? Laufen Eltern Gefahr, dass trotz rechtzeitiger Ultraschalluntersuchung ein Hüftgelenksschaden
bei ihrem Kind unentdeckt bleibt?
Das ist leider so, ja. Ich bin gutachterlich bei der Kassenärztlichen Vereinigung
tätig, was meinen Sie, was dort gelegentlich für ein Theater inszeniert wird. Kollegen,
denen bei den Prüfungen womöglich die Zulassung entzogen wurde, haben ja die Möglichkeit,
in Widerspruch zu gehen oder ein Beratungsgespräch zu führen. Manche kamen in der
Vergangenheit immer wieder mit den gleichen Fragen und den gleichen Fehlern. Und mit
Büchern von vor 25 Jahren!
? Die Qualitätssicherungsvereinbarung Säuglingshüfte nach § 135, Absatz 2 SGB V, alias
Anlage V der Ultraschall-Vereinbarung ist seit April erneuert. Abgesehen davon, dass
man beim Nachsprechen solch langer Titel leicht ermüdet: Wird die Novellierung die
Qualität verbessern?
Ich hoffe ja. Zumindest sind jetzt viele Fehler der alten Vereinbarung ausgeräumt
worden.
? Ein Beispiel?
Wir haben viele Jahre in der Praxis mit einer wissenschaftlich völlig unhaltbaren
Vorschriftenlage kämpfen müssen. Standard ist bei uns ja die Sonographie der Säuglingshüfte
nach Graf (Anm. Red. der österreichische Orthopäde Reinhard Graf ist Entwickler von
Untersuchungsmethode und Algorithmus für die Früherkennung von Hüftgelenksschäden
bei Säuglingen mittels Ultraschall). Wer sie macht, muss sie eben auch nach Graf machen
und das heißt, immer auch z. B. zwei Winkel zu erfassen, den so genannten Alpha- und
den Beta-Winkel, die den vorläufigen deskriptiven Befund mittels standardisierter
Messtechnik absichern bzw. verifizieren.
? Genau so fordert es schon die 2005 aufgelegte "Überprüfung der ärztlichen Dokumentation
bei der Säuglingshüfte (siehe auch links unter Weiter lesen in der Online-Version).
Was ist jetzt neu?
Theoretisch war das schon vorgeschrieben, wurde aber in der Praxis oft unterlassen,
vor allem weil diese Regelung mit den Kinder-Richtlinien konkurrierte.
? Welche die Untersuchung überhaupt erst flächendeckend seit 1996 einführten?
Korrekt. Sie wird seither als Hüftscreening im Rahmen der U3 vor allem von Kinderärzten
gemacht. Und die Kinder-Richtlinien fordern im Dokumentationsbogen nur den Alpha-Winkel.
Das ist wissenschaftlich unhaltbar.
? Und die Qualitätsvereinbarung nach der Ultraschall-Vereinbarung griff bislang nicht?
Nein, oft nicht. Weil die Bedingungen für die "präventive" Untersuchung von den Kinder-Richtlinien
bestimmt werden, die ja auch extrabudgetär vergütet werden mit der Gebührenziffer
152 und 450 Punkten. Die "präventive" Untersuchung ist zeitlich auf die vierte und
fünfte Woche nach der Geburt limitiert.
Findet die Untersuchung hingegen nur einen Tag früher oder später statt, ist das für
das Abrechnungssystem ein "kurativer" Ultraschall mit Gebührenziffer 33 051, 325 Punkte.
Mit Verweis auf die Kinder-Richtlinien haben besonders Pädiater daher immer wieder
bei den Qualitätsprüfungen argumentiert, dass doch beim "präventiven" Ultraschall
allein der Alpha-Winkel ausreicht und sie den Beta-Wert doch gar nicht brauchten.
? Wer blickt da durch?
Keiner. Das war eine total groteske Situation. Eine regelrechte Bürokratielawine auch
in Diskussionen unserer Sonographiekommission in der KV Westfalen-Lippe wurde losgetreten.
? Zum Beispiel?
Da kamen Fragen wie: Darf bei der "präventiven" Untersuchung der Beta-Winkel überhaupt
genannt werden? Wie ist es zu beurteilen, wenn er falsch angegeben wurde? Ist das
dann zu werten oder darf das nicht bewertet werden? Das Ergebnis war in der Praxis
allzu oft die Devise: In der vierten und fünften Woche ist der Beta-Winkel nicht erforderlich,
vorher und hinterher hingegen schon. Motto: Präventiv wird ja aus einem anderen Topf
bezahlt und zwar viel besser, ergo gelten auch andere Qualitätsanforderungen. Das
war offiziell so.
Um eine Korrektur herbeizuführen, war es unbedingt notwendig, die Ultraschall-Vereinbarung
bei der KBV zu korrigieren.
? Und?
2007 habe ich im Auftrag des BVOU und mit Unterstützung unserer KV Westfalen-Lippe
eine Zusammenstellung mit den Widersprüchen in den verschiedenen Vorschriften und
Verbesserungsvorschläge an die KBV geschickt, zumal bekannt war, dass dort eine Neufassung
der Ultraschall-Vereinbarung in Arbeit war. Gehört habe ich erst mal gar nichts. Als
dann die Neufassung der Vereinbarung 2009 veröffentlicht wurde, fand sich in der Anlage
V nicht eine einzige textliche Richtigstellung!
Diese Zusammenhänge habe ich in den Orthopädie Mitteilungen und beim Kinder- und Jugendarzt
veröffentlicht. Ins Rollen gebracht hat die Sache erst ein Vortrag von mir auf dem
DKOU in Berlin 2010, bei dem ein Vertreter des GKV-Spitzenverbandes mich anschließend
ansprach. Seither hat sich der GKV-Spitzenverband sehr für eine Verbesserung eingesetzt,
das Ergebnis ist die Novellierung, die wir jetzt endlich haben.
? Und jetzt ist das Problem gelöst?
Es ist nicht perfekt, aber ich bin zuversichtlich, dass die Qualitätsprüfungen jetzt
sinnvoll laufen werden. Die KBV hat eine "Fachgruppe Hüftsono" installiert, die kurz
nach den Sommerferien ihre Arbeit beginnen wird. Die Beurteilungs- und Bewertungskriterien
sollen erneut diskutiert werden, um vor allem eine einheitliche Prüfung in allen KVen
garantieren zu können, was übrigens in der neuen Vereinbarung festgeschrieben ist.
? Am Widerspruch von Qualitätssicherungsvereinbarung und Kinder-Richtlinien hat sich
bis heute vom Text her allerdings doch gar nichts geändert?
In der Tat, und in §6 der Qualitätssicherungsvereinbarung steht sogar immer noch ein
Hinweis, dass die Dokumentation nach den Kinder-Richtlinien erfolgen soll. Das ist
antiquiert, warum soll man auf etwas verweisen, was fehlerhaft ist? Ich wollte diesen
Verweis gestrichen haben, konnte mich damit aber leider nicht durchsetzen.
Die Kinder-Richtlinien sind wiederum Sache des G-BA und damit eine andere Baustelle.
Nebenbei: Der dafür zuständige Ausschuss des G-BA sitzt in Berlin im gleichen Gebäude
wie die KBV. Insofern ist Satz 1 im §6 eher als Mitteilung an die Damen und Herren
des G-BA zu verstehen, die jetzt endlich die Richtlinien der Vereinbarung anpassen
müssen. Prinzipiell gilt jetzt aber: ob "präventiv" oder "kurativ" die neue Anlage
V der Ultraschall-Vereinbarung muss von allen KVen umgesetzt werden.
? Vor Ort werden damit jetzt die Prüfungen durch die Qualitätssicherungskommissionen
stimmiger?
Ja, denn es gibt jetzt ja auch neu immer eine Initialprüfung, bei der die ersten 12
abgerechneten Fälle geprüft werden. Besonders gut finde ich, dass der Prüfalgorithmus
vollständig umgebaut wurde und die sture und kostenträchtige zweijährige Prüfung nach
Konsentierung mit den Spitzenverbänden auf 5 Jahre erhöht werden konnte. Getreu dem
Motto: wer das Fahrradfahren richtig gelernt hat, kann das auch noch nach zwei Jahren!
Außerdem wird jetzt ab einer bestimmten Zahl schwerer Mängel die Zulassung sofort
entzogen – wer sie dann wieder will, muss erst eine Fortbildung nachweisen. Das ist
neu, auch der Fortbildungsinhalt ist detailliert beschrieben. Früher konnte jemand
durchfallen und nach drei oder sechs Monaten fing er automatisch wieder an. Theoretisch
war es möglich, dass jemand Jahr um Jahr weiter gearbeitet hat, ohne die Methode wirklich
zu beherrschen. Das wollten wir unterbinden und das haben wir jetzt mit dieser Regelung
ganz gut hingekriegt.
? Welche Probleme bleiben?
Eines sehe ich weiterhin darin, dass die KVen nach wie vor unterschiedlich streng
prüfen könnten. Auch das konnten wir ja 2007 erst überhaupt einmal unabhängig nachweisen.
? Wie das?
Die KBV bekam zwar schon seit 2005 die Daten zu den Prüfergebnissen aus allen KVen,
wollte die aber um Gottes Willen erst gar nicht zeigen, schon gar nicht den Kassen
geben. Das, was dann später veröffentlicht wurde, war überhaupt nicht brauchbar, da
die Parameter nicht zusammen passten und der Kern des Übels nicht erkannt werden konnte.
Deshalb habe ich mit Hilfe der KVWL 2007 auch begonnen, eine Statistik zusammen zu
stellen. Aus acht KVen haben wir die Zahlen bekommen. Sie waren frappierend unterschiedlich.
Allein hier in NRW. Die KV Westfalen Lippe entzog 2007 43,7 % der Geprüften zur Säuglingshüfte
die Zulassung für die Untersuchung, bei der KV Nordrhein waren es gerade mal 3,8 %.
Da habe ich gesagt, wir leben doch in ein- und demselben Bundesland, diese Unterschiede
können ja nicht alleine darin begründet liegen, dass im Rheinland ein besonders fröhlicher
Menschenschlag lebt.
? Nein, die Rheinländer waren qualitativ einfach besser?
Natürlich (lacht), auch im Osten waren die Ergebnisse durch die Bank immer wesentlich
besser als im Westen der Republik. Langer Rede, kurzer Sinn: Es wird bis heute massiv
unterschiedlich überprüft in den einzelnen KVen. Für die Daten bekam ich eine Art
Maulkorb. Ich durfte sie erst jetzt 2012 veröffentlichen.
? Heute ist die KBV Statistik differenzierter. Auch dort deuten sich Unterschiede
je nach KV an (siehe den KBV-Qualitätsbericht 2011).
Ja, jede KV hat ihren eigenen Prüfstil. Erfreulicherweise, auch das sei gesagt, hat
dann die ganze Situation ab 2010 doch dazu geführt, dass die KBV eingelenkt hat. Prof.
Graf und ich konnten später als beratende Sachverständige bei der KBV vortragen. Am
Ende haben GKV-Spitzenverband und KBV als Partner der Bundesmantelverträge an der
Richtigstellung der alten Vereinbarung gearbeitet.
? In fünf Jahren sollte dann auch die Prüfstatistik überall viel bessere Ergebnisse
bringen?
Dass sie durchschlagend besser sein werden, halte ich für unwahrscheinlich. Dafür
brauchen wir eine andere Form der Weiterbildung und auch der Zulassung.
? Eine Begrenzung auf bestimmte Facharztgruppen?
Nein, eine Fachgruppenbegrenzung nur für Orthopäden, Kinderärzte und Radiologen besteht
ja schon. Ich meine eine eigene Abrechnungszulassung. Wir haben ein Qualitätssicherungssystem
der KBV, was mangelnde Qualität erst feststellen kann, nachdem die Kollegen bereits
etliche Kinder in ihrer Praxis geschallt haben. Viel besser wäre es, wenn alle von
vorneherein richtig schallen. Mit anderen Worten: Dass sie es gelernt haben.
? Tun sie doch, sie müssen ja unter anderem 200 Fälle nachweisen, die meisten Pädiater
und auch Orthopäden leisten dies mit ihrer Weiterbildung.
Naja. Nehmen wir einfach mal die Zahlen aus unserer KV-Westfalen-Lippe, die bundesweit
immer noch offenbar am schärfsten kontrolliert. Jetzt stellt sich die Frage, warum
fallen so viele durch? Antwort: Weil sie es nicht können. Warum können sie es nicht?
Weil nur an wenigen Kliniken eine strukturierte Ausbildung im Rahmen der Weiterbildung
durchgeführt wird, bzw. mangels fehlender Kinder auch nicht möglich ist.
? Trotz der 200 absolvierten Fälle?
Zur Validität der Zahlenangaben in den Facharztzeugnissen habe ich meine Zweifel.
Neulich war ich wieder bei einer Facharztprüfung für Kinderärzte dabei. Neun angehende
Kinderärzte waren da und hatten alle exakt 200 Kinder bzw. 400 Hüftgelenke laut Zeugnis
geschallt. Legt man dann Bildmaterial vor und fragt möglicherweise auch nach dem Hüfttyp,
dann erfährt man häufig wenig. Mein Vorschlag: Die Säuglingssonographie sollten wir
aus der Weiterbildung vollständig herausnehmen, weil viele Weiterbildungsstätten diese
spezielle Weiterbildung offenbar nicht erfüllen können.
? Und stattdessen?
Eine eigene Prüfung für den Ultraschall der Säuglingshüfte vor der Ärztekammer. Das
hat nur Vorteile. Derjenige, der die Untersuchung später durchführen möchte, muss
sie wirklich strukturiert lernen, kann sie dafür dann richtig und hat zudem Freude
daran. Wer hingegen sein ganzes Leben lang nie wieder Säuglingshüften schallt, wieso
muss der damit in seiner Weiterbildung überhaupt traktiert werden?
? Ein Unfallchirurg nicht?
Zum Beispiel. Nehmen wir den "neuen" Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie.
In der Regel wird heute in den Facharztprüfungen kaum zur Säuglingshüfte geprüft –
auch wenn es prinzipiell Prüfgegenstand ist. Und das spricht sich dann auch schnell
unter den Prüflingen herum.
Neulich habe ich aber erlebt, dass ein Kandidat wider Erwarten doch einmal gefragt
wurde und dann glatt durchfiel, weil er dazu überhaupt nichts wusste. Er hat sich
dann beim Vorsitzenden beschwert, er wolle doch Unfallchirurg werden und hätte niemals
mehr etwas mit der Säuglingshüfte zu tun. Und ich finde, er hat am Ende nicht so unrecht.
? Wenn ihr Vorschlag Schule macht, müssten Ärzte womöglich bald wieder für viele weitere
Ultraschalluntersuchungen eigene Zusatzprüfungen ablegen?
Ja und? Das hatten wir doch schon. Bis 1988 mussten alle Kinderärzte und bis 1993
alle Orthopäden für die Abrechnungsfähigkeit bei der KV ein Kolloquium bestehen. Da
konnte man die Spreu vom Weizen trennen. 1988 ist die Sonographieweiterbildung dann
bei den Kinderärzten und Radiologen, 1993 auch bei den Orthopäden in die Facharztweiterbildung
integriert worden. Das Ergebnis sehen wir in den miserablen Werten der Qualitätssicherung.
Ich plädiere allein deshalb schon für die Rückkehr zur separaten Zulassungsprüfung.
Obendrein müsste eben nicht jeder zur Facharztprüfung zugelassene Kollege dann die
Sonographie der Säuglingshüfte nach Graf beherrschen und, ganz nebenbei, der Chefarzt
würde nicht genötigt, ein Gefälligkeitszeugnis auszustellen. Und manche Kollegen würde
das auch noch vor den Enttäuschungen bei der Qualitätssicherung bewahren.
Das Interview führte: BE