Im Januar 2012 stellte die European Association of Urology (EAU) ihre aktuelle Leitlinie
zur Vasektomie vor [
1
]
, im Mai 2012 folgte die aktuelle Guideline der American Urological Association (AUA) [
2
]
. Der anschließende Kommentar setzt sich kritisch mit den beiden Leitlinien, die auf
einer systematischen Literaturrecherche beruhen, auseinander.
Leitlinien dienen der Verbesserung der medizinischen Versorgung durch Wissensvermittlung,
durch den Transfer der "bestverfügbaren Evidenz" im Versorgungsalltag und als Orientierungshilfe
für neue medizinische Technologien [
3
]. Sie werden in S1- bis S3-Leitlinien eingeteilt, wobei die häufig publizierten S1-Leitlinien
nur einer Konsensfindung in einem informellen Verfahren entsprechen und daher eine
geringe Evidenz aufweisen (‣ Tab. [
1
]).
Tab. 1 Klassifikation von Leitlinien nach AWMF (www.awmf.org).
Leitlinien sind nach allgemeinem Konsens ein Entscheidungskorridor mit einer nicht
zu bestreitenden Wertigkeit in juristischen Verfahren. Diese ist vom 6. Zivilsenat
des Bundesgerichtshofs im Jahr 2008 wie folgt gewürdigt worden (6. Zivilsenat des
BGH vom 28.03.2008, VIZR 57–07):
-
Leitlinien ärztlicher Fachgremien können nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines
Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Sachverstand gleichgesetzt werden,
-
Leitlinien können auch keinen Sachverständigen ersetzen und nicht ohne weiteres für
den Standard als Maßstab übernommen werden und
-
letztlich obliegt die Feststellung des Standards der Würdigung des sachverständig
beratenden Tatrichters.
Unbestritten ist, dass Leitlinien für die Vasektomie Orientierungshilfen für den in
der Andrologie praktisch tätigen Urologen sind. Derzeit liegen 2 neue Leitlinien vor:
Die Leitlinie EAU [
1
] sowie die der AUA [
2
], die erstmals auf dem diesjährigen AUA-Kongress in Atlanta vorgestellt worden sind.
Beide Leitlinien beruhen auf einer systematischen Literatur-Recherche und werden von
uns als S2-Leitlinien angesehen. Dabei wird in der EAU-Leitlinie nicht klar, wie viele
Publikationen tatsächlich analysiert, nach welchen Kriterien diese ausgewählt und
wie diese gegeneinander abgewogen worden sind. Dies wird zwar im methodischen Teil
angesprochen, ist jedoch für den Leser nicht nachzuvollziehen. Bei der amerikanischen
Leitlinie besteht ein eindeutiger, strukturierter Literaturauswahl- und Bewertungsprozess,
sodass diese auf jeden Fall im Sinne einer S2-Leitlinie zu würdigen ist. Unabhängig
von dieser Bewertung machen beide Leitlinien analog zu den Empfehlungen des Oxford
Centre for Evidence-based Medicine [
3
] Angaben zum Grad der Evidenz.
Folgende 4 Themenschwerpunkte der beiden Leitlinien sollen für die andrologische Praxis
kommentiert werden:
-
die optimale Operationstechnik
-
welche Ejakulat-Analysen nach einer Vasektomie notwendig sind
-
das Prozedere bei persistierendem Spermatozoen-Nachweis (Vasektomie-Fehler)
-
das Komplikationsspektrum der Operation
Vasektomie-Technik
Die EAU-Leitlinie empfiehlt ebenso wie die AUA-Leitlinie grundsätzlich folgende Techniken:
-
partielle Exzision des Vas deferens und Ligatur oder Versorgung mit Clips
-
die Interposition von Gewebe zwischen die Stumpfenden
-
die Kauterisierung des endoluminalen Lumens
Die Autoren der EAU-Leitlinie stellen fest, dass eine Früh-Rekanalisation durch die
Kauterisierung des Lumens und Interposition reduziert werden kann (Level 1a, Grad
A). Gleichzeitig sagen sie, dass keine der Vasektomie-Techniken der anderen überlegen
ist. Die AUA-Leitlinie hat unterschiedliche Studien (n=89) mit einer Gesamtzahl von
126821 Patienten aufgelistet und kommt zu einer Fehlerrate von < 1%. In der ausführlichen
Diskussion wird keine Technik eindeutig präferiert, wobei jedoch die Dissektion mit
Kauterisierung und Interposition von Gewebe mit einer Fehlerrate von 0–0,55% besonders
effektiv erscheint.
Weiterhin führt diese Leitlinie aus, dass üblicherweise 1cm Exzision eine "adäquate"
Länge der Resektion darstellt. Eine routinemäßige histopathologische Untersuchung
des resezierten Vas-Präparats wird nicht empfohlen (AUA). In der EAU-Leitlinie findet
sich hierzu keine Ausführung. Da der sogenannte Identifizierungsirrtum eine juristische
Bedeutung haben könnte, sollte unseres Erachtens mit dem Patienten vorab geklärt werden,
ob er bereit ist, bei der Operation auch die Kosten für eine pathologisch-histologische
Untersuchung des Resektats zu übernehmen.
Ejakulat-Untersuchungen nach Vasektomie
Ejakulat-Untersuchungen nach Vasektomie
Nach Vasektomie wird eine sexuelle Karenz von 1 Woche (AUA Leitlinie) empfohlen. Die
erste Ejakulat-Untersuchung sollte im Abstand von 3 Monaten erfolgen. Die EAU fordert
bis dahin eine "adäquate" Zahl von ca. 20 Ejakulationen. Die Ejakulat-Analyse sollte
grundsätzlich nur in Laboren mit andrologischer Expertise durchgeführt werden. Über
die Empfehlungen der WHO zur Ejakulat-Diagnostik [
4
] hinaus gilt hier die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer
Untersuchungen ("RiLiBÄK") mit ihrem zum 1. Januar 2011 in Kraft getretenen speziellen
Teil B4 [
5
], die eine Pflichtteilnahme an externen Qualitätskontrollen beinhaltet (z.B. Ringversuchsprogramm
der Deutschen Gesellschaft für Andrologie: QuaDeGA, www.quadega.de).
Gemäß WHO [
4
] ist eine Azoospermie bei fehlendem Nachweis von Spermien in Nativpräparaten des
Ejakulats erst dann zu diagnostizieren, wenn auch nach Zentrifugation eines Probenaliquots
von 1ml bei 3000 x g für 15min in 2 unabhängigen und vollständig durchzumusternden
Präparaten des Sedimentes keine Spermien aufzufinden sind (je nach Größe des Deckglases
2 x ca. 500 Blickfelder). Zu beachten ist, dass selbst unter den o.g. Bedingungen
im Überstand noch Spermien vorhanden sein können [
6
]. Für den Nachweis einzelner, im Ejakulat verbliebener motiler Spermien ist methodisch
die komplette Durchmusterung von Präparaten des unverdünnten Ejakulates ohne Fixation
oder Zentrifugation zu bevorzugen [
4
].
In Diskrepanz zu den WHO-Empfehlungen fordert die AUA-Guideline für den Nachweis einer
Azoospermie lediglich das Fehlen von Spermatozoen in einem nicht zentrifugierten Ejakulat
bei Durchmusterung von mindestens 50 Gesichtsfeldern eines Nativpräparates. Entsprechende
Ausführungen hierzu gibt es in der EAU-Guideline nicht.
Vasektomie-Fehler
Ein Vasektomie-Fehler ist primär mit einer ausbleibenden Azoospermie nach einem ausreichenden
Zeitraum nach Vasektomie anzunehmen (AUA-Guideline). Üblicherweise wird ein chirurgischer
Fehler diskutiert, der davon ausgeht, dass das Vas nicht reseziert wurde. Nach der
AUA-Guideline ist der Nachweis von 100000 immotilen Spermatozoen pro ml bei Untersuchung
des nativen Ejakulats (50 Gesichtsfelder, s.o.) ein wichtiges Kriterium. Als Ursache
hierfür wird der Verbleib immotiler Spermatozoen distal der Vasektomie, z.B. im Bereich
der Bläschendrüsen angesehen. Von Seiten der EAU wird ebenso eine Grenze bei Nachweis
100000 immotiler Spermatozoen pro ml gesetzt. Ein derartiger Befund 3 Monate nach
der Vasektomie wird jedoch nicht als Hinderungsgrund angesehen, den ungeschützten
Geschlechtsverkehr freizugeben (Level 3, Grad B). Einschränkend wird hier ausgeführt,
dass sehr selten nach vorangehenden negativen Befunden wieder motile Spermien im Ejakulat
auftreten können. Diese Beobachtung steht in Einklang mit den bereits unter physiologischen
Bedingungen bestehenden erheblichen Schwankungen der Spermienkonzentration bzw. -gesamtzahl
im Ejakulat [
4
]. Entsprechend sollte eine Azoospermie in mehreren Spermiogrammen bestätigt werden.
Zu Recht weist die EAU-Guideline darauf hin, dass eine dauerhafte Aufhebung der Fertilität
nicht garantiert werden kann. Mit der Komplikation einer späten Rekanalisierung ist
in 0,03–1,2% der Fälle zu rechnen [
2
].
Die Persistenz oder das Wiederauftreten motiler Spermatozoen nach mehr als 6 Monaten
wird als Indikation angesehen, die Vasektomie zu wiederholen (EAU-/AUA-Guideline).
Die Autoren sind der Meinung, dass es gerade bei einer juristischen Auseinandersetzung
über Freigabe des ungeschützten Geschlechtsverkehrs für den Urologen häufig schwierig
sein wird, eindeutig nachzuweisen, dass keine motilen, sondern nur immotile Spermatozoen
in geringer Zahl im Ejakulat nachzuweisen waren (s.o.). Darum ist in Abweichung von
der AUA-Guideline zu empfehlen, Ejakulat-Befunde auf der Basis der oben dargestellten
WHO-Empfehlungen einschließlich der geforderten Qualitätssicherung durchzuführen bzw.
in einem entsprechend ausgewiesenen Labor durchführen zu lassen.
Komplikationen
Die Vasektomie ist komplikationsarm. Symptomatische Hämatome und Infektionen treten
bei 1–2% der operierten Männer auf, chronisch skrotale Schmerzen bei 1–2% (AUA-Guideline).
Die in der EAU-Guideline referierten Komplikationsraten liegen höher: bei bis zu 22%
für Hämatome, für den Skrotal-Schmerz bis 14%, für die Persistenz von motilen Spermatozoen
bis 5,3% und für die Spätkanalisierung bis 1,2%. Träfen diese hohen Zahlen auch bei
geübten Vasektomie-Operateuren wirklich zu, wäre die Vasektomie wahrscheinlich keine
gängige Operationsmethode.
Die aktuell verfügbaren Leitlinien zur Vasektomie stehen nicht im Widerspruch zu bewährten
Operationstechniken. Methodische Unschärfen ergeben sich allerdings hinsichtlich der
postoperativen Ejakulatuntersuchungen; der Nachweis einer Azoospermie sollte gemäß
WHO-Empfehlungen geführt und durch Wiederholungsuntersuchung(en) bestätigt werden.
Als komplikationsarmes Verfahren stellt die Vasektomie unverändert eine wichtige Säule
im Spektrum der kontrazeptiven Maßnahmen dar.
Prof. Dr. Wolfgang Weidner,
PD Dr. Immo Schroeder-Printzen,
Prof. Dr. Hans-Christian Schuppe,
Giessen
Korrespondenz:
wolfgang.weidner@chiru.med.uni-giessen.de