Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2012; 19(04): 165
DOI: 10.1055/s-0032-1325257
Bücher
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Komplettes Nachschlagewerk mit sehr vielen Hintergrundinformationen – Handbuch zur Impfpraxis

Contributor(s):
Burkhard Rieke
Dittmann S Hrsg.
Handbuch der Impfpraxis.

Marburg: DGK Beratung + Vertrieb; 2012. 35 Euro
ISBN: 9783981482508
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Publication History

Publication Date:
28 August 2012 (online)

 
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Impfschutz in Deutschland ist ein immer wieder heiß debattiertes Thema. Wo die einen auf den Skandal lebhafter Masernzirkulation verweisen, stellen die anderen jeden Befürworter eines möglichst vollständigen Impfschutzes als verkappten Firmenagenten dar, der einer als "natürlich" empfundenen Auseinandersetzung mit Infektionserregern ins Handwerk pfuschen will.

Zeit also, Bilanz zu ziehen, dachte sich offensichtlich das Deutsche Grüne Kreuz in Marburg und stellte einen hochqualifizierten Autorenstab aus dem Umfeld der Ständigen Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut zusammen. Herausgekommen ist ein gut recherchiertes Buch mit einer Fülle an Informationen, wie man sie so auf dem deutschen Markt nicht findet. Das thematische Spektrum reicht von historischen und immunologischen Grundlagen über die Standard- (hierher sind erstaunlicherweise Rotaviren- und Hepatitis-A-Impfung gerutscht) und die Indikationsimpfungen zu den juristischen und technischen Grundlagen. Mit enthalten sind auch Ausflüge zu Neuentwicklungen sowie zu den epidemiologischen Möglichkeiten der Immunisierung von Bevölkerungsgruppen.

Darstellung der Krankheiten

Das ungewöhnlich preiswerte Buch ist für ein Nachschlagewerk und die damit verbundene Erwartung einer längeren Nutzdauer eher einfach ausgestattet: Paperback, Schwarzweißdruck und ein Seitenlayout, das durch die Abbildung von Miniatur-Präsentationsfolien (CD liegt bei) etwas an den Handzettel von PowerPoint erinnert. Klinische oder histologische Abbildungen (Hib, HPV) sind damit leider nicht mehr nutzbar. Erstauflagen haben eben selbst oft Kinderkrankheiten, die nicht mit einer Impfung verhinderbar sind: So ist auf S. 628 die Angabe in die Tabelle gerutscht, Gelbfieber sei für den behandelnden Arzt nicht meldepflichtig. Und im Poliokapitel steht gleich zweimal, Puerto Rico liege auf der Insel Hispaniola.

Bei der Darstellung der Krankheiten dominieren die mikrobiologischen und immunologischen Daten. Erst relativ spät kommt die Epidemiologie, die aus meiner Sicht die Dringlichkeit einer Impfung quantitativ und somit indirekt auch qualitativ beschreibt, deren "strategische Position" im Geschehen verständlich macht und vulnerable Gruppen definiert. Wesentliche Daten daraus schreibt mancher Autor daher schon in seine Einleitung.


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Impfschutz für Reisende

Hauptaugenmerk des Autorenteams ist die Situation in Deutschland. Daher ist es berechtigt, die Reisemedizin unter die Indikationsimpfungen zu fassen. Allerdings sind berufliche Reisen weder bei den ausführlich aufgelisteten arbeitsmedizinischen noch bei den reisemedizinischen Indikationen thematisiert. Es wird lediglich der Arbeitgeber als Kostenträger genannt. Sehr deutlich wird daneben aber herausgearbeitet, wie verwoben unsere Situation mit der jeweiligen globalen Situation ist und wie groß der Bedarf an neuen Strategien, insbesondere für global bedeutsame Erkrankungen wie Malaria oder Tuberkulose, ist.

Da im Buch die juristischen Rahmenbedingungen einschließlich der Bemühungen der Ärztekammern um eine einheitliche ärztliche Qualifikationsgrundlage dargestellt werden, hätte ich mir auch einen Querverweis auf die seit 2007 möglich gewordenen Satzungsleistungen der Gesetzlichen Krankenversicherungen gewünscht. Diese haben für viele, beispielsweise aus afrikanischen oder asiatischen Ländern stammende Heimreisende, einen adäquaten reisemedizinischen Impfschutz erst möglich werden lassen.


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Warum ist der Impfschutz so schlecht?

Zur drängenden Frage nach den Gründen für den schlechten Impfschutz in Deutschland lesen wir vor allem, dass ein adäquates Monitoring bis hin zur Meldung jeder Impfung an den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) fehlt, dass es viele unwissenschaftliche Behauptungen rund um Impfungen gibt und Ähnliches. Was mir fehlt, ist die Epidemiologie und Pathogenese der Diagnose Z28 nach ICD 10: Nicht durchgeführte Impfung, inkl. Impfung nicht durchgeführt aus: Glaubensgründen, Gruppendruck, Kontraindikation, vom Patienten unabhängigen Gründen. Was verhindert indizierte Impfungen also? Ist es falsch verstandener Naturalismus, ein abhandengekommenes Verständnis für Impfungen als Beitrag zum kollektiven Schutz oder sind Impfprogramme "zu vertikal für unsere Demokratie"? Und wie ist die Therapie dieses Leidens? Kommen wir mit Merkblättern und Argumenten weiter? Müsste sich eine wirklich verantwortete Impfentscheidung nicht auch mehr zur Verantwortung ziehen lassen, also auch mehr Haftung übernehmen für die hervorgerufenen Gesundheitsschäden?

Gründe für schlechten Impfschutz gibt es aber auch auf ärztlicher Seite: Wer einmal einen Impfstoffregress gehabt hat, lässt gerne ein kleines Honorar liegen, um dem 10- oder 15-fachen Kostenrisiko zu entgehen. Hätte man die rund 80 Positionen lange Tabelle der kassenrechtlichen Impfziffern im Buch aufgeführt, wäre rasch klar, dass es kaum mehr als 10 Standardfälle in das Repertoire des im Akkord arbeitenden Hausarztes schaffen werden. Sonderfälle? Nein danke! "Wir machen hier immer nur Tetanus, FSME und Grippe." Genau danach sieht die Bilanz auch aus. Dem kommt man nicht mit Immunologie und jährlich wechselnden Empfehlungen bei.

Solche Überlegungen sind im "Handbuch der Impfpraxis" nicht zu finden und, soweit beurteilbar, der Autorengruppe auch nicht aus eigener Erfahrung zugänglich. Dies trübt etwas den ansonsten hervorragenden Eindruck eines außerordentlich kompletten, mit vielen Literatur- und Internethinweisen versehenen Textes. Es ist ein Nachschlagewerk, das ich auch in kniffligen Fällen gerne konsultieren werde.

Dr. Burkhard Rieke, Düsseldorf


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