retten! 2012; 1(4): 258-261
DOI: 10.1055/s-0032-1327476
Recht & Berufspolitik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Viele Alte – wenig Junge – Rettungsdienst in Zeiten des demografischen Wandels

Rico Kuhnke
,
Volker Wanka
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Rico Kuhnke
Volker Wanka

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Publication Date:
02 October 2012 (online)

 

Zusammenfassung

Deutschland altert, und das bekommt auch der Rettungsdienst zu spüren: durch steigende Einsatzzahlen, mehr Pflege bedürftige und immer weniger Nachwuchs. Lesen Sie hier, wie sich die Bevölkerungsentwicklung auswirkt.


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Rico Kuhnke ist Schulleiter der DRK-Landesschule BW und war viele Jahre als Lehrrettungsassistent tätig. Er ist Mitherausgeber von retten!. E-Mail: r.kuhnke@drk-ls.de

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Volker Wanka ist Oberarzt am Institut für Anästhesiologie (Enzkreisklinik Neuenbürg) und ärztlicher Leiter des dort stationierten NEFs. Er ist Mitherausgeber von retten!. E-Mail: Volki.Ramoni@gmx.de

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Entwicklungen im Rettungsdienst

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Erst in den 1970er Jahren wurde der Rettungsdienst in der BRD konsequent umgesetzt – als öffentliche Aufgabe der Gefahrenabwehr und Daseinsvorsorge. Die Grundlage für eine bedarfsgerechte, hilfsorientierte und flächendeckende Versorgung der Bevölkerung haben in den letzten 30 Jahren die Rettungsdienstgesetze (RDG) der Länder geschaffen. Doch Einsatzspektrum und Aufgaben des Rettungsdienstes haben sich über die Zeit stark geändert: Eintreffzeiten von weniger als 15 min, GPS-Navigation, algorithmenbasierte Versorgung, medikamentöse Stabilisierung vor Ort, Monitoring, Intensivverlegungsfahrten und Qualitätsmanagement-Systeme auf den Rettungswachen sind mittlerweile Standard.

Heute beschäftigt der Rettungsdienst ca. 40 000 hauptamtliche Rettungsassistenten, -sanitäter und -helfer. Zusätzlich arbeiten dort viele ehrenamtliche Helfer und Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) bzw. Bundesfreiwilligendienst (BFD).

Das Einsatzaufkommen liegt pro Jahr bei ca. 4,7 Mio. Notfalleinsätzen (inkl. Notarzt) und 5,5 Mio. Krankentransporten [Abb. 1].

Aufgrund des demografischen Wandels ist in den nächsten Jahren mit einer Zunahme der Fahrten zu rechnen – bei gleichzeitig dünnerer Personaldecke.

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Abb. 1 Das Einsatzaufkommen in den Jahren 2004 / 2005 lag insgesamt bei 10,2 Mio. – das sind ca. 123 Einsätze pro1000 Einwohner. Nach [6].

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Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung

Bevölkerungsabnahme

Der aktuelle Bericht der Bundesregierung zur demografischen Entwicklung des Landes macht deutlich [1]: Seit 2003 nimmt die Bevölkerung stetig ab. Besonders drastisch ist dieser Rückgang bei Menschen im erwerbsfähigen Alter von 20–65 Jahren. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes wird bis zum Jahr 2030 die Zahl der Erwerbsfähigen von derzeit 49,8 Mio. auf 43,5 Mio. sinken.


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Auswirkung auf den Rettungsdienst

Das hat eine Zuspitzung der Personalsituation zur Folge. Während auf der einen Seite in den nächsten Jahren viele Mitarbeiter in den Ruhestand gehen, fehlen andererseits junge Menschen, die sich für eine Tätigkeit im Rettungsdienst interessieren.

Auf politischer Ebene nimmt man das bereits wahr: So zeigen die Strategiepapiere der Bundesverbände von DRK, JUH, Malteser oder ASB die Probleme auf und machen Vorschläge für zukunftsfähige Lösungen. In den Rettungsdiensten vor Ort wird häufig der Status Quo verwaltet und man verschließt noch die Augen vor den Veränderungen.

In den nächsten Jahren verschärft sich die Personalsituation im Rettungsdienst deutlich.

Dabei ist der Personalengpass schon heute durch den Wegfall von Wehrpflicht und Zivildienst latent – die doppelten Abiturjahrgänge im FSJ und BFD verschleiern ihn noch. Spätestens wenn diese Helfer aus dem Dienst ausscheiden, wird es an Nachwuchs mangeln.


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Beruf attraktiver gestalten

Zurzeit ist der Andrang auf die Rettungsdienstschulen groß – was sich durch die verschärfte Studien- und Ausbildungssituation erklären lässt. Entspannt sich dort die Lage, wird der Rettungsdienst mit Angeboten konkurrieren müssen, die jungen Menschen mehr Perspektiven bieten. Ob sich Schulabgänger für einen Beruf gewinnen lassen, bei dem sie den theoretischen Teil der Ausbildung selbst finanzieren müssen, ist zweifelhaft. Um konkurrenzfähig zu sein, muss sich das Berufsbild Rettungsassistent zu einem modernen Ausbildungsberuf wandeln und Entwicklungspotenzial bieten, wie z. B. Bachelor- und Masterstudiengänge (q siehe auch Beitrag „Das Notfallsanitäter-Gesetz – Pro und Contra“ S. 254).


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Mehr ältere Mitarbeiter im Rettungsdienst

Optimierte Arbeitsbedingungen

Erst recht, wenn es an Nachwuchs mangelt, müssen die Arbeitsbedingungen für die vorhandenen Mitarbeiter optimal sein. Nur so ist ein zufriedenes Arbeitsleben bis zum Ruhestand möglich.

Im Moment fehlt es an tragfähigen Konzepten für ältere Kollegen im Rettungsdienst.

Besonders mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre stellt sich die Frage, wie ältere Kollegen die psychisch und physisch anstrengende Tätigkeit bis zur Rente durchhalten können. Die Lösung liegt in einem funktionierenden Gesundheitsmanagement mit

  • Betriebssport,

  • Ernährungsberatung,

  • Angeboten zur Krankheitsvorsorge, wie z. B. Rücken-Training, und

  • einem angenehmen Arbeitsklima.

Zusätzlich müssen Ideen entwickelt werden, wie man Mitarbeiter mit körperlichen Einschränkungen passend in anderen Bereichen einsetzen kann. Große Konzerne haben bereits das nötige Know-how und können Vorbild sein. Ein Beispiel sind Personalentwickler, die bei Fragen zur Karriereplanung zur Verfügung stehen oder gemeinsam mit dem Mitarbeiter Lösungen bei individuellen Problemen erarbeiten.


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Ärztemangel auch im Rettungsdienst

Mehr Standorte – weniger Ärzte

Längst ist es Realität: Den Kliniken fällt es immer schwerer, Medizinier für den Notarztdienst zur Verfügung zu stellen – besonders im ländlichen Raum. Die Hilfsfristenregelung tut ihr Übriges: Durch die vielen neuen Notarztstützpunkte steigt der Bedarf an Notfallmedizinern zusätzlich an.

Auch den Einsatz des Notarztes im Rettungsdienst muss man neu überdenken.

Handlungspotenzial besteht hier ganz unabhängig vom demografischen Wandel. So sprechen aktuelle Zahlen von einer Fehlfahrtenrate von 8 % – das sind jährlich mehr als 996 000. Diese Zahl ließe sich durch optimierte Notfallabfragen reduzieren – man bräuchte insgesamt weniger Notärzte und die Situation würde sich zumindest etwas entspannen.


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Kompetenzen erweitern und Telemedizin einsetzen

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Muss immer ein Notarzt beteiligt sein oder kann man teilweise die Kompetenzen der RettAss erweitern? Im Einsatz könnten sie telemedizinische Hilfe erhalten – durch einem Notarzt auf der Leitstelle als ständigem Ansprechpartner. Er könnte den Patienten via Bild- und Tonübertragung sowie EKG-Übermittlung beurteilen und die Kollegen vor Ort unterstützen. Schon heute ist diese Technik vorhanden – man müsste sie nur nutzen.


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Höhere Pflegebedürftigkeit und ihre Folgen

Mehr Pflegebedürftige

Betrachtet man die Grafiken zur Altersstruktur unserer Gesellschaft, lässt sich das steigende Durchschnittsalter bei gleichzeitig rückläufiger Geburtenrate gut erkennen. Es entsteht der sog. „Rentnerbauch“ [Abb. 2]. Im Jahr 2040 wird jeder Zweite in der BRD über 50 Jahre alt sein – und mit dem Alter nehmen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronische Erkrankungen sowie die Morbidität zu. Die Pflegebedürftigkeit kann daher als Indikator für den Rettungsdienst gelten. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird sich

  • von heute 2,4 Mio.

  • auf 3,4 Mio. im Jahr 2030 und

  • auf 4,5 Mio. im Jahr 2050 entwickeln.

Jan Felix Gauger beziffert den Anstieg der Einsatzfahrten bis 2050 in seiner Bachelor-Arbeit auf 19 % [3]. Damit würden die Fahrten von derzeit 123 auf 146 pro 1000 Einwohner steigen.

Durch die veränderte Altersstruktur nehmen die Einsätze im Rettungsdienst weiter zu.

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Abb. 2 Altersstruktur in Deutschland 2010, 2030 und 2050: steigendes Durchschnittsalter, sinkende Geburtenrate

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Knappe Ressourcen optimal einsetzen

Das Plus an Einsatzfahrten ließe sich mit mehr Personal bewältigen. Da es künftig aber genade daran mangelt, bleibt nur eine Lösung: Die vorhandenen Mitarbeiter und Resourcen optimal einsetzen. Der Fokus muss dabei auf den Leitstellen liegen, die die nötigen Fahrzeuge disponieren: Technik muss konsequent genutzt, Fachpersonal noch stärker professionalisiert werden: Der Leitstellendispatcher der Zukunft ist hoch spezialisiert, verfügt neben rettungsdienstlichen und einsatztaktischen Erfahrungen über Kompetenzen im Bereich Kommunikation sowie Führung und kann die moderne Disponierungstechnik sicher anwenden – was auch angemessenen vergütet werden muss.


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Verändertes Einsatzspektrum

Es ist anzunehmen, dass chronische Erkrankungen, psychiatrische Einsätze und geriatrische Meldebilder zunehmen. Entsprechend muss sich dies in der Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter widerspiegeln. Es gehört dann verstärkt zu den Aufgaben:

  • Symptome chronischer Erkrankungen sicher von akut auftretenden Symptomen bei lebensbedrohlichen Notfällen zu unterscheiden

  • Ansprechpartner bei der Betreuung und Begleitung von älteren Patienten zu sein

  • mit geriatrischen Erkrankungen wie Demenz, Parkinson und Alzheimer sicher umzugehen


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Steigende Gesundheitskosten

Da die Bevölkerung älter und pflegebedürftiger wird, aber die Zahl der Beitragszahler sinkt, nehmen die Kosten im Gesundheitswesen zu. Außerdem macht die Teilhabe aller am medizinischen Fortschritt das System teurer. Das betonte auch Kanzlerin Merkel in ihrer Rede zur Demografiestrategie der Bundesregierung [7].

Die Folgen für den Rettungsdienst sind: 

  • Entgeltverhandlungen spitzen sich in Zukunft weiter zu.

  • Bei vielen Verhandlungen oder Ausschreibungen stehen die Kosten im Vordergrund – eine Beschreibung der Qualität von Leistungen fehlt oft.

Der zunehmende Kostendruck könnte die Versorgungsqualität mindern.

Bei den Bundesverbänden versucht man, den Rettungsdienst als eigenständige medizinische Leistung im Sozialgesetzbuch V zu verorten. Davon versprechen sich die Befürworter eine klare Beschreibung von Mindeststandards und Qualität, damit zumindest der Status quo erhalten bleibt.


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Veränderungen auf dem Land und in der Stadt

Wachstum und Schrumpfung

Der demografische Wandel wirkt sich auf ländliche und urbane Strukturen aus. Hier lässt sich allerdings noch kein eindeutiger Trend erkennen. Wachstums- und Schrumpfungsprozesse finden oftmals gleichzeitig und in enger räumlicher Nähe statt. Entscheidend für diese Veränderungen ist die regionale wirtschaftliche Lage.


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Landflucht

Besonders aus ländlichen Regionen in Ostdeutschland wandern junge Menschen in die Städte ab – zurück bleiben stark verwurzelte, meist ältere Menschen.

  • Weniger Menschen bedeuten zwar weniger Einsätze, doch die Versorgung der Bevölkerung muss weiterhin gewährleistet werden.

  • Oft ist die Krankenhausdichte in diesen Regionen unzureichend. Weite Strecken zu Schwerpunktkliniken binden Einsatzfahrzeuge und Personal lange.

Das erfordert neue Vorgehensweisen: Bereits heute zeichnet sich ab, dass Helikopter die Situation teilweise entlasten können.


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Entwicklungen in der Stadt

Auch in den Städten ändern sich die Strukturen. Viele Kliniken entwickeln sich mehr und mehr zu Schwerpunktkliniken mit spezifischer fachlicher Ausrichtung und schließen sich zu Klinikverbünden zusammen. Dadurch wächst der Bedarf an Verlegungsfahrten zwischen den Kliniken. Der Rettungsdienst ist gut beraten, dabei die Kooperation mit den Kliniken zu suchen. Andernfalls ist zu befürchten, dass viele Kliniken entsprechende Strukturen schaffen und die Patienten selbst transportieren.


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Fazit

Auch der Rettungsdienst bleibt vom demografischen Wandel nicht verschont: Konnten die bestehenden Strukturen die Veränderungen der letzten Jahre noch kompensieren, wird es in den nächsten Jahren nötig sein, diese neu zu überdenken und anzupassen. Schlüsselrollen spielen dabei die Personalpolitik und eine konsequente Prozessoptimierung. Nur wenn das gelingt, kann der Rettungsdienst die Qualität der Versorgung weiterhin garantieren.

Kernaussagen

  • Die Personalsituation im Rettungsdienst spitzt sich zu.

  • In Zukunft gibt es mehr Pflegebedürftige. Chronische und geriatrische Krankheiten müssen deshalb Teil der Ausbildung sein.

  • Innovative Ideen und Prozessoptimierungen können die Versorgungsqualität trotz steigender Kosten sichern.

  • Mit optimierten Notfallabfragen und einer Kompetenzerweiterung für Rettungskräfte kann man den Ärztemangel teilweise abfangen.

  • Aufgrund der Strukturänderungen in Stadt und Land sollte die Disposition der Fahrzeuge verbessert und der verstärkte Einsatz von Hubschraubern erwogen werden.

Beitrag online zu finden unter http://www.dx.doi.org/10.1055/s-0032-1327476


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Ergänzendes Material


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Abb. 1 Das Einsatzaufkommen in den Jahren 2004 / 2005 lag insgesamt bei 10,2 Mio. – das sind ca. 123 Einsätze pro1000 Einwohner. Nach [6].
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Abb. 2 Altersstruktur in Deutschland 2010, 2030 und 2050: steigendes Durchschnittsalter, sinkende Geburtenrate