DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2013; 11(3): 6-7
DOI: 10.1055/s-0032-1328573
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Im Gespräch mit … Dr. Dina Guerassimiouk

Eva Möckel
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Publication Date:
11 July 2013 (online)

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Abb. 1  „Was ich mir auch wünsche von den Kollegen ist ein guter kollegialer Austausch mit Ärzten. Osteopathen sollten keine Scheu davor haben, ein Kind auch zum Arzt zu schicken, um die Diagnose zu bestätigen oder zu verfeinern.“ Foto: © privat
Dr. Dina Guerassimiouk D. O. lehrt seit 2000 am College Sutherland in Hamburg Neuroanatomie und Embryologie des Nervensystems sowie Neurologie. Sie hat in Sankt Petersburg Medizin studiert. Ende der 1980er-Jahre begann sie, inspiriert durch Viola Fryman D. O., sich mit Osteopathie zu beschäftigen. Sie lebt nun seit 20 Jahren in Hamburg, wo sie als Ärztin in einem sozialpädiatrischen Zentrum und in eigener Praxis als Osteopathin tätig ist.

Liebe Dina, vor Deinem Leben in Deutschland hast Du als Ärztin in Russland gearbeitet … wie war das?

Nach meinem Medizinstudium in Sankt Petersburg, bei dem ich mich auf Pädiatrie und Neurologie spezialisierte, habe ich 3 Jahre in einem Krankenhaus in Nowgorod gearbeitet. In dieses Kreiskrankenhaus kamen alle schwersten neurologischen Fälle und ich konnte als junge Ärztin dort sehr viel lernen. Später schrieb ich meine Doktorarbeit über die medikamentöse Behandlung von Kindern mit Zerebralparesen und Epilepsie. Da bei diesen Kindern die Funktion der Blut-Hirn-Schranke gestört ist, liegen – wie wir nachgewiesen haben – bei ihnen im Vergleich zu Patienten mit essenzieller Epilepsie die Antiepileptika im Blut in geringerer Konzentration vor, weswegen sie niedrigere Tagesdosen benötigen. 1989 wurde ich Assistentin des Professors am Lehrstuhl für Neurologie und Genetik der Medizinischen Hochschule für Pädiatrie in Sankt Petersburg. Parallel dazu arbeitete ich als Neuropädiaterin.

Wie ist Dir dann im Russland der 1980er-Jahre die Osteopathie begegnet?

Ich habe schon immer gerne mit den Händen gearbeitet, bereits als Medizinstudentin hatte ich Körper- und Gesichtsmassage gelernt und es hat mich fasziniert, wie nach einer Gesichtsmassage der gesamte Körper anders daliegt und man danach deutlich gelassener ist. Ich hatte auch Fußreflexzonenmassage gelernt und Akupunktur, womit ich z. B. bei Kindern mit Fazialisparese sehr gute Erfolge erzielen konnte. Dann hatten die Leiter eines Orthopädiezentrums in Sankt Petersburg Viola Fryman auf einem Kongress kennengelernt. Sie hatte eingewilligt, einen ausgewählten Kreis von Neurologen bzw. Orthopäden mit besonders guten Anatomie- und Physiologiekenntnissen osteopathisch fortzubilden. Mein Mann, Prof. William Goussel, und ich sollten die Kollegen aussuchen. Da bekam auch ich Interesse, daran teilzunehmen. Viola unterrichtete uns zusammen mit ihren Kollegen intensiv, wie es ihre Art ist, 14 Tage lang, von morgens 8:30 Uhr bis abends 22:00 Uhr – auch sonntags. Sie sagte, ich mache mit euch, was man sonst in Jahren macht. Danach sollten wir sofort mit der osteopathischen Arbeit beginnen. Ich war erstaunt, wie gut die klinischen Ergebnisse oft waren.

 1992 bist Du dann nach Hamburg gekommen, wie kam es dazu?

Mein Mann William, der an der Medizinischen Hochschule für Pädiatrie den Lehrstuhl für Pädiatrie, Pharmakotherapie und klinische Pharmakologie innehatte, und ich wurden von Frau Dr. Flehmig, der Leiterin eines großen sozialpädiatrischen Zentrums in Hamburg, eingeladen, an einem Kongress in Deutschland teilzunehmen. Da Frau Dr. Flehmig auch sehr an der Osteopathie interessiert war, ergab es sich, dass wir für ein Jahr ans Flehming-Institut eingeladen wurden, um dort wissenschaftlich und praktisch zu arbeiten. Ich hatte dort Gelegenheit, Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, schweren Stoffwechselerkrankungen, Zerebralparese und schwerer Epilepsie osteopathisch zu behandeln. Bei solchen Patienten zählt auch ein kleiner Erfolg, der die Lebensqualität verbessern kann.

Wie kamst Du ans College Sutherland?

Als 1993 klar wurde, dass wir einige Zeit in Hamburg bleiben würden, begann ich neben meiner 40-Stunden-Woche am Flehmig-Institut mit der 5-jährigen Ausbildung am College Sutherland. Als Studentin konnte ich dann Kontakt zwischen Etienne Cloet, dem damaligen Schulleiter und Frau Dr. Flehmig herstellen, und wir organisierten Hospitationsstunden für die Studenten mit kleinen Patienten aus dem Flehming-Institut. Seit 2000 unterrichte ich Neuroanatomie und Embryologie des Nervensystems, Neurologie, Palpation und Faszien am College. Obwohl ich manchmal kaum weiß, wie ich die Arbeit am Flehmig-Institut, in der eigenen Praxis und am College zusammenbringe, ist der Kontakt mit all den jungen enthusiastischen Osteopathen sehr wohltuend und inspirierend. Und es ist zudem befriedigend, mitzuhelfen, dass der Geist der Osteopathie weiter wächst

Über welches Thema hast Du Deine D. O.-Arbeit geschrieben?

Jens-Peter Markhoff aus meiner Arbeitsgruppe und ich haben 2003 unsere D. O.-Arbeit über die osteopathische Behandlung von auditiven Verarbeitungs-und Wahrnehmungsstörungen verfasst. Wir behandelten Kinder mit Lernproblemen und nachgewiesenen Hörverarbeitungsstörungen, und zwar über einen längeren Zeitraum, mit jeweils 12–14 Behandlungen. Für eine Studie sind längere Behandlungszeiten sinnvoll und Voraussetzung, da sich nur dann die Effektivität der osteopathischen Behandlung besser bestimmen lässt als mit den oft kurzen Behandlungszeiten von etwa 4 Behandlungen. Die Resultate waren auch sehr gut. Es war sehr erfreulich, dass sich nicht nur die Lernfähigkeit bei vielen Kindern verbesserte, sondern die Kinder oft auch deutlich ausgeglichener und kreativer waren.

Dein Mann war der wissenschaftliche Betreuer Eurer D. O.-Arbeit, er ist Co-Autor Eures Kapitels über sensorische Integration im „Handbuch der pädiatrischen Osteopathie“. Arbeitet ihr viel zusammen?

Ja! Wir waren immer auch beruflich sehr im Einklang miteinander. Wir haben uns an der Universität kennengelernt, wo er mein Lehrer war. Jetzt arbeiten wir seit vielen Jahren am Flehmig-Institut zusammen. Schwierige Fälle kann ich sehr gut mit ihm besprechen. Seine beiden Doktorarbeiten hat er der Epilepsie gewidmet. ADHS, Autismus und die infantile Zerebralparese sind einige seiner Schwerpunkte. Er war es auch, der mich damals zur Osteopathie gebracht hat … und jetzt muss er (deswegen) Osteopathen unterrichten. Er ist auch Dozent am College Sutherland.

Du bist ja sowohl Neurologin als auch Osteopathin. Wie denkst Du, haben Deine Kenntnisse der Osteopathie Deine Arbeit als Neurologin verändert?

Nun ja, alle Bereiche befruchten sich immer gegenseitig … Ich habe eine umfassendere Sicht auf die Dinge und achte mehr auf Zusammenhänge, auf Ganzheitliches. Nehmen wir z.B Kinder mit dem Zehenspitzengang, bei denen oft eine leichte spastische Diplegie übersehen wird. Ich glaube, mir gelingt es, diese Pathologie schneller festzustellen, da ich den Patienten auch auf unsere osteopathische Art und Weise palpiere. Diese osteopathische Ganzkörperuntersuchung nehme ich bei jedem Kind vor, unabhängig davon, ob es sich um einen Patienten mit Muskeldystrophie, Lernstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten handelt. Man entdeckt faszinierende Besonderheiten.

Wir alle gehen gerne zu Fortbildungen, auch um uns zu treffen und auszutauschen … Was hast Du in den letzten Jahren gemacht?

Ich habe sehr profitiert von den Pädiatrie-Kursen, die Du, Eva, und Noori Mitha abgehalten habt. Ich war außerdem bei einem Kurs von Jean-Pierre Noelmans D. O., dem belgischen Osteopathen, der auch lange als Dozent im College Sutherland tätig war und auf dem sehr interessanten Faszienkurs von Serge Paoletti. Und ich habe 2 Jahre lang einen Embryologiekurs bei Jean-Paul Höppner und Max Girardin besucht. Zurzeit gehe ich einmal im Jahr zu einem Biodynamikkurs mit Dr. Shaver, was mich sehr inspiriert. Gerne hole ich mir auch Impulse, wenn ich Kollegen beim Unterrichten zuschaue.

Wir lernen als Osteopathen nur im begrenzten Umfang Neurologie. Welche Themen sind aus Deiner Sicht für die Arbeit mit Kindern ein unbedingtes Muss, was sollte man auf jeden Fall wissen?

Als Osteopath sollte man gut Bescheid wissen über die normale Entwicklung eines Kindes und ihre Abweichungen. Die Entwicklung der „Meilensteine“ zu beobachten, kann uns auch Auskunft geben über die Notwendigkeit und Effektivität unserer Behandlung. Dabei ist nicht nur der Zeitpunkt des Entwicklungsschritts wichtig, sondern auch die Qualität der Entwicklungsschritte. Die Normvarianten sind nämlich sehr breit gefächert, der Zeitpunkt alleine sagt noch nicht so viel aus. Diesen Bereich unterrichte ich auch im Rahmen der Ausbildung zum Kinderosteopathen an der OSD, zusammen mit meinem Mann, dessen Themen die sensorische Integration und Wahrnehmungsstörungen sind.

Liebe Dina, ich kenne Dich als eine sehr aktive und viel beschäftigte Osteopathin und Neurologin. Was machst Du in Deiner Freizeit, wie entspannst Du Dich?

Ich habe leider nicht so viel freie Zeit! Wenn ich aus Hamburg wegkomme, dann gehen wir gerne zum Wandern, z. B. lieben wir die Landschaft rund um den Bodensee. Außerdem lese ich gerne. Wenn ich nur wenig Zeit habe, ist es die beste Entspannung für mich, einen Tee zu trinken und kurz in einem Buch abzutauchen. Und ich habe begonnen, ein wenig Klavier zu spielen. Das Klavier, das hier steht, war eine tolle Überraschung von meiner Familie. Mit meinem 10-jährigen Enkel verbringe ich auch sehr gerne viel Zeit.

Dina, vielen Dank für dieses Gespräch.