenden Handlungsauftrag mit einem jiddischem Konzept ausdrückte „Vor lauter Hoffnung werd ich noch meschugge“.


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Michaela Amering
  • Literatur

  • 1 Amering M, Schmolke M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 5.. bearbeitete Auflage. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2012
  • 2 Wallcraft J. Consumer models of recovery: can they survive operationalism?. World Psychiatry 2012; 11: 166-167
  • 3 Wallcraft J, Amering M, Freidin J et al. Partnerships for better mental health worldwide: WPA recommendations on best practices in working with service users and family carers. World Psychiatry 2011; 10: 229-236
  • 4 Borbe R. Die UN-Behindertenrechtskonvention: Feste Größe in einem psychiatriepolitischen Schlingerkurs?. Psychiat Prax 2011; 38: 215-217
  • 5 Amering M, Schulze M. Recovery – ein Menschenrecht?. In: Lenz G, Rabenstein R, Reschauer G, Hrsg. Berufsbezogene Herausforderungen in der psychiatrischen Rehabilitation. Wien: Facultas Verlag; 2013
  • 6 Bartlett P. The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Mental Helath Law. The Modern Law Review 2012; 75: 752-778
  • 7 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 1-2
  • 8 Salize HJ. Sozialpsychiatrie – wohin?. Psychiat Prax 2012; 39: 199-201
  • 9 Rössler W, Melchinger H, Schreckling S. Die ambulante Soziotherapie nach 37a SGB V ist gescheitert. Psychiat Prax 2012; 39: 106-108
  • 10 Davidson L. PORT Through a Recovery Lens. Schizophrenia Bulletin 2010; 36: 107-108

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18–20
1090 Wien

  • Literatur

  • 1 Amering M, Schmolke M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. 5.. bearbeitete Auflage. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 2012
  • 2 Wallcraft J. Consumer models of recovery: can they survive operationalism?. World Psychiatry 2012; 11: 166-167
  • 3 Wallcraft J, Amering M, Freidin J et al. Partnerships for better mental health worldwide: WPA recommendations on best practices in working with service users and family carers. World Psychiatry 2011; 10: 229-236
  • 4 Borbe R. Die UN-Behindertenrechtskonvention: Feste Größe in einem psychiatriepolitischen Schlingerkurs?. Psychiat Prax 2011; 38: 215-217
  • 5 Amering M, Schulze M. Recovery – ein Menschenrecht?. In: Lenz G, Rabenstein R, Reschauer G, Hrsg. Berufsbezogene Herausforderungen in der psychiatrischen Rehabilitation. Wien: Facultas Verlag; 2013
  • 6 Bartlett P. The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities and Mental Helath Law. The Modern Law Review 2012; 75: 752-778
  • 7 Priebe S. Wo ist der Fortschritt?. Psychiat Prax 2012; 39: 1-2
  • 8 Salize HJ. Sozialpsychiatrie – wohin?. Psychiat Prax 2012; 39: 199-201
  • 9 Rössler W, Melchinger H, Schreckling S. Die ambulante Soziotherapie nach 37a SGB V ist gescheitert. Psychiat Prax 2012; 39: 106-108
  • 10 Davidson L. PORT Through a Recovery Lens. Schizophrenia Bulletin 2010; 36: 107-108

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