10.1055/s-0032-1309980Es ist längst überfällig, dass auch in Deutschland die Diskussion hinsichtlich der
unterschiedlichen kanzerogenen Potenz der verschiedenen Asbestentitäten in Gang kommt.
Eine derartige Debatte läuft in den USA und Kanada bereits seit über 20 Jahren. Insofern
ist es zu begrüßen, wenn Baur und Coautoren dieses Thema aufgreifen.
1. Die relevante Weltliteratur zum angeschnittenen Thema umfasst jedoch mehrere tausend
Artikel und kann in einer kurzen Übersichtsarbeit niemals vollständig berücksichtigt
werden. Dennoch existieren ältere Reviews, die bei umfassender Diskussion erwähnt
werden sollten. Hier ist insbesondere auf eine Publikation der US-amerikanischen Environmental
Protection Agency [1] zu verweisen, eine Institution, die nicht gerade als industriefreundlich gilt. Dort
wurde ein Risk-Assessment bezüglich der Kanzerogenität von Chrysotil und Amphibolasbesten
unter Einbeziehung von 35 relevanten Studien realisiert. Dabei wurde für Amphibolexpositionen
ein lung cancer potency factor berechnet, der fünfmal höher lag als bei Chrysotileinwirkungen.
Für Pleuramesotheliome errechnete sich ein entsprechender Unterschied mit einem Faktor
von knapp 100.
2. Diese neueren Erkenntnisse schaffen Implikationen hinsichtlich der wissenschaftlichen
Begründung zur Legaldefinition der Berufskrankheit Nr. 4104. Dort wird bei Auftreten
von Lungenkrebs und Kehlkopfkrebs in Zusammenhang mit einer beruflichen Asbestfaserstaubexposition
u. a. gefordert, dass eine kumulative Expositionsdosis von mindestens 25 Faserjahren
vorliegt. Ab dieser Schwelle soll eine Risikoverdoppelung hinsichtlich Lungenkrebs
auftreten. In der Arbeit von Baur und Coautoren wird diese Dosis als Chrysotilbelastung
dargestellt, was nicht richtig ist. Ausschlaggebend für die Ableitung der 25 Faserjahre
waren epidemiologische Untersuchungen mit Mischexpositionen aus verschiedenen Industriezweigen.
Die verwendeten Studien gehen aus BMAS ([2], Abb. 3) hervor. Für die Asbestzementindustrie wurde die Arbeit von Finkelstein
[3] herangezogen. Hier bestanden Expositionen gegenüber Chrysotil und dem Amphibolasbest
Krokydolith. Asbesttextilarbeiter waren in der Studie von Dement et al. [4] neben dem Weißasbest auch gegenüber Krokydolith exponiert. Seidman et al. [5] untersuchten Arbeiter aus der Asbestisolation. Hier spielte neben dem Chrysotil
der Amphibolasbest Amosit eine wesentliche Rolle.
Die 25 Faserjahre in BK 4104 beziehen sich also nicht auf reine Chrysotilexpositionen,
wie sie fast ausschließlich in Deutschland vorgekommen sind, sondern auf Kombinationseinwirkungen
mit wesentlich höherer Kanzerogenität. Deswegen ist das bisher in entsprechenden BK-Verfahren
praktizierte Konzept der undifferenzierten Faserjahreberechnung kritisch zu hinterfragen.
Der Gesetzgeber sollte auch darüber nachdenken, ob die Legaldefinition von BK 4104
vor dem Hintergrund der bei uns üblichen Chrysotilexpositionen noch dem aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen,
dass das Abschneidekriterium der 25 Faserjahre keinen Eingang in die internationale
Literatur gefunden hat.
3. Ein weiteres zu überprüfendes Paradigma ist die postulierte multiplikative und nicht
additive Wirkung von inhaliertem Asbestfaserstaub in Kombination mit Tabakrauch. Mit
dem multiplikativen Effekt wird begründet, dass beim Lungenkrebs trotz Tabakrauchabusus
dennoch die Asbestexposition einen eigenständigen, unabhängigen Risikofaktor darstellt.
Diese Zusammenhänge wurden allerdings auch an einem Kollektiv gewonnen, welches einer
Mischexposition unterlag, die so in Deutschland nicht existent gewesen ist. Es handelt
sich um eine Kohorte von Isolierern aus der amerikanischen Werftindustrie [6]. Die Arbeiter waren insbesondere gegenüber Amosit exponiert. Mittlerweile gibt es
zahlreiche weitere Studien, welche dieser synkanzerogenen Wirkung nachgegangen sind.
(Zusammenstellung in 2.). Die Ergebnisse sind nicht einheitlich. In diesen Untersuchungen wird nur selten
die Asbestart benannt, oder aber es handelt sich um Mischexpositionen. Wegen der wesentlich
niedrigeren Kanzerogenität des Chrysotils kann also der multiplikative Risikoansatz
nicht ohne Weiteres auf deutsche BK-Fälle übertragen werden. Es ist zu vermuten, dass
bei Chrysotilexpositionen nur eine additive Wirkung nachweisbar ist und damit die
Asbestexposition ihre vom Rauchen unabhängige Wirkung verliert. Unter den Kautelen
des nationalen Berufskrankheitenrechts würde damit unter BK 4104 eine ganze Reihe
von Raucherkrebsen als Berufskrankheit anerkannt und auch entschädigt.
4. Die Autoren versuchen zum wiederholten Mal, das „Fahrerfluchtphänomen“ als gesicherte
wissenschaftliche Erkenntnis zu etablieren. Danach soll die Chrysotilfaser bei tatsächlich
nachgewiesener dramatisch niedriger Biopersistenz trotzdem kanzerogen wirken, bevor
sie sich im biologischen Material auflöst. Doch es handelt sich beim Fahrerfluchtphänomen
lediglich um eine Hypothese, die noch dazu durch neuere Forschungsergebnisse hinsichtlich
der eingeschränkten Biopersistenz der Chrysotilfaser entkräftet wird. Deswegen findet
sich das hit and run-Phänomen so gut wie gar nicht in der internationalen Asbestliteratur. Vielmehr mehren sich
die Hinweise, dass es in Zusammenhang mit Chrysotilexpositionen zu einem run before ever hit-Effekt kommt. Wie so häufig gibt es hier natürlich auch Ausnahmen, beispielsweise das Overload-Phänomen
mit Erschöpfung der Alveolarmakrophagenkapazität.
5. Befremdlich erscheint, dass in einer wissenschaftlichen Publikation Bezug genommen
wird auf eine angebliche Monopolstellung eines Labors für Faseranalytik. Dabei entsteht
der Verdacht, dass hier Marketing für die eigenen Laboreinrichtungen betrieben wird.
Deswegen gibt die Schlussbemerkung im Artikel von Baur und Coautoren zu denken, wonach
keine Interessenkollision bestünde.
In diesem Zusammenhang möchte ich versichern, dass meinerseits keinerlei Interessenkollision
besteht. Meine Zuschrift stellt kein Plädoyer gegen ein generelles Asbestverbot dar,
sondern sollte als Aufruf zur inhaltlich sauberen wissenschaftlichen Diskussion verstanden
werden.