Z Orthop Unfall 2012; 150(05): 452-455
DOI: 10.1055/s-0032-1329637
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Sturzprophylaxe: Kein Grund für hektischen Aktionismus

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Publikationsdatum:
17. Oktober 2012 (online)

 
 
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    Die Medizinerin Dr. med Dagmar Lühmann (Jahrgang 1961) arbeitet seit 1996 am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck zur Versorgungsforschung, vor allem zu muskuloskelettalen Erkrankungen. Einer ihrer Schwerpunkte im neuen HTA-Bericht zur Sturzprophylaxe war die Bewertung der medizinischen Effektivität sowie der Wirtschaftlichkeit von Einzelinterventionen, etwa Bewegungstraining, Interventionen zum Wohnumfeld oder zur Korrektur von Sehfehlern.
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    Die Pflegewissenschaftlerin Katrin Balzer (Jahrgang 1970) arbeitet seit 2008 in der Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck. Arbeitsschwerpunkt ist die systematische Aufbereitung wissenschaftlicher Evidenz zu Fragen aus der Pflege. Balzer übernahm im vorliegenden HTA vor allem die Themen Assessment zum Risikoscreening, Evidenz für Erfolge bei komplexen Interventionsprogrammen sowie ethische Implikationen der Sturzpropyhlase.

    Zur Sturzprophylaxe gibt es nach wissenschaftlichen Kriterien derzeit kaum klare Empfehlungen. So das Fazit eines aktuellen Health Technology Assessments (kurz: HTA-Berichts), erarbeitet von fünf WissenschaftlerInnen des Instituts für Sozialmedizin der Universität Lübeck. Warum das für die Praxis trotzdem nicht bedeutet, gar nichts zu tun, erklären zwei der Autorinnen.

    ? Der aktuelle HTA-Bericht hat den Titel: "Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung". Es geht also um Leute, die noch daheim in ihrer Wohnung leben?

    Lühmann (L): Ja, aber auch um die Situation in Pflegeheimen. Wir wollten uns damit abgrenzen von akuten Versorgungskontexten wie Krankenhaus und Reha.

    ? Könnten Sie dem Leser zunächst etwas erklären, was so ein HTA eigentlich ist? Es gibt doch schon zur Sturzprophylaxe etliche Meta-Analysen, etwa Cochrane-Reviews. Mit stolzen 640 Druckseiten stellt der HTA-Bericht (download siehe Link unter "Weitere Informationen" in der Online-Version) jetzt eine neue Bibel der Evidenz dar?

    L: Ein HTA hat einen etwas anderen Adressatenkreis als ein Cochrane-Review. Er wendet sich primär an Entscheidungsträger im Gesundheitswesen. Etwa an den G-BA, der Kostenübernahmen beschließt oder an Gremien, die über Forschungsförderung entscheiden. Auch eine Pflegeheimleitung zählt zu unseren primären Adressaten.

    Außerdem unterscheidet sich ein HTA von anderen Systematischen Reviews durch einen breiteren thematischen Fokus. Es geht nicht nur um medizinische Effektivität von Interventionen, sondern auch um die Sicherheit, um ökonomische Aspekte, ethische, soziale, organisatorische. Wobei, keine Frage, Kernstück eines HTA ist natürlich wie beim Cochrane-Review die Betrachtung der medizinischen Effektivität. Ist die nicht gegeben oder lässt sich über sie keine Aussage treffen, braucht man sich über die weiteren Aspekte gar nicht mehr unterhalten. Das zeigt sich auch und gerade bei der Sturzprophylaxe.

    ? Noch ein paar Fragen zum Prozedere. Wie kommt man an den Auftrag?

    L: Das HTA zur Sturzprophylaxe wurde vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) in Auftrag gegeben, die Mittel kommen aus dem Bundesgesundheitsministerium. Das DIMDI verfügt über wissenschaftliche Kooperationsgruppen mit HTA-Kompetenzen und thematischer Expertise, die dann die Bearbeitung übernehmen. Zu einer wissenschaftlichen Wettbewerbssituation kommt es bei der Bewerbung um den Status der Kooperationsgruppe.

    ? Wie lange haben die fünf Autor­Innen an dem Bericht gearbeitet?

    L: Gestartet haben wir 2008. In der Summe kann man sagen, dass die Arbeit an diesem HTA etwa zweieinhalb Jahre einer Vollzeitstelle entspricht. Wir fünf Autoren waren immer nur zeitweise in das Projekt eingebunden.

    ? Wie muss man sich die Literaturrecherche vorstellen?

    Balzer (B): Mit der Suchstrategie, die wir entworfen haben und die von den externen Gutachtern des Berichts geprüft wurde, haben wir aus 31 Datenbanken für die Jahre 2003 bis Anfang 2010 an die 12.000 Publikationen ermittelt, aus denen wir am Ende 184 relevante Studien herausgefiltert haben. Dabei waren wir 2009 eigentlich schon fertig, mussten dann aber noch mal quasi auf Restart gehen, da ein Cochrane-Review, der auch für uns eine maßgebliche Informationsressource war, 2008 zurückgezogen und 2009 und 2010 in zwei neuen Reviews aktualisiert wurde.

    ? Aber noch mal gefragt, machen Sie da nicht Doppelarbeit, wenn es schon aktuelle Cochrane-Reviews zum Thema gibt?

    L: Nein. Unsere Einschlusskriterien für die Auswahl der Studien stimmt durchaus nicht immer mit denen des Cochrane-Review überein.

    ? Ein Beispiel?

    L: Ein sehr wichtiges Kriterium war für uns: Sturzereignisse, die in den Studien als Zielgröße angegeben werden, müssen prospektiv gezählt werden.

    ? Was heißt das?

    L: Dass die Probanden selber eine Berichterstattung über Stürze verfolgen, die zuverlässig ist. Das sind meist die so genannten Sturztagebücher. Das kontrastiert stark mit einem älteren, methodisch viel ungenaueren Vorgehen, wo Probanden rückblickend, z. B. nur alle Vierteljahre, mal gefragt werden, ob sie in den letzten drei Monaten gefallen sind. Solche Studien haben wir, anders als die Cochrane-Reviews, nicht berücksichtigt.

    ? Zu welchem Gesamturteil sind Sie gekommen? Was raten Sie, einmal angenommen, einer Pflegeheimleitung für die Sturzprophylaxe in ihrer Einrichtung? Welche Dinge versprechen Erfolge?

    B: Ich rate ihr als erstes, sich zu fragen, ob Stürze in der Einrichtung überhaupt ein Problem sind. Das ist das Wichtigste, anstatt gleich in Aktionismus zu verfallen. Zu schauen, gibt es irgendwo ein Problem mit Stürzen. Denn ein gewisses Sturzrisiko besteht ja schließlich für Jedermann. Daher ist es ganz wichtig, ein Auge darauf zu haben, wie denn die Sturzrate in einer Einrichtung ist: Kommt es womöglich in gewissen Situationen zu Stürzen, gibt es Probleme mit irgendwelchen Halterungen oder Böden, gibt es womöglich häufiger Stürze während bestimmter Tageszeiten? Das kann man dann gezielter angehen.

    ? Aber folgt man den Presseerklärungen zu Ihrem HTA, drängt sich als Fazit auf: Man kann die ganze Sturzprophylaxe zumindest nach derzeitiger Studienlage eigentlich lassen …

    B: Das kann man auch differenzierter sehen.

    ? Sie geben also doch konkrete Empfehlungen?

    L: Es ist nicht möglich, ein ganz plakatives Fazit zu ziehen. Aber das heißt jetzt nicht, dass wir therapeutischen Nihilismus predigen. So kann man sehr vorsichtig sagen, dass die so genannten Bewegungsinterventionen bei eher gesünderen Senioren tendenziell positive Effekte zeigen. Außerdem sehen wir für Studien zu Veränderungen im Wohnumfeld, dass dies eher bei Personen zu fruchten scheint, die bereits stärker bewegungseingeschränkt sind. Für die von Ihnen angesprochene Leitung eines Pflegeheims bliebe daher die Botschaft, sich durchaus den HTA-Bericht vorzunehmen und zu schauen, welche Studien auf die eigene Klientel passen und was sie im Detail aufzeigen.

    ? Das heißt, wenn Sturzprophylaxe, muss man sie gezielt für einzelne Gruppen auslegen?

    L: So ist es. Der größte Fehler ist, dass zu oft sehr viel heterogenes Studienmaterial zusammen gerechnet wird. Dass man unbedingt eine übergreifende Aussage für alle herauskitzeln möchte. Just dies macht dann eben auch die Ergebnisse bei anderen Übersichtsarbeiten schwer interpretierbar.

    ? Werfen wir einen Blick auf einzelne Diagnose- und Interventionsmöglichkeiten. Sie haben unter anderem Screeninginstrumente untersucht, mit denen besonders Sturzgefährdete ermittelt werden sollen. Welche lassen Sie stehen?

    B: Da haben wir wenig stehen gelassen. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Instrumente. Von einem ganz einfachen Balancetest bis hin zu multifaktoriellen Skalen, die mehrere Risikofaktoren abfragen. Aber nirgends liegen Sensitivität und Spezifität über 70 Prozent. Mit anderen Worten: Jeweils 30 Prozent derer, die eigentlich gefährdet sind, werden übersehen und mindestens 30 Prozent werden als sturzgefährdet eingestuft, die es gar nicht sind. Dass sich damit Sturzgefährdete gut von Nichtsturzgefährdeten unterscheiden lassen, dafür haben wir keine Belege gefunden.

    ? Also sollte man diese Instrumente erst gar nicht einsetzen?

    B: Naja, wir haben auf jeden Fall keine beweiskräftige Evidenz, die zeigt, dass ältere Menschen von einem Screening auf Sturzrisiko profitieren können. Wir haben außerdem gesehen, dass das so genannte klinische Urteil ähnliche Vorhersagewerte bietet wie viel kompliziertere Tests. Beim klinischen Urteil werden Profis gefragt, ob sie aufgrund ihrer Beobachtungen den Patienten für sturzgefährdet halten. Ja oder Nein? Wenn man also das Sturzrisiko irgendwie bestimmen möchte, dann kann man auch solche einfachen Instrumente nützen.

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    Das Training motorischer Funktionen scheint zumindest bei rüstigen Senioren das Sturzrisiko zu senken.(Foto: Thieme Verlagsgruppe)
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    SturzproMuskel- und Knochenmasse durch Sport bis ins hohe Alter zur erhalten, kann auf jeden Fall nicht schaden.(Foto: Digitalvision/Tim Hall)

    ? Zu einzelnen Interventionen. Was ist mit der rechtzeitigen Korrektur von Sehfehlern? Ist das wichtig zur Sturzprophylaxe?

    L: Wir haben dazu gerade mal zwei Studien gefunden. Bei beiden war die Intervention, dass ein Sehtest gemacht wurde und dann bei Bedarf mit einer neuen Brille oder Anpassung reagiert wurde. Die eine Studie bei noch relativ rüstigen älteren Menschen hat am Ende keinen Unterschied bei der Sturzrate zwischen Interventions- und Kontrollgruppe gefunden. Die zweite fand sogar Nachteile in der Interventionsgruppe. Dies allerdings wiederum bei alten und gebrechlichen Menschen. Eine Gruppe, bei der man spekulieren kann, dass sie mit einer neuen Sehhilfe die erste Zeit besonders vorsichtig sein muss.
    Daraus kann man jetzt wirklich nicht die Empfehlung ableiten, dass zur Sturzprophylaxe ein Sehtest und eine Sehkorrektur vorgenommen werden sollte. Andererseits wird natürlich niemand sagen – bloß keine neue Brille wegen einer erhöhten Sturzgefahr die ersten Tage danach.

    ? Bei Krafttraining gehen viele Experten davon aus, dass es hilft, mehr Muskel- und Knochenmasse bis ins hohe Alter zu erhalten.

    L: So ist es. Nur, allein zur Sturzprophylaxe waren die Effekte in den einzelnen Studien auch wieder sehr heterogen. Das Einzige, was wir zusammenfassend sagen können: Solange Menschen sowieso noch einigermaßen rüstig sind, scheint das Trainieren auch positive Effekte gegen das Sturzrisiko zu haben. In dem Fall reiht sich also ein weiteres Argument an die Kette der Argumente, die es eh schon für Training gibt.

    ? Vitamin D?

    L: … ist völlig inkonsistent. Aus den uns vorliegenden Daten ist für die Sturzprophylaxe keine Empfehlung abzuleiten.

    ? Was ist mit Hüftprotektoren?

    B: Die würden wir am liebsten gar nicht ansprechen, weil das eigentlich ja keine Sturzprophylaxe ist.

    ? Sie helfen aber vielleicht, bei einem Sturz das Schlimmste zu vermeiden?

    B: Man sieht gar keine Effekte durch Hüftprotektoren für Senioren, die noch im eigenen Hause leben. Bei vulnerableren Menschen ist die Datenlage zu heterogen, um da Aussagen treffen zu können.

    ? Sie formulieren so vorsichtig. Das heißt doch, etwa für den G-BA: Hüftprotektoren haben keinen Wert, das brauchen wir nicht finanzieren?

    B: Bisher sind Hüftprotektoren ja auch nicht im Hilfsmittelkatalog enthalten. Aufgrund der Studienlage gibt es keine Gründe, da etwas zu forcieren.

    ? In der Praxis setzen Programme zur Sturzprophylaxe heute auf die Kombination gleich vieler Maßnahmen ...

    B: Ja, der Oberbegriff dafür ist multimodal. Entweder als so genannte multiple Intervention in einer festen Kombination für alle – egal, welche Risikofaktoren die Teilnehmer aufweisen. Oder als multifaktorielle Intervention, bei der immer ein Assessment oder eine Diagnostik vorgeschaltet ist.

    ? Die Probleme der Assessments haben Sie bereits erklärt.

    B: Ja, deren unscharfe Aussagekraft ist ein Teil des Problems bei der Wirksamkeit multifaktorieller Interventionen. Die Studien geben keine eindeutigen Belege für eine Senkung des Sturzrisikos durch die Kombination von Sturzrisiko-Assessment und darauf abgestimmte Maßnahmen.

    ? Also ist ein Pflegeheim mit womöglich ausgetüftelten Programmen zur multifaktoriellen Sturzprophylaxe am Ende nicht besser als eines ohne?

    B: Wenn ein Heim gute Erfahrungen mit dem Programm vor Ort gemacht hat, wenn die Pflegekräfte damit zurechtkommen und dadurch auf die Sicherheit der Bewohnerinnen achten, dann gibt’s nichts gegen diese einrichtungsinterne Praxis einzuwenden.

    ? Warum verweisen Sie hier plötzlich wieder auf Erfahrungswerte? Das HTA sollte doch eigentlich grundlegend Aussagen finden zur Frage "Evidenz, dass es wirkt, oder Evidenz, dass es nicht wirkt"?

    B: Was wir aus der Studienlage herauslesen, ist vor allem, dass sich die Erfahrung eines Heims kaum auf das nächste übertragen lässt. Wir sprechen daher davon, dass die Ergebnisse mit dem jeweiligen Kontext stehen oder fallen.

    L: Keine konsistenten Effekte in den Studien heißt ja nicht, dass Effektlosigkeit nachgewiesen wurde. Es gibt vielmehr gegenläufige Effekte in verschiedenen Studien. Die Interpretation, man muss nichts machen, ist nicht unsere Aussage. Im Gegenteil. Man hat bei der Sturzprophylaxe sehr viele gute Ansätze, aber man ist bei den Untersuchungen noch nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Da brauchen wir schlicht noch mehr Studien.

    ? Ein Beispiel?

    L: Im Bereich Bewegungsintervention gibt es ein Programm aus Neuseeland, das so genannte OTAGO-Programm, das in einigen Kontexten sehr gut funktioniert, in anderen weniger oder gar nicht. Es soll jetzt in Deutschland eingeführt werden. Vor einer allgemeinen Vergütungszusage wäre es sicher sinnvoll, zunächst die Wirksamkeit im gegebenen Kontext unter kontrollierten Bedingungen zu prüfen.

    ? Wer soll das beschließen und finanzieren?

    L: Wenn wir uns im SGBV-Bereich bewegen, ist der G-BA derjenige, welcher die Entscheidungen zu treffen hat. Die Frage nach der Finanzierung können wir mit unserem HTA auch nicht lösen. Helfen kann vielleicht ein Blick ins Ausland. In Großbritannien hat das NHS ein HTA-Programm, welches mit einem Riesenaufwand Primärstudien fördert. Das haben wir hierzulande leider bislang nicht. Dieses Problem muss drei Ebenen höher, von der Politik gelöst werden.

    B: Es geht ja gerade darum, Ressourcen nicht dort zu investieren, wo sie vielleicht fehlinvestiert sind. Das lässt sich letztlich aber nur durch ausreichend gute Studien erreichen. Man kann eben nicht einfach hingehen und sagen, oh jetzt habe ich hier eine gute Idee, ein gutes Paket, jetzt nehme ich mal ein paar Pflegeheime, und mache mal. Dadurch fängt man sich all diese Unsicherheitsfaktoren wieder ein. Da sind wir dann hinterher genauso klug wie vorher.

    ? Der AOK-Bundesverband bewirbt in einer Pressemeldung vom November 2011 das "weltweit erfolgreichste Programm zur Verhinderung von Hüftfrakturen". Ein zusammen mit Wissenschaftlern aus Ulm und Stuttgart entwickeltes Programm könne in Pflegeheimen die Zahl der Hüftfrakturen um 20 Prozent verringern (siehe Link in der Online-Version). Es geht also doch?

    L: Es bleibt dabei, dass wir die wissenschaftliche Datenlage auch hier kritisch sehen. Die Zahl zur Reduktion der Frakturen um 20 Prozent in diesem Programm stammt aus nicht-randomisierten Studien.

    ? Wo steckt das Problem? Das Programm kommt laut AOK-Angaben immerhin bereits in rund 2.000 Heimen zum Einsatz.

    B: Die Übernahme des Programms in Heimen passierte in diesem Fall ja freiwillig, und als Kontrollgruppe in den aktuellen Studien zur Evaluation dieses Programms fungieren Daten aus Heimen, die eben nicht mitmachen.

    L: Und genau damit handelt man sich Verzerrungsrisiken ein. Ich weiß in dem Fall hinterher nicht, ob die Effekte in meiner Studie wirklich auf die Intervention zurückgehen, oder vielleicht auch einfach darauf, dass ich womöglich einfach die generell besonders engagierten Heime in der Interventionsgruppe habe.

    ? Die generell aktiver und in vielen Punkten besser arbeiten könnten, was sich indirekt auch positiv auf das Sturzgeschehen auswirkt?

    L: Richtig.

    ? Besagte Pressemeldung referiert auch Daten, nach denen das Programm Kosten spart.

    L: Der springende Punkt ist, dass wir aus der Studienlage keine Anhaltspunkte sehen, solche Hochrechnungen überhaupt anstellen zu können. Frakturen sind Gott sei Dank seltene Ereignisse?…

    ? … Einige Quellen sprechen von 30.000 Brüchen, die pro Jahr Bewohner von Pflegeheimen hierzulande erleiden.

    L: Dennoch lässt sich in Studien ein Verhindern von sturzbedingten Frakturen meist gar nicht mit statistischer Sicherheit nachweisen. Diese unsicheren Ergebnisse mit Kostendaten zu kombinieren, führt zu hochgradig unsicheren Schätzungen.

    ? Was bleibt als Fazit Ihrer Untersuchung?

    B: Positiv ist, dass die Qualität der Studien in den letzten Jahren steigt. Gerade, was komplexe Interventionen zur Sturzprophylaxe angeht, ist momentan in der Forschungsszene sehr viel Betrieb. Man hat die Probleme erkannt. Es gibt international große Anstrengungen für eine bessere Erforschung der Effekte komplexer Versorgungsprozesse.

    L: Inzwischen gibt es sowohl von der DFG als auch vom BMBF Initiativen zur Förderung von Versorgungsforschung.

    ? Die Frage, was in der Praxis zu tun ist, bleibt am Ende ziemlich offen?

    B: Ich finde etwas anderes auch fast wichtiger. Ganz wichtig ist, mehr darauf zu hören, was die Senioren selber möchten. Viele Studien zeigen, dass Ältere der Sturzprophylaxe nicht mit Hurra gegenüber stehen, sondern eher ambivalent. Sie sehen ein gewisses Sturzrisiko als Teil ihres Lebens an und sind nur bedingt bereit, sich dagegen bei Interventionen zu engagieren. Viel wichtiger ist ihnen, dass sie lange aktiv und unabhängig leben können. Wir sollten uns also nicht zu sehr auf die Sturzprophylaxe fokussieren. Helfen wir da, wo sich ältere Menschen vorrangig Hilfe und Unterstützung erwarten: Möglichst lang ein möglichst rüstiges Leben zu führen.

    Das Interview führte: Bernhard Epping (BE)

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    In Pflegeeinrichtungen muss zunächst eruiert werden, ob Stürze überhaupt ein Problem sind.(Foto: istockphoto)

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    Die Medizinerin Dr. med Dagmar Lühmann (Jahrgang 1961) arbeitet seit 1996 am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck zur Versorgungsforschung, vor allem zu muskuloskelettalen Erkrankungen. Einer ihrer Schwerpunkte im neuen HTA-Bericht zur Sturzprophylaxe war die Bewertung der medizinischen Effektivität sowie der Wirtschaftlichkeit von Einzelinterventionen, etwa Bewegungstraining, Interventionen zum Wohnumfeld oder zur Korrektur von Sehfehlern.
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    Die Pflegewissenschaftlerin Katrin Balzer (Jahrgang 1970) arbeitet seit 2008 in der Sektion für Forschung und Lehre in der Pflege am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck. Arbeitsschwerpunkt ist die systematische Aufbereitung wissenschaftlicher Evidenz zu Fragen aus der Pflege. Balzer übernahm im vorliegenden HTA vor allem die Themen Assessment zum Risikoscreening, Evidenz für Erfolge bei komplexen Interventionsprogrammen sowie ethische Implikationen der Sturzpropyhlase.
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    Das Training motorischer Funktionen scheint zumindest bei rüstigen Senioren das Sturzrisiko zu senken.(Foto: Thieme Verlagsgruppe)
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    SturzproMuskel- und Knochenmasse durch Sport bis ins hohe Alter zur erhalten, kann auf jeden Fall nicht schaden.(Foto: Digitalvision/Tim Hall)
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    In Pflegeeinrichtungen muss zunächst eruiert werden, ob Stürze überhaupt ein Problem sind.(Foto: istockphoto)