Meine Erinnerungen an das Tuberkulose-Krankenhaus Stapelburg
Da nach der erzwungenen Auflösung der Lungenheilstätte 1952 wahrscheinlich nur noch
wenige Zeitzeugen, die Mitarbeiter dieses Krankenhauses waren, zu finden sein werden,
möchte ich hier meine Erinnerungen wiedergeben.
Ich selbst begann meine ärztliche Tätigkeit am 24.5.48 als Assistenzarzt an diesem
Hause, nachdem ich im Februar 1948 aus englischer Kriegsgefangenschaft in Munster-Lager
entlassen wurde. Als Spätheimkehrer nach 4-jähriger Gefangenschaft hatte ich große
Schwierigkeiten, zumal ich Heimatvertriebener war, in den Westzonen eine Anstellung
zu finden. Um meiner in Wernigerode nach der Vertreibung aus dem Sudetenland untergekommenen
Frau und unserem damals 4-jährigem Kind zu helfen, nahm ich das Angebot des Chefarztes
des Landes-Tuberkulose-Krankenhauses Stapelburg Herrn Dr. Erich Homborg an, bei ihm
als Assistenzarzt anzufangen. Dr. Homborg nahm regelmäßig in der Tbc-Beratungsstelle
Wernigerode, an der meine Frau als Röntgen-Laborantin arbeitete, die Füllung der ambulanten
Pneumothoraxpatienten vor.
Das Krankenhaus lag im idyllischen Eckergrund etwa 2 – 3 km vom Grenzort Stapelburg
entfernt. Die Grenze bildete die Ecker, ein Gebirgsbach, der aus der Eckertalsperre
floß und durch die damals die Grenze zwischen der sowjetischen und der englischen
Zone ging.
Das Tbc-Krankenhaus wurde im Zuge der dringend notwendigen Betten zur Bekämpfung der
rasant entstandenen Tbc-Seuche nach dem Ende des Krieges im Gelände der Naturheilstätte
Jungborn errichtet, deren Besitzer, die Familie Just, nach Harzburg übersiedelt waren.
Jungborn wurde im Sinne eines Kneipkurbades geführt und muß einen weitbekannten Ruf
gehabt haben. So entdeckte ich einmal, beim Lesen eines Buches über Franz Kafka, dem
bekannten deutsch-jüdischen Prager Dichter, daß dieser auch einmal Kur in Stapelburg
machte und von dort Briefe an seine damalige Freundin in Berlin schrieb.
Die einzelnen Abteilungen der Heilstätte behielten ihre traditionellen Namen aus der
Jungborn-Zeit. So gab es einen Herren- und Damenpark, die durch eine Holzwand getrennt
waren. Außer einer aus zusammenhängenden Zimmern befindlichen Abteilung waren in dem
weitläufigen Park unter Bäumen einzelne Hütten vorhanden mit 1 – 2 Betten und einer
Wasserstelle vor der jeweiligen Hütte. Diese Hütten waren bei den meisten Lungenkranken
sehr beliebt. Allerdings gab es auch welche, die sie für primitiv hielten und es unter
,,ihrer Würde hielten“, dort untergebracht zu werden. So erlebte ich einmal, daß ein
junger Tbc-kranker Arzt, nachdem er vormittags aufgenommen wurde, schon am Nachmittag
die Einrichtung wieder verließ und auf eigene Kosten in eine andere Harz-Heilstätte
fuhr und die Kosten dafür dann bei der Krankenversicherung einreichte.
Das Haus, in dem sich die OP-Räume befanden und in dem die operierten Patienten lagen,
übrigens auch die Privatpatienten, hieß „Haus Maria“. Dicht am Grenzbach lag „Weidmannsruh“.
Hier befand sich auch das Labor. Das „Lindenhaus“ lag an einem kleinen See. Zur Heilstätte
gehörte eine kleine Landwirtschaft und eine Gärtnerei, was in diesen Nachkriegsjahren
auch für die Ernährung der Patienten Vorteile brachte. Das Personal, unter denen sich
auch Vertriebene neben Einheimischen befanden, wohnte teilweise innerhalb des Krankenhauses.
Die Schwestern waren Diakonissinnen des Mutterhauses „Neuwandsburg“, das sich ursprünglich
in Ostpreußen befand und nach Kriegsende für die Ostzone in Elbingerode, wo es auch
heute noch ist. Ich erinnere mich an ausgezeichnete Schwestern mit großer Hingabe
und Erfahrung, aber auch an jüngere Schwestern, die mit großer Selbstlosigkeit ihren
Dienst an den Lungenkranken verrichteten. Die Oberschwester Anna führte ein strenges
Regime und die Bedürfnisse der Schwestern, was Kleidung, Nahrung und Freizeit betraf,
waren fast puritanisch zu nennen. Trotzdem herrschte auch eine gewisse Fröhlichkeit
unter ihnen und manche Stationsschwester wie z. B. „Friedchen“ im Damenpark strahlten
eine große menschliche Wärme aus.
Das in die Westzonen übersiedelte eigentliche Mutterhaus versuchte die Schwestern
auch materiell zu unterstützen. Das war auf normalem Postweg in die Ostzone und spätere
DDR nicht immer möglich. So blieb es nicht aus, daß ab und zu einmal eine Schwester
den Eckerbach illegal überschreiten mußte, um in der Post im westlichen Eckertal ein
Paket abzuholen.
Die Schwestern beteten dann beim Morgen- oder Abendgebet, daß der „Liebe Gott“ Schwester
. . . beschützen möge, daß sie unbehelligt von der Grenzpolizei zurückkommen möge.
Es geschah aber auch, daß eine Schwester doch „geschnappt“ wurde, und es bedurfte
dann des aktiven Verhandelns mit den Grenzwächtern durch unseren Chefarzt. Über unsere
Erlebnisse mit den deutschen Grenzpolizisten der DDR und den sowjetischen Grenzsoldaten
möchte ich später eingehender berichten.
Unser Chefarzt Dr. Erich Homborg stammte aus Bochum und war ursprünglich Facharzt
für Frauenheilkunde, ein Gynäkologe. Durch eine eigene Tuberkuloseerkrankung war er
in dieses Fach gekommen. Er war eine rheinische Frohnatur und unsere Mitarbeiter,
nicht nur das medizinische Personal verdanken ihm, daß wir auch Stunden fröhlicher
Gemeinschaft verbrachten, Lichtblicke in unserem Dienst an den oft schwersten Verläufen
unserer Kranken, die zum Teil ihre Tuberkulose in Kriegsgefangenschaft oder K.Z. der
Nazi oder nach 1945 der Sowjets erworben hatten. So wurden Theateraufführungen veranstaltet,
denn unter unseren Patienten gab es auch Künstler, Schauspieler oder Sänger wie der
Kammersänger Kaphan, der später zum Händel-Ensemble des Halleschen Theaters gehörte.
Trotz eines Doppel-Pneumothorax sang er uns große Opern-Arien. In der Faschingszeit
gab es immer Abende in der Heilstätte, die Patientinnen, Patienten und uns Mitarbeiter
fröhlich vereinten. Wir hatten eigentlich keine Ansteckungsfurcht, sonst hätten wir
wohl diese Arbeit nicht getan. Oftmals wurde ich ja auch später von Kollegen gefragt,
warum hast Du dich dieser Ansteckungsgefahr ausgesetzt. Nebenbei muß ich allerdings
berichten, daß ich 1949 doch ein spezifisches Infiltrat bekam. Mein Chef meinte, es
genüge, wenn ich mich nachmittags ,,hinlege" und die nötige Menge INH nehme, das gerade
in die Therapie eingeführt wurde. Das Infiltrat wurde übrigens entdeckt, nachdem ich
für einen Patienten Blut gespendet hatte. Erst 20 Jahre später wurde ich dann von
einer Lymphknotentuberkulose überrascht!
Nun komme ich auf die Zusammensetzung unseres ärztlichen Teams. Als ich 1948 anfing,
war Oberarzt Dr. Markgraf, ein Vollchirurg, der auch Dr. Homborg in die Lungenchirurgie
einführte. Diese bestand vor allem in der Thorakoplastik nach Brauer, der Pneumolyse
nach Kremer (Chefarzt der Lungenklinik Beelitz) und in den Thorakokaustiken zur Komplementierung
der unvollständigen Pneumothoraces. Natürlich wurden diese letzteren regelmäßig gefüllt
und dies auch bei ambulanten Patienten. Dr. Markgraf war bekannt dafür, daß er gern
rauchte, und die Patienten bedankten sich mit den damals doch knappen Zigaretten.
Dr. Markgraf übernahm, ich glaube noch 1949, die Tbc-Heilstätte Gommern bei Magdeburg.
Ein weiterer Arzt aus unserem Team, Dr. Schoefer, ging bald darauf mit ihm ebenfalls
nach Gommern. Dr. Schoefer hatte in Stapelburg besonders die oft schwierige Behandlung
der Empyeme durchgeführt, die leider bei der Pneumothoraxbehandlung nicht ausblieben,
sei es spezifischer oder bakterieller Herkunft. Nach dem Weggang von Dr. Markgraf
nach dem Westen übernahm Dr. Schoefer Gommern. Er war ein sehr versierter Lungenchirurg,
der auch schwierigste Eingriffe wagte. So entwickelte er die Kavernostomie, um Kavernen
mit spezifischen Medikamenten direkt zu bekämpfen. In der Resektionstherapie späterer
Jahre führte er auch Operationen bei Bronchial-Ca. bis zu Teilresektionen der Trachea
durch. Ich blieb mit ihm noch viele Jahre in Kontakt. Leider waren seine letzten Lebensjahre
von schweren Erkrankungen umdüstert. Eine tiefe Enttäuschung erlebte er, der gebürtige
Schlesier, 1990 beim Lesen seiner Stasi-Akte, wie er mir erzählte und wie es wohl
manchem Arzt erging, der nicht um wirtschaftlicher Vorteile seine Patienten verließ
und im Westen sein persönliches Heil suchte!
Eine weitere ärztliche Kraft war Frau Dr. Schirmer, eine sehr ruhige, bescheidene
Ärztin, die später die Tbc-Beratungsstelle in Wernigerode übernahm und bald dort an
einer schweren nicht-tuberkulösen Lungenerkrankung starb. Vorübergehend waren außer
mir noch Dr. Hoffmann tätig, der aus russischer Gefangenschaft entlassen wurde und,
wie ich mich erinnere, nach Magdeburg ging. Dr. Stein war ein stets zu Witz aufgelegter
Kollege mit einer reizenden Schwester, die auch bei uns angestellt war. Dr. Stein
übernahm, so ich mich recht erinnere, die Tbc-Beratungsstelle in Bernburg, starb aber
bald.
Zum ersten Stamm in Stapelburg gehörte in erster Linie Dr. Krause, der als Oberarzt
die Tbc-Heilstätte „Waldhöhe“ in llsenburg führte, die Stapelburg angegliedert war
und in der vor allem sehr schwere, meist hoffnungslose Fälle lagen. Dr. Krause, aus
dem Ermsland in Ostpreußen stammend, war ein sehr frommer, aber auch strenger Katholik.
Seine Schwestern waren katholische Borromäerinnen. Dr. Krause, der selbst einen „Befund“
hatte, kam fast täglich mit dem Rad von Ilsenburg durch den herrlichen Buchenwald
zu den Besprechungen gefahren, auch zu den Kaustiken, die er besonders ,,liebte“.
Er hatte eine besondere Therapie bei den Schwersterkrankungen eingeführt, die wir
anderen Ärzte etwas skeptisch betrachteten und die ich nicht weiter ausführen möchte.
Ich würde sie als den Versuch einer Reiztherapie mit dem Versuch einer Verbesserung
der Immunlage der Patienten bezeichnen. Dr. Krause ging 1952 mit Dr. Homborg nach
Schließung von Stapelburg nach Lostau bei Magdeburg in die dortige Lungenklinik und
später nach Frankfurt/Oder, wo er die Tbc-Beratungsstelle führte.
Nach Erwerbung meiner Anerkennung als Facharzt für Lungenkrankheiten wurde ich Oberarzt.
Ein weiterer Kollege war in den 50er Jahren Dr. Süßmilch, der wie ich, aus dem Sudetenland
stammte und vorher in Weimar an Krankenhäusern tätig war. Er war sehr intelligent,
aber auch finanziell sehr versiert und erklärte uns anderen Ärzten bald, wie wir von
der Landesregierung Sachsen-Anhalt, die damals noch bestand, unterbezahlt wurden.
Das freute weniger die zuständigen Behörden, aber umso mehr unsere Ehegattinnen, denn
unsere Lebensverhältnisse in dieser abgelegenen Region an der Zonengrenze waren nicht
rosig. Ich bewohnte mit meiner Frau, unsrem Sohn und dann einer Tochter zunächst eine
kleine idyllisch in einem Nebenpark gelegene „Hütte“, später 2 Zimmer im Lindenhaus,
wo auch unser Chef mit seiner Familie wohnte, und schließlich übersiedelte ich in
das renovierte „Föhrenhaus“, wo früher Holzfäller wohnten. Dr. Süßmilch verließ uns
dann, um eine Oberarztstelle in der Lungenklinik Beelitz anzutreten. Von dort ging
er eines Tages illegal über die Grenze nach Mölln, wo er ebenfalls in einer Lungenklinik
arbeitete, aber allzu früh an einer akuten Lebererkrankung nach einer Hepatitis starb.
Die Gattin von Dr. Homborg, Frau Lieselotte Homborg, stammte aus Wernigerode. Als
er sie in einem Ostseebad kennenlernte und sie zu heiraten gedachte, waren seine Angehörigen
im Rheinland „entsetzt", wie er uns lachend erzählte, daß er eine Frau ,,soweit im
Osten und über der Elbe“ heiraten wollte. Frau Homborg lebt wieder in Wernigerode
und ist seit Jahren sehr engagiert bei der Vorbereitung katholischer Akademiker-Tage
im Bistum Magdeburg.
Kurz möchte ich noch auf unsere Ernährung in diesen Nachkriegszeiten kommen. Als Suppe
aus der Krankenhausküche gab es „Bellutinsuppen“, die schokoladenfarben war und in
deren Grundsubstanz auch Eicheln, gerieben, vorhanden gewesen sein sollen. Patienten
und auch wir als Tuberkulose-Gefährdete bekamen öfters den guten „Harzer Käse“, den
es heute noch als Harzer Spezialität geben soll. Da die Brotration auf Karten manchmal
für eine Familie mit Kindern zu knapp war, konnten wir nicht umhin, Brot auch mal
illegal gegen einen entsprechenden Aufpreis zu erwerben. Als es in einem Sommer eine
besonders gute Ernte von Bucheckern gab, sammelten wir eifrig in den nahe gelegenen
Buchenwäldern diese Früchte, die wir abliefern konnten, um das gute Öl daraus pressen
zu lassen. Meine Frau konnte damit ein köstliches Gebäck herstellen. Und noch eine
Quelle für Fett erschloß sich uns, als wir als Patienten die Frau eines Pferdefleischers
aus Halle hatten. Es kann sich heute wohl niemand mehr vorstellen, wie gut sich das
Pferdefett zum Backen verwenden ließ.
Unsere Patienten kamen nicht nur aus Sachsen-Anhalt und hier sehr häufig aus dem Kreise
Wittenberg, sondern neben Halle auch aus den großen Städten Leipzig oder Berlin. Dr.
Homborg hatte von dort auch Privatpatienten, die nach Ende des Krieges noch recht
begütert waren. Ein junger Mann war Sohn eines Besitzers einer Autowerkstätte, bei
dem auch Professor Sauerbruch sein Auto reparieren ließ. Der Sohn dieses Autowerkstattbesitzers
hatte Angst, sich von dem doch schon betagten Professor operieren zu lassen und vertraute
sich lieber unserem Chef an!
Die unmittelbare Grenznähe der Heilstätte brachte es mit sich, daß so mancher Patient
die Gelegenheit des Aufenthaltes benützte, unter Gefahr die Zone, bezw. die DDR zu
verlassen. Manche versuchten auch nur für Stunden Eckertal oder Bad Harzburg aufzusuchen,
um etwas zu kaufen, das es bei uns nicht gab. Da manche Medikamente wie z. B. Streptomycin
kaum zu bekommen waren, versuchten Patienten, es aus westlichen Apotheken zu erwerben.
Neben dem Krankenhaus war noch, als ich 1948 meine ärztliche Tätigkeit begann, eine
Gaststätte vorhanden, die vor 1945 bei der Bevölkerung sehr beliebt war. Ihr Besitzer
war Herr Seelke, früher einmal Schiffskoch, der mit seiner Frau sehr gute Mahlzeiten
bereitete. Patienten konnten dort anfangs noch etwas „Besseres“ essen als aus der
Krankenhausküche. So war es natürlich auch mit den Getränken, da die Patienten ja
keine Alkoholika bekommen sollten. Wir versuchten, ansteckende Patienten vom Gasthofbesuch
abzuhalten. Das gelang nicht immer.
Eines Tages wurde die Gaststätte von der Grenzpolizei geschlossen, die sich dann dort
einnistete. Der Gastwirt übernahm eine Gaststätte in Ilsenburg, die Grenzpolizei verstärkte
ihre Bewachung der Grenze im Zuge des zunehmenden „Kalten Krieges“ zwischen Ost und
West. Wir erlebten so manche schlimme Aktion an dieser Grenze in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft. Die Polizisten waren nicht Einheimische, sondern größtenteils aus Thüringen.
Unsere Handwerker hatten sich in den ersten Jahren, wie wir ahnten, auch als Helfer
bei Grenzgängern betätigt. Das wurde aber immer mehr unterbunden durch brutales Vorgehen
der Polizisten. So mußte ich mehrfach Schußverletzungen verbinden, die Flüchtenden
von Polizisten zugefügt wurden. Besonders tragisch geschah es einem 14-jährigen Jungen,
der mit seinem Vater aus der Endstation Stapelburg der aus Wernigerode kommenden Bahn
entstiegen war und versuchte, über das freie Feld die Grenze zu erreichen. Natürlich
war er der Örtlichkeit nicht kundig, wie so viele andere, und hatte auf einen Anruf
nicht sofort reagiert. Es wurden ihm beide Oberschenkel durchschossen. An einen anderen
Vorfall erinnere ich mich noch deutlich. In der Mittagspause nach der Hauptmahlzeit
gingen die Patienten mit unserer Erlaubnis vor der Heilstätte etwas spazieren. Der
Fußweg entlang der Ecker war ihnen ja verboten. Da geschah es einmal, daß ein Polizist
in dieser Mittagspause auf einen Grenzgänger vor den Augen der Patienten das Gewehr
anlegte. Ein junger kräftiger Patient, ein gelernter Tischler schlug dem Polizisten
das Gewehr aus der Hand und erlitt dabei einen Knochenbruch an seiner Hand. Der Polizist
bekam sofort, nachdem er einen Genossen herbeigepfiffen hatte, Hilfe und der junge
Tischler wurde zu dem zentralen Grenzkommando in Ilsenburg abgeführt. Ich rief dann
nachmittags dort an und. sagte dem Kommandanten, daß der Patient hochpositiv sei und
sie sich anstecken würden, wenn sie ihn behielten. Darauf wurde er wieder in die Heilstätte
zurückgebracht. Ein Genosse Patient, Sohn eines Bürgermeisters, wurde zur Bewachung
mit in das Zimmer gelegt, was aber nicht verhinderte, daß der junge Tischler in der
Mittagspause nach dem Westen „abhaute“. Bald nach der Wende rief er mich eines Tages
aus einer Stadt im Ruhrgebiet an und bedankte sich für meine Hilfe. Außer diesem Grenzkommando
der Volkspolizei gab es noch ein Kommando der Sowjets. Die Russen, wie ich der Einfachheit
sie nenne, obgleich die verschiedensten Nationen darunter waren, waren in einer Stärke
von etwa 10 Mann stationiert. Von ihnen habe ich nie eine Schußverletzung von Grenzgängern
erfahren. Die gefangenen Grenzgänger mußten meist die Unterkunft der Russen reinigen,
Holz spalten oder wurden gegen Alkoholika wieder frei gelassen. Das war unter Grenzgängern
durchaus bekannt. Am 1. September, dem Beginn des 2. Weltkrieges 1939, bestand in
den Ostblockstaaten der sogenannte Friedenstag. 1950 oder 51 ließ ein russischer Kommandant
unserem Chefarzt sagen, daß er an diesem Tage den Angehörigen des Krankenhauses gestatte,
den westlich gelegenen Grenzort Eckertal zu besuchen. Sie müßten ihm nur versprechen,
auch wieder bei Tageslicht zurück zu kommen. Das geschah auch ohne jeden Zwischenfall!
Die deutschen Polizisten mußten zähneknirschend dem zustimmen. Ein anderes schlimmes
Erlebnis war für mich, als ich einmal in das Quartier der Polizei gerufen wurde, wo
ein Zivilist mit einem blutenden Leberdurchschuß im Sterben lag. Sterbend sagte er
dem Posten, der ihn angeschossen hatte, daß er „da oben mit ihm abrechnen werde“.
Es war ein politischer Kommissar der Grenztruppe, der in Zivil versucht hatte, die
Grenze zu überschreiten. Als er verhaftet wurde, hatte er versucht, aus dem Fenster
des ebenerdigen Raumes zu springen.
Einer der letzten Grenzgänger war mein damals 8-jähriger Sohn, der mit einer gleichaltrigen
Tochter des Pförtners nach Eckertal über den Bach gegangen war, um sich einen großen
Bleistift mit Radiergummi zu kaufen, während das Töchterchen ihrer Mutter Linsen mitbringen
wollte. Die Kinder wurden nach llsenburg abgeführt und mein Junge wurde einem Verhör
unterzogen. Vor allem wurde gefragt, ob sein Vater öfters über die Grenze gehen würde.
Auch hier gelang es mir nach einem Telefon den kleinen „Grenzverletzer“ wieder frei
zu bekommen. Noch ahnten wir nicht, was die nächsten Tage bringen würden. Meine Frau
war in diesen Tagen mit unserem zweiten Sohn hochschwanger. Ich selbst, es war in
der 2. Hälfte Mai 1952, war unter einem fingierten Vorwand zum damaligen Landrat nach
Wernigerode zitiert worden und dort anschließend einem scharfen Verhör der Russen
(wahrscheinlich KGB) unterzogen worden. Erst mein Hinweis, daß bei meiner Frau die
Niederkunft unmittelbar eintreten könnte, befreite mich nach Stunden von einem weiteren
Verhör.
Wenige Tage später, am 28.Mai 1952, erschien abends der damalige Ministerialrat des
Gesundheitsministeriums von Sachsen-Anhalt Dr. Mecklinger und verkündigte uns, daß
das Tbc-Krankenhaus wegen seinem „Loch in der Grenze“, den es bildete, aufgelöst werde.
Dr. Mecklinger wurde übrigens später Gesundheitsminister der DDR. Am nächsten Morgen
um 7 Uhr standen dann Krankenwagen vor dem Tor und beförderten alle transportfähigen
Patienten in andere Harz-Heilstätten wie z. B. Benneckenstein mit seiner Johanniter-Heilstätte
oder die Heilstätte Schielo oder eine Heilstätte bei Güntersberge. Kinder und Jugendliche
kamen in die sehr gut ausgestattete Kinderheilstätte Harzgerode.
Etwa 14 Frischoperierte durften wir zunächst behalten. In den ersten Tagen herrschte
Kriegsrecht. Bäume entlang der Grenze wurden gefällt, um Schußfreiheit nach dem Westen
zu bekommen. Beim Sprengen der Wurzeln geschah es an einem der nächsten Mittage, daß
ein schweres Holzstück direkt neben dem Kinderwagen einschlug, in dem unser neugeborener
zweiter Sohn lag. In den Grenzdörfern Stapelburg, Abbenrode und anderen wurden noch
in der Nacht Bewohner aus ihren Häusern gerissen, die als Grenzhelfer galten oder
sogar legal mit Ausweis in Eckertal arbeiten durften, und wurden mit ihren Angehörigen
auf Lkw’s verladen und bis nach Torgau und anderen Gefängnisorten abtransportiert.
Manche kamen erst nach Wochen wieder zurück. Inzwischen wurde eine Grenzregion von
5 Kilometer Breite errichtet, die nur mit besonderer Erlaubnis bewohnt werden konnte.
Das Betreten dieser Region geschah jahrelang nur mit Erlaubnis der Behörden. Das betraf
vor allem Angehörige der dort lebenden Einwohner oder Besucher. Der 500 m Streifen
wurde überhaupt nach Möglichkeit geräumt. Wir durften in den ersten Tagen nach Sonnenuntergang
unsere Häuser nicht verlassen. Trotz dieser Schwierigkeiten operierten wir Patienten,
die auf unserer Außenstelle Waldhöhe in Ilsenburg lagen, weiter und hatten so einen
Vorwand, erst einmal uns in Ruhe nach einer neuen Stellung umzusehen.
Mein Chef Dr. Homborg übernahm nach einigen Monaten die Tbc-Heilstätte und spätere
Lungenklinik Lostau bei Magdeburg, während ich eine Anstellung als Oberarzt der Lungen-Abteilung
des Waldkrankenhauses Halle-Dölau am 1.10.1952 bekam. Dr. Homborg starb leider 1960,
wie ich mich zu erinnern glaube, an einem Pfingstmontag plötzlich in dem Hotel „Heinrich
Heine“ in Schierke im Harz in einem Alter von etwa Mitte der 40. Nach Jahren, als
ich Unterlagen für meine Altersrente benötigte, konnte man angeblich keine Papiere
der Stapelburger Heilstätte finden. Als ich im Frühjahr 1990 mit meiner Frau das Eckertal
aufsuchte, war keine Spur mehr von der Heilstätte zu finden. Nur an Baumscheiben konnten
wir feststellen, wo unser „Föhrenhaus“ stand. Ein durch die Wiesen streifender Fuchs
war das einzige Lebewesen außer uns.
Dr. med. Luitfried Bergmann, Wittenberg-Apollensdorf