Aktuelle Dermatologie 2013; 39(06): 218-222
DOI: 10.1055/s-0032-1326292
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurophysiologie des Juckreizes[*]

Neurophysiology of Itch
M. Schmelz
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Martin Schmelz
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
Theodor-Kutzer Ufer 1 – 3
68135 Mannheim

Publication History

Publication Date:
10 June 2013 (online)

 

Zusammenfassung

Die neuronalen Verarbeitungswege für Juckreiz können in die Histamin-abhängigen und Histamin-unabhängigen unterteilt werden. Allerdings kann auch die Aktivierung von normalerweise schmerzverarbeitenden Neuronen Juckreiz auslösen; damit ist eine exakte Trennung von Neuronen in Nozizeptoren und Prurizeptoren nicht mehr einfach möglich. In dieser Übersicht werden die neurophysiologischen Mechanismen des Juckreizes unter physiologischen Bedingungen beschrieben, die jedoch auch bei Patienten mit chronischem Juckreiz bedeutsam sein können. Die Mediatoren für Juckreiz und Schmerz überlappen zu einem großen Teil und auch die Muster der peripheren und zentralen Sensibilisierung sind bei Juckreiz und Schmerz überraschend ähnlich. Es ist daher von großer klinischer Bedeutung, inwiefern die Ähnlichkeiten auch therapeutische Implikationen haben und damit Analgetika auch anti-pruritische Wirkung haben können.


Abstract

Histaminergic and non-histaminergic neuronal pathways for itch have been found in humans. However, even pathways normally involved in pain processing can cause itch. Thus, the differentiation between neuronal pathways for itch and pain has now become disputable. In this review neurophysiological mechanisms that underlie itch sensations under physiological conditions will be discussed that might also be operational in chronic itch conditions. Peripheral mediators of itch and pain overlap to a large extent, and also patterns of peripheral and central sensitisation are similar in chronic pain and chronic itch conditions. It will be of major interest to assess whether the underlying mechanisms for central sensitisation in the itch and pain pathways are also similar, as this might have major therapeutic implications.


Primär afferente Neurone des Juckreizes

Die Spezifitätstheorie des Juckreizes schien mit der Beschreibung von Histamin-empfindlichen C-Fasern beim Menschen ihre Bestätigung zu finden [1]. Die Histamin-empfindlichen Neurone gehören zu der Klasse der mechano-insensitiven C-Nozizeptoren, während die mechanisch empfindlichen polymodalen Nozizeptoren nicht oder nur gering durch Histamin erregbar sind [2]. Die Histamin-empfindlichen prurizeptiven Neurone sind weiterhin gekennzeichnet durch eine auch für C-Fasern geringe Leitungsgeschwindigkeit, große Innervationsgebiete und hohe elektrische Erregungsschwellen [1] [2] [3]. Entsprechend der großen Innervationsgebiete ist die 2-Punkt-Diskrimination für Histamin-induzierten Juckreiz sehr grob (15 cm am Oberarm) [4]. Die spezifische Erregung der Histamin-empfindlichen C-Fasern durch das schwache Pruritogen Prostaglandin E2 [2] [5] lieferte starke Argumente für ein Juckreiz-spezifisches neuronales Verarbeitungssystem.


Histamin-unabhängige prurizeptive Neurone

Die Axonreflexrötung als Zeichen der neurogenen Vasodilatation umgibt beim Menschen den Ort einer Histaminstimulation und ist durch Neuropeptidfreisetzung von mechano-insensitiven C-Fasern vermittelt [6]. Juckreiz kann jedoch auch Histamin-unabhängig und ohne begleitende Axonreflexrötung ausgelöst werden, z. B. durch Papain [7] oder schwache elektrische Reize [8] [9]. Auch die Härchen der Juckbohne (Cowhage) erzeugen beim Menschen Histamin-unabhängigen Juckreiz, der in seiner Intensität dem Histamin gleichkommt [10] [11]. Allerdings werden insbesondere mechano-sensitive polymodale C-Nozizeptoren durch Cowhage erregt, sowohl bei der Katze [12], bei Primaten [13] [14] und beim Probanden [15].

Jüngste Daten weisen darüber hinaus darauf hin, dass auch Aδ-Fasern durch Cowhage-Härchen aktiviert werden [16] und dass somit auch dünn myelinisierte Fasern an der Juckempfindung beteiligt sein könnten.

Die aktive Substanz in Cowhage ist die Cystein-Protease Muconain, die kürzlich charakterisiert wurde und insbesondere die Protein-aktivierten Rezeptoren (PAR) PAR 2 und PAR 4 aktiviert [17].

Mit der Aktivierung von polymodalen Nozizeptoren durch Cowhage lässt sich die Spezifitätstheorie des Juckreizes nicht mehr vollständig aufrechterhalten, da offensichtlich die Erregung von polymodalen Nozizeptoren mit Schmerz oder Juckreiz verbunden sein kann. Unklar ist zudem, warum die Aktivierung von polymodalen Nozizeptoren durch Kratzen oder Hitze einen bestehenden Juckreiz temporär unterdrückt, bei Aktivierung durch Cowhage ihn jedoch auslösen kann.


Spinale prurizeptive Neurone

Durch Histamin aktivierbare Juckreiz-spezifische Neurone wurden auch im Hinterhorn der Katze beschrieben. Histaminiontophorese aktivierte dabei thalamische Projektionsneurone im Hinterhorn mit dem gleichen Zeitgang [18] wie für den Juckreiz beim Menschen. Auch diese Projektionsneurone waren mechano-insensitiv und unterschieden sich so von den nozizeptiven Projektionsneuronen. Die Histamin-positiven Neurone hatten darüber hinaus auch eine unterschiedliche Projektion in den Thalamus [19].

Auch jüngere Studien an Mäusen unterstützen die Existenz von Neuronen mit spezifischer Funktion in der Juckreizverarbeitung: So wurde die Rolle des Gastrin Releasing Peptide Receptors (GRPR) in verschiedenen Juckreizmodellen an der Maus belegt [20]. Die selektive Zerstörung von Neuronen mit dem GRPR mit einem Toxin, das an einen Liganden des Rezeptors gebunden wird (bombesin-saporin), unterdrückte das Kratzverhalten der Tiere komplett, ließ jedoch das Schmerzverhalten unverändert [21]. Damit erschienen GRPR-positive Neurone des Hinterhorns als unentbehrlich für den Juckreiz. Allerdings zeigten weitere Versuche, dass bombesin-induzierter Juckreiz nicht durch Blockade des GRPR unterdrückt werden kann [22]. Die Verbindung von GRPR und Juckreizneuronen ist somit noch nicht vollständig geklärt.

Im Gegensatz zu den bisherigen Daten, die die Spezifitätstheorie des Juckreizes unterstützen, antworteten Histamin-positive Projektionsneurone beim Affen auch auf mechanische Reize und Capsaicin [23] [24]. Auch in Nagetieren fanden sich Überlappungen zwischen nozizeptiven und prurizeptiven Neuronen [25] [26]. Ohne Juckreiz-spezifische Neurone kann die Juckreizentstehung durch selektive Neurone erklärt werden, die zwar auch durch schmerzhafte Reize erregt werden, aber insbesondere durch Pruritogene [27] [28] [29] [30] [31] [32] [33].

Bei der Frage nach der Spezifität ist jedoch auch zu klären, ob die Mediatoren, mit denen die Spezifität getestet wird (z. B. Histamin und Capsaicin), selbst auch wirklich spezifisch Juckreiz bzw. Schmerz auslösen [33]: Das klassische Algogen Capsaicin verursacht generell Schmerz bei der Gabe in menschliche Haut. Allerdings ruft es Juckreiz hervor, wenn es auf inaktivierten Cowhage-Härchen in die Haut appliziert wird [11]. Dieses Ergebnis ist von großer Bedeutung, da offensichtlich die räumliche Art der Applikation von Capsaicin die hervorgerufene Empfindung von Schmerz in Juckreiz wandeln kann. Die äußerst lokalisierte Gabe in der Epidermis aktiviert lediglich die unmittelbar an die Cowhage-Härchen angrenzenden Nozizeptoren, während deren Nachbarn unerregt bleiben, da die Diffusion von Capsaicin limitiert ist. Die Diskrepanz von aktivierten und nicht aktivierten Nozizeptoren trotz überlappenden Innervationsgebieten könnte vom ZNS als Juckreiz interpretiert werden [15]. Das resultierende Kratzverhalten würde auch teleologisch Sinn machen, da ein Agens, das nur eine minimale Ausbreitung in der Epidermis hat, leicht herausgekratzt werden kann.


Modulation des Juckreizes durch Schmerzreize

Schmerzhafte Reize wie das Kratzen, aber auch elektrische Reize („cutaneous field stimulation“) unterdrücken Juckreiz bis zu einem Abstand von ca. 20 cm am Unterarm, was für einen zentralen Mechanismus spricht [34]. Auch innerhalb der durch Capsaicin induzierten sekundären Hyperalgesie ist der Juckreiz unterdrückt [35]. Dieser zentrale Effekt ist jedoch zu unterscheiden von dem neurotoxischen lokalen Effekten des Capsaicins, durch den die Terminalen der C-Fasern zerstört werden, darunter auch diejenigen, die den Juckreiz vermitteln [36].

Interessanterweise kann Juckreiz jedoch auch durch Hemmung der Schmerzverarbeitung verstärkt werden [37]. Dies ist insbesondere für den Juckreiz von Bedeutung, der durch Opiate hervorgerufen wird und bei spinaler Gabe oft segmental angegeben wird [38]. Jüngere Daten deuten darauf hin, dass die analgetische und prurizeptive Wirkung durch unterschiedliche Isoformen des µ-Opiatrezeptors (MOR1 vs. MOR1 D) vermittelt wird, was weitreichende therapeutische Implikationen hätte [39].

Im Gegensatz zu µ-Opiatrezeptoren haben kappa-Opioidrezeptoren eine anti-pruritische Wirkung; so reduziert der κ-Opioid-Agonist Nalbuphine den Juckreiz, der durch µ-Agonisten ausgelöst wurde [40], und erste klinische Tests waren erfolgreich bei chronischen Juckreizpatienten [41].

Für die Unterdrückung des Juckreizes durch noxische Reize scheint insbesondere eine Subpopulation von Nozizeptoren verantworlich zu sein, die den vesikulären Glutamattransporter 2 (VGLUT 2) besitzt [42] [43]. Mäuse, die für VGLUT2 defizient waren in Neuronen, die auch den spannungsabhängigen Natriumkanal NaV1.8 exprimieren (conditional knock outs), zeigten in Modellen für neuropathischen und inflammatorischen Schmerz massiv reduzierte Antworten. Demgegenüber war jedoch ihr spontanes und induziertes Kratzverhalten stark gesteigert [42]. In diesen Mäusen wandelte sich Capsaicin-induziertes Schmerzverhalten in Kratzen um [42], was für eine spezifische Juckreizhemmung durch VGLUT2-positive Nozizeptoren spricht. Die Charakterisierung dieser Nozizeptorpopulation ist noch nicht vollständig klar, da eine andere Forschergruppe ähnliche Ergebnisse erhielt, wenn VGLUT2 selektiv in TRPV1-positiven Nozizeptoren (statt NaV1.8) ausgeschaltet wurde [43].


Neue Mediatoren des Juckreizes

Proteinasen

Proteinase-aktivierte Rezeptoren (PAR2) wurden sowohl mit Juckreiz [26] [44] [45] [46] als auch mit Schmerz [47] [48] in Verbindung gebracht. Jüngere Arbeiten haben darüber hinaus Hinweise darauf gegeben, dass PAR-2-aktivierende Peptide über Mitglieder der Mas-related G-protein-coupled receptor-Familie wirken, die exklusiv in primären Afferenzen exprimiert wird, nämlich MrgprC11 [49]. Dies ist insofern von Bedeutung, als ein weiterer Aktivator von MrgprC11, das bovine adrenal medulla 8 – 22 peptide (BAM8 – 22), sowohl in Mäusen [50] als auch beim Menschen Juckreiz auslöst [51].


Chloroquin und Toll like receptor 7 Agonisten

Das Malariamedikament Chloroquin kann Juckreiz als Nebenwirkung erzeugen, ruft aber auch nach subkutaner Injektion Juckreiz in Mäusen hervor. Der dafür verantwortliche Rezeptor auf den primären Afferenzen ist wiederum ein Mitglied der Mas-related G-protein-coupled receptor-Familie: MrgprA3 [50]. Die MrgprA3-positiven Neurone coexprimierten, toll like receptor 7 (TLR 7)- und TLR 7-defiziente Tiere zeigten reduziertes Kratzverhalten gegenüber PAR2-Agonisten, Endothelin, Serotonin und Choloroquin, nicht jedoch Histamin [52]. Bemerkenswerterweise scheinen die Signalwege für PAR-2, MrgprC11 (aktiviert durch BAM8-22) und MrgprA3 (aktiviert durch Chloroquin) auf TRPA1 zu konvergieren [33] [53].


Lysophosphatidyl-Säure (LPA)

Die Identifikation von LPA als Pruritogen für den cholestatischen Juckreiz bei Schwangeren [54] war ein Meilenstein in der klinischen Juckreizforschung. Die Serumspiegel von LPA und seinem Schlüsselenzym Autotaxin korrelierten mit der Stärke des Juckreizes der Patientinnen, wohingegen andere Parameter der Cholestase keine Korrelation aufwiesen [54], was auf eine enge Beziehung von LPA und dem Juckreiz schließen lässt. LPA wird zudem eine Rolle bei der Induktion des neuropathischen Schmerzes beigemessen [55] [56].



Sensibilisierung für Juckreiz

Für den Entzündungsschmerz gelten klassische Mediatoren wie Bradykinin, Serotonin, Prostanoide und niedriger pH-Wert als Auslöser, da sie Nozizeptoren erregen bzw. sensibilisieren können. Darüber hinaus scheinen auch trophische Faktoren, z. B. Nervenwachstumsfaktor NGF, am chronischen Entzündungsschmerz beteiligt zu sein [57]. Auch beim chronischen Juckreiz scheint NGF eine wichtige Rolle zu spielen: In pathophysiologischen Tiermodellen des Juckreizes wurden erhöhte NGF-Spiegel gefunden und das Kratzverhalten durch Blockade des NGF unterdrückt [58] [59] [60]. Erhöhte NGF-Spiegel und Korrelationen zur Juckreizstärke wurden auch bei Patienten mit atopischem Ekzem gefunden [61]. Humanexperimentell konnte bislang insbesondere die sensibilisierende Wirkung von NGF auf Schmerzreize bestätigt werden [62] [63] [64]. Jüngste Arbeiten konnten jedoch zusätzlich zeigen, dass zum Zeitpunkt der maximalen mechanischen Hyperalgesie nach NGF auch der Juckreiz auf Cowhage erhöht ist [65], während der durch Histamin ausgelöste Juckreiz unverändert war. Es zeichnet sich damit ab, dass Sensibilisierungsphänomene nicht nur beim chronischen Schmerz, sondern auch beim chronischen Juckreiz von wesentlicher Bedeutung sind. Die große Überschneidung von Mediatoren von Schmerz und Juckreiz lässt erhoffen, dass therapeutisch ähnliche Ziele eine analgetische bzw. antipruritische Wirkung erzielen können.

Die Ähnlichkeiten zwischen Juckreiz und Schmerz sind bei der zentralen Sensibilisierung am eindrucksvollsten. Während die Aktivierung von Chemonozizeptoren z. B. durch Capsaicin neben dem Schmerz eine zentrale Überempfindlichkeit gegenüber Nadelstichen (punctate hyperalgesia) und gegenüber dynamischen Berührungsreizen (brush evoked allodynia) hervorruft [66], so wird durch Histaminapplikation eine ähnliche Sensibilisierung ausgelöst. In der Umgebung der Histaminapplikationsstelle werden dynamische Berührungsreize als Juckreiz empfunden (itchy skin, alloknesis) [67] [68]. Durch Nadelstichreize ausgelöster Juckreiz in der Umgebung der Histaminapplikationsstelle wird als ‚hyperknesis‘ bezeichnet [37]. Die Analogie zwischen Sensibilisierung für Juckreiz und Schmerz wird darüber hinaus auch durch ähnliche Befunde bei Juckreiz- und Schmerzpatienten erweitert: Bei Patienten mit neuropathischem Schmerz löste eine Histaminapplikation Schmerz anstatt Juckreiz aus [69] [70]. Bei chronischen Juckreizpatienten hingegen werden normalerweise schmerzhafte noxische Reize als juckend empfunden, wenn sie auf oder in der Nähe von juckenden Ekzemen appliziert werden [71].


Perspektiven

Die Erforschung des Juckreizes hat durch die Entdeckung neuer spezifischer Rezeptoren auf Juckreiz-verarbeitenden Neuronen einen wichtigen Schritt gemacht, um die Lücke zwischen funktio­nellen und strukturellen Untersuchungen zu überbrücken. Die Entdeckung des ersten Markers für cholestatischen Juckreiz zeigt darüber hinaus, dass die Ergebnisse nicht von ­theoretischem Interesse sind, sondern hohe klinische Relevanz besitzen.

Die überraschend ähnlichen Muster der peripheren und zentralen Sensibilisierung bei Schmerz und Juckreiz lassen zudem erhoffen, dass therapeutische Ziele ebenso überlappen und damit teilweise identische Therapiekonzepte eingesetzt werden können.



Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Erstpublikation in Klin Neurophysiol 2012; 43: 280 – 283



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Prof. Dr. med. Martin Schmelz
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
Theodor-Kutzer Ufer 1 – 3
68135 Mannheim