Zentralbl Chir 2013; 138(1): 27-28
DOI: 10.1055/s-0032-1328288
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

K.-W. Jauch
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Prof. Dr. Dr. h. c. K.-W. Jauch
Chirurgische Klinik und Poliklinik, Klinikum Großhadern, LMU München
Marchionistraße 15
81377 München

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Publication Date:
28 February 2013 (online)

 

    Das Motto des diesjährigen, 130. Chirurgenkongresses „Chirurgie mit Leidenschaft und Augenmaß“ umschreibt Eigenschaften, die den Chirurgen in seinem täglichen Wirken für den Patienten auszeichnen. Auf der einen Seite der volle Einsatz für den Hilfe suchenden Patienten, der ihm voll vertrauen muss und auf ihn angewiesen ist. Auf der anderen Seite die rationale sowie moralische Rückbesinnung auf das im Einzelfall Sinnvolle und Machbare. Vielleicht ist die tägliche Entscheidungsfindung in diesem Spannungsfeld, vielleicht mehr noch, diesem Grundkonflikt des menschlichen Lebens, vor allem des Zusammenlebens, der wesentliche Faktor für Anziehungskraft und Ansehen der Chirurgie als Königsdisziplin der Medizin auch in der heutigen Gesellschaft.

    Im Rahmen der Thementage setzt die Patientensicherheit und Qualitätssicherung in Zusammenhang mit Leitlinien und individualisierter Chirurgie ganz bewusst den Schlusspunkt der Tagung. Der Kongress insgesamt weist mit den weiteren Themen der alternden Gesellschaft, Arbeitsplatzgestaltung und Innovation bis hin zu Patientensicherheit und Qualitätssicherung einen Spannungsbogen auf, wie er sich uns berufspolitisch und im Einzelfall stellt. Da für den älteren Menschen Gesundheit immer mehr zu einem zentralen, im wahrsten Sinne überlebenswichtigen Thema wird, gewinnt der Sicherheitsanspruch gegenüber der Risikobereitschaft der jüngeren Generation immer mehr an Gewicht. Dieser Grundkonflikt zwischen Risikobereitschaft und Sicherheitsbedürfnis stellt sich bei vielen Indikationsstellungen. Auch intraoperativ oder im Notfall muss der Chirurg oft akut, unter Druck Entscheidungen fällen, dennoch aber mit Augenmaß, d. h. verantwortungsbewusst unter Einbeziehung der Sicht des Patienten und seiner Wünsche. Eine große Gefahr ist hierbei die Entwicklung hin zur Defensivmedizin, um vor dem Hintergrund politisch falscher Heilsversprechungen und überhöhter Erwartungen an Ergebnisqualität bei gleichzeitiger medikolegaler Verschärfung den potenziellen Bestrafungen bei Nichteintreten des Erfolgsfalles zu entgehen.

    Eine einfache und naheliegende Konsequenz aus dieser Konfliktsituation und den Anforderungen an die Chirurgie ist folgerichtig die weitest mögliche Absicherung der Ergebnisqualität mittels Standardisierung optimierter Prozesse, Qualitätssicherungsmaßnahmen und Spezialisierung mit Zentrenbildung ähnlich wie in der produzierenden Industrie. Das Ganze wird durch eine Zertifizierung nach innen und außen sichtbar, transparent gemacht, um womöglich dem Patienten bei seiner Entscheidung für eine Behandlung die Wahl zu erleichtern. Die Gefahr dabei ist, einer Idealvorstellung von einer heilen Welt mit eindimensionalen Kausalitäten zu erliegen, die letztlich auch eine De-Professionalisierung unseres freien Berufsstands fördert.

    Nach wie vor kommen die meisten Patienten auf persönliche Empfehlung zu uns und entscheiden aufgrund unseres persönlichen Rates, basierend auf quasi der „goldenen Regel“, Entscheidungen und Vorgehensweise so zu gestalten, als ob es einen selbst beträfe. Die Begeisterung für die Chirurgie gründet für mich in dieser Frage und der Verantwortungsübernahme für den Nächsten in Kombination mit dem handwerklichen Tun, entsprechend dem Dreiklang: „Hirn, Herz und Hand“. Dennoch müssen wir uns auch den Herausforderungen der Zentrenbildung und Zertifizierung stellen, wie sie in diesem Themenheft des Zentralblatts behandelt werden, und kritisch prüfen, ob der Weg richtig ist oder welche Fehlentwicklungen drohen und welche Anpassungen notwendig und politisch zu vertreten sind.

    Die Zahl der Zertifizierungen, an der sich eine große Klinik mit den Fachgebieten Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie beteiligen kann, ist schier unbegrenzt. Durch den Nationalen Krebsplan werden wohl die Zertifizierungen der Deutschen Krebsgesellschaft durch die Fa. Onkozert zu einem festen Pflichtbestandteil werden und sich bundesweit auch mithilfe politischer Vorgaben durchsetzen. Vor diesem Hintergrund ist es leicht verständlich, dass hier auch noch weitere „Module“ wie das Pankreasmodul entwickelt werden. Allein jetzt zählt die Homepage (www.onkozert.de) 6 Zentren und 3 Module auf, an der z. B. unsere Klink der Maximalversorgung an einer Universität 7-fach beteiligt ist. Dies bedeutet sieben mal Mitwirkung bei Handbuch, Audit, Dokumentationspflichten, Tumorboards und Rezertifizierung. Aber auch sieben mal finanzielle Belastung und Ausgaben, die irgendwo abgespart werden müssen. Eine Tatsache, die uns von der Vielzahl der möglichen Zertifizierungen zwangsweise abhält.

    Die chirurgischen Fachgesellschaften haben mit dem Ziel der Qualitätssicherung und Transparenz für den Patienten und Kostenträger ebenfalls ein umfangreiches Zertifizierungsprogramm aufgelegt, das zu strukturellen Veränderungen der Krankenhauslandschaft führt, wie am Beispiel der Versorgung von Bauchaortenaneurysmen oder im Bereich der Traumazentren am deutlichsten erkennbar wird. Hier stehen sicherlich patientenzentrierte Qualitätsanforderungen im Fokus, die dann jedoch personelle Veränderungen mit Ausbau eines Schwerpunktes oder auch Schließung eines Angebotes zur Folge haben können.

    Die Servicegesellschaft der DGAV zertifiziert neun Zentren (siehe www.dgav.de/savc/zertifizierungen) mit unterschiedlichen Kompetenzebenen. Hierbei standen die Erfahrungen in der Endoskopie und Sonografie, am Anfang unter Einbindung von Strukturgesichtspunkten, im Vordergrund. Leitungsfunktion und Kompetenz, Weiter- und Fortbildung, Zugriff auf Räume, Medizintechnik und Personal sollten neben einer Absicherung der Prozess- und Ergebnisqualität auch das Überleben der Spezialität innerhalb der Chirurgie, aber auch gegenüber anderen Fachdisziplinen unterstützen. Inzwischen ist vermeintlich die Ergebnisqualität aus der Sicht des Patienten mehr in den Vordergrund gerückt. Die kritischen Fragen zu Mindestzahlen der Eingriffe und Wahl, Zuverlässigkeit sowie Grenzwerten der Qualitätsparameter müssen jedoch weiter gestellt und beantwortet werden.

    Freys und Mitarbeiter stellen in diesem Heft die Zentrenbildung in der Viszeral- und Allgemeinchirurgie kritisch dar. Sie fordern zum einen eine Vereinheitlichung der Qualitätsindikatoren, die ehrliche Trennung von Marketing und Grundversorgung und die Erhaltung der Kernkompetenz einer Klinik, die nicht durch Zentren und Zertifizierung leiden darf. Ein Aspekt, der das ursprüngliche Ansinnen Kompetenzstärkung auf den Kopf stellen würde zugunsten einer „Schmalspur-Spezialität“. Möbius und Schuhmacher sehen die Zentrenbildung als Katalysator der Kommunikation in der Krebsmedizin bei den Maximalversorgern aufgrund ihrer Medline-Recherche. Hier muss man sich im Umkehrschluss fragen, ob es offenbar Kommunikationsdefizite gibt, die anders nicht zu beheben sind. Dies scheint mir ungesichert oder zumindest sollte dies durch Daten und Fakten belegt werden. Klar ist, dass eine Zertifizierung nach DIN oder anderen Kriterien das früher übliche Kommunikationsverhalten, geprägt durch persönlichen Einsatz von Führungspersonen und Schule, zu standardisieren hilft, ohne die Führungskultur und das Verhalten jedes Mitarbeiters in seiner Bedeutung zu ersetzen. Die o. g. Punkte werden am Beispiel der Darmkrebszentren in den Arbeiten von Klaue und Sahm et al. dargestellt, wobei die Einschätzung letztlich von einem „Garanten der kontinuierlichen Weiterbildung“ bis hin zur „Infragestellung der Qualitätsverbesserung“ reicht. Es liegt offenbar wie so oft und bei vielen Dingen nicht an der Struktur und Methode, sondern an den handelnden Personen, ihrem Verantwortungsbewusstsein und der jeweiligen Führungskultur, ob das Ziel „Qualitätsweiterentwicklung und Patientensicherheit“ erreicht wird. Das bedeutet jedoch auch immer, die Bereitschaft zu zeigen, sich selbst und seine Ergebnisse kritisch zu prüfen und zu hinterfragen, um mit oder ohne Zertifizierung den geforderten Ansprüchen gerecht zu werden. Wenn dies akzeptiert wird, muss der Ressourceneinsatz einer Zertifizierung in vielfacher Sicht infrage gestellt werden. Auch die Zertifizierer müssen sich fragen lassen, ob ihr Mittelverbrauch, gespeist aus dem Topf der Sozialversicherungsbeiträge, effizient eingesetzt ist oder Fehlallokationen mit im Spiel sind.

    Zwei Arbeiten in diesem Heft beleuchten schließlich die Etablierung eines MVZ (Krüll, Rudolph). Beide Arbeiten belegen, dass sektorenübergreifende Behandlungswege mit dem Instrument eines MVZ aus Sicht der Klinik und Patientenbehandlung effizient und kostengünstig gestaltet werden können. Die Entwicklung der MVZ bundesweit, aber auch Vorteile sowie Nachteile und Gefahren einer MVZ-Gründung sind gut verständlich dargestellt und wir Chirurgen sollten dieses Feld nicht den Geschäftsführungen und anderen Disziplinen wegen falscher Orientierung auf unsere Kernkompetenz – „OP“ – überlassen.

    Ich hoffe, dieses Themenheft stimuliert Sie zur Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unseres Versorgungssystems und Sie bringen Ihre Leidenschaft für die Chirurgie zugunsten der Patientenversorgung, der Kliniken und ihrer Mitarbeiter sowie der Fachgesellschaft ein. Der kommende Chirurgenkongress wird diese Themen wie auch andere spannende Fragen unseres Berufsstandes umfassend beleuchten und zur Diskussion stellen und ist somit die ideale Gelegenheit, sich darüber auszutauschen.

    Karl-Walter Jauch


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