Grafik: C. Lackner
Evidenzbasierte Praxis ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt. Sie kann Ergo-therapeuten
darin unterstützen, fundierte Entscheidungen zu treffen. Besonders dann, wenn sie
vor neuen Herausforderungen stehen.
Ob man in Fachzeitschriften blättert, einen Ergotherapiekongress besucht oder gesund-heitsbezogene
Internetseiten durchstöbert: Immer wieder begegnet einem der Anspruch, Interventionen
anhand von wissenschaftlichen Beweisen zu untermauern [1-3]. Therapeuten sollen demnach
wissenschaftliche Evidenz gewissenhaft und vernünftig nutzen, um ihre Entscheidungen
im Einzelfall begründen zu können [2]. Die sogenannte evidenzbasierte Praxis kann
Ergotherapeuten also darin unterstützen, ihre Vorgehensweise zu untermauern. Sie bietet
ihnen aber auch hilfreiche Denkanstöße, um ihre Clinical-Reaso-ning-Prozesse auf aktuelle
Gegebenheiten wie die Lebenssituation oder Handlungsbedürfnisse eines Klienten abzustimmen.
Grenzen im Therapieprozess können sie so leichter überwinden und neue Aufgaben besser
bewältigen. Immer mit dem Ziel, dem Klienten die bestmögliche Behandlung zukommen
zu lassen [4, 5].
Fragen aus der Praxis nachgehen
Fragen aus der Praxis nachgehen
Nehmen wir einmal an, ein Klient entwickelt infolge einer Radiusfrakturein komplexes
regionales Schmerzsyndrom (CRPS Typ I). Hat man als behandelnde Ergotherapeutin mit
dieser Symptomatik bisher noch keine Erfahrungen gesammelt, tauscht man sich vielleicht
zunächst mit Kollegen aus oder sucht Rat in der Fachliteratur. Fachbücher schlagen
mögliche Vorgehensweisen vor und berücksichtigen zunehmend die Studienlage [6]. Sie
entsprechen aber nicht immer dem neuesten Stand und vernachlässigen mitunter die Klientenperspektive.
Möchte man es daher genauer wissen, lohnt sich ein Blick in die Welt der Wissenschaft.
Datenbanken wie Pubmed, OTDBASE oder ScienceDirect halten einen großen Pool an wissenschaftlichen
Arbeiten bereit, um Licht in praxisrelevante Problemstellungen zu bringen. Bevor man
mit der Recherche beginnt, sollte man sich eine konkrete Frage überlegen („Vorgehensweise in der EBP“). Zum Beispiel: Wie beeinflusst die CRPS I das subjektive Erleben eines Menschen?
Sichtweisen nachvollziehen
Sichtweisen nachvollziehen
Mit qualitativen Studien kann man sich der Klientenperspektive annähern [7]. Bei einer
Recherche in der Datenbank „ScienceDirect“ findet man mit den Schlüsselwörtern „Perception“
und „CRPS I“ beispielsweise eine Interviewstudie der Ergotherapeutin Jennifer Lewis
und ihren Kollegen. Darin beschreiben 28 Klienten, wie sie ihren betroffenen Arm wahrnehmen
und welche Gefühle sie ihm entgegenbringen. Demnach lehnen sie die krankhaft veränderte
Extremität häufig ab, sie fühle sich an, als gehöre sie nicht zum Rest des Körpers.
Missempfindungen und Schmerzen verzerren das innere Bild zusätzlich und erschweren
es, die Position des Armes zu bestimmen [8].
Qualitative Studien wie diese besitzen zwar nur eine geringe Beweiskraft, sie können
die behandelnde Ergotherapeutin aber darin unterstützen, sich besser in die Situation
ihres Klienten einzufühlen (Abb.). Eine angemessene Beziehung kann sie so leichter zu ihm aufbauen. Zudem lassen sich
die qualitativen Ergebnisse oftmals durch quantitative Studien bekräftigen [9, 10].
Zusammenhänge erkennen
Bleibt die Frage, wie sich eine CRPS I auf die Alltagsaktivitäten eines Klienten auswirkt.
Querschnittstudien können solche Zusammenhänge aufzeigen, indem sie bestimmte Kriterien
zu einem bestimmten Zeitpunkt untersuchen [11].
In den „Archives of Physical Medicine and Rehabilitation“ stößt man mit den Suchbegriffen
„CRPS I“ und „Activity“ auf einen frei zugänglichen Artikel. Darin untersuchten niederländische
Forscherum die Physiothera-peutin Fabienne Schasfoort 30 Klienten mit chronischer
CRPS I. Dazu setzten sie die Impairment Sum Scores (ISS) und den Upper-Limb Activity
Monitor (ULAM) ein. Auf diese Weise fanden sie heraus, dass die Klienten ihren betroffenen
Arm seltener und weniger intensiv nutzten als ihren intakten. Dies war vor allem dann
der Fall, wenn sie eine sitzende Tätigkeit ausführten und ihre dominante Seite geschädigt
war. Dabei ging der reduzierte Einsatz des betroffenen Armes mit einem verringerten
Bewegungsausmaß und einer verminderten Greifkraft einher [12].
Krankheitsheitsverläufe ermitteln
Krankheitsheitsverläufe ermitteln
Möchte man mehr über langfristige Verläufe oder Prognosen erfahren, liefern Kohortenstudien
Antworten [7]. So untersuchte beispielsweise ein Schweizer Forschungsteam um die Bewegungswissenschaftlerin
Maria Iakowa zwei Jahre lang 1.207 Klienten, die jünger als 60 Jahre waren und ein
orthopädisches Trauma erlitten hatten. Laut den Ergebnissen haben betroffene Klienten
höhere Chancen, wieder ins Berufsleben zurückzukehren, wenn sie langfristig wenig
oder kaum Schmerzen wahrnehmen und ihren Gesundheitszustand positiv bewerten [13].
Vorgehensweise in der EBP [7]
-
> klinische Fragen formulieren
-
> nach Evidenz recherchieren
-
> Evidenz kritisch bewerten
-
> Evidenz für klinische Entscheidungen nutzen
-
> evaluieren
Das heißt, dass sich eine CRPS I auf verschiedene Lebensbereiche auswirken kann. Die
Selbst- und Körperwahrnehmung, das Schmerzerleben und die motorischen Handlungsfertigkeiten
eines Klienten scheinen Schlüsselfaktoren darzustellen, wenn es um die erfolgreiche
Teilhabe am Alltags- und Berufsleben geht.
Damit stellt sich gleich die nächste Frage: Inwieweit können Ergotherapeuten dieser
komplexen Problematik effektiv begegnen?
Wirksame Interventionen finden
Wirksame Interventionen finden
Sucht man nach Wirksamkeitsnachweisen für konkrete Interventionen, sind randomisierte
kontrollierte Studien (RCT), systematische Reviews oder Metaanalysen besonders aussagekräftig
[2]. In gängigen Evidenzhierarchien belegen sie daherdie oberen Ränge (Abb.).
In der Datenbank „ScienceDirect“ stößt man mit den Suchbegriffen „CRPS I“ und „Occupational
Therapy“ auf eine RCT-Studie mit 145 Teilnehmern, welche die Wirkung von Ergo- und
Physiotherapie mit einer Kontrollgruppe vergleicht. Demzufolge reduziert eine ergotherapeutische
Behandlung die Schmerzen signifikant stärker als die Kontrollintervention, erreicht
aber etwas geringere Effekte als Physiotherapie [14].
In einem systematischen Review aus dem Jahr 2009 werteten die australischen Physio-therapeutinnen
Anne Daly und Andrea Bialo-cerkowski zudem die Evidenz für relevante Behandlungsmaßnahmen
aus. Demnach existieren aussagekräftige Beweise dafür, dass eine abgestufte motorische
Imaginationstherapie die Schmerzen nachhaltig verringert. Erste Belege zeigen, dass
die Spiegeltherapie sowohl die Schmerzwahrnehmung als auch die Bewegungssteife in
der betroffenen Seite reduzieren kann. Außerdem scheint ein schrittweises sensomotorisches
Training den Schmerz zu vermindern und dietaktile Diskri-mination zu verbessern [15].
Evidenz nutzbar machen
Mit etwas Glück erhält man einen recherchierten Artikel als frei zugängliches Dokument.
Ist nur das Abs-tract einer Studie verfügbar, kann man den vollständigen Artikel online
über die jeweilige Zeitschrift oder die ZB MED (www.zbmed.de) bestellen.
Wer schon etwas Übung im Lesen von Studien hat, erkennt schnell, dass deren Glaubwürdigkeit
von der methodischen Qualität abhängt („Vorgehensweise in der EBP“). Diese kann man entweder selbst bewerten oder sich an bereits vorhandenen Bewertungen
bzw. Empfehlungen orientieren, zum Beispiel auf „otseeker“, in der EBP-Datenbank des
DVE oder in Leitlinien [2, 16, 17].
Forschungsergebnisse alleine reichen jedoch nicht aus, um evidenzbasiert zu arbeiten.
Sie können ihre positive Wirkung für die Praxis erst dann entfalten, wenn man sie
mit der eigenen klinischen Expertise und den Werten eines Klienten verknüpft [7].
Dabei laufen Denkprozesse ab, die vom wissenschaftlichen Reasoning über das narrative
bis hin zum prozeduralen reichen. Sie erinnern an ein Puzzlespiel: Nach und nach fügen
sich die einzelnen Aspekte zu einem sinnvollen Ganzen zusammen.