Die Häufung von Erkrankungsfällen in großen Familien, aber auch die Beobachtung, dass
in eineiigen Zwillingspaaren eine erhöhte Konkordanz im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen
auftritt, suggeriert eine genetische Veranlagungskomponente für chronisch entzündliche
Erkrankungen der Barriereorgane. Interessanterweise finden sich familiäre Häufungen
über mehrere Krankheitsentitäten hinweg (z. B. gemischte Familien mit Morbus Crohn
und Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn und Psoriasis). In einigen der chronisch entzündlichen
Barriereerkrankungen weist eine sehr hohe Konkordanz (z. B. bei Morbus Crohn: monozygote
Zwillinge −55 % vs. dizygote Zwillinge −5 %) auf eine sehr starke genetische Komponente
im Krankheitsrisiko hin. Keine der chronisch entzündlichen Barriereerkrankungen folgt
jedoch einem Mendelʼschen Erbgang. Es handelt sich um typische komplexe Erkrankungen,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine große Zahl von interagierenden Krankheitsgenen
und -varianten involvieren und zudem noch durch Umweltfaktoren in suszeptiblen Individuen
ausgelöst werden.
Der Morbus Crohn ist ein paradigmatisches Beispiel für die erfolgreiche Exploration
einer polygenen Ätiologie geworden. Morbus Crohn war vor 1920 nicht bekannt gewesen,
bis die ersten Fälle in Schottland und in USA beschrieben wurden. Die Inzidenz hat
sich seitdem stetig erhöht. Derzeit wird von einer Lebenszeitprävalenz von bis zu
0,5 % in nordwestlichen Hochrisikopopulationen ausgegangen. Die derzeitige Hypothese
ist, dass es unklare Faktoren im Lebensstil der westlichen Industriegesellschaften
gibt, die mit einer polygenen Suszeptibilität interagieren und dadurch zur Krankheitsmanifestation
führen.
Pathophysiologisch haben chronisch entzündliche Barriereerkrankungen gemeinsam, dass
die Produktion von TNF und anderen proentzündlichen Zytogenen erhöht ist und es gleichzeitig
auch zu einer Aktivierung des NF-κB-Systems kommt. Die Pathophysiologie ist jedoch
heterogen und nur auf der Effektorebene auflösbar. Die Analyse der Pathophysiologie
konnte jedoch nicht zu einer Differenzierung des Gesamtkrankheitsbilds in Patientenuntergruppen
führen. Auch der Versuch, klinische Einteilungen als Leitfaden für die Entdeckung
einer differenziellen Pathophysiologie zu machen, ist gescheitert. Selbst der Einsatz
moderner genomischer Techniken, wie cDNA oder oligonukleotidbasierte Mikroarrays hat
zwar zu einem weiteren Aufbruch der pathophysiologischen Signalkaskade geführt, jedoch
nicht die Ursachen der Erkrankung definiert oder die Patienten in verschiedene Erkrankungstypen
kategorisiert.
2010 sind in der Analyse der genetischen Ätiologie 3 verschiedene kodierende Varianten
im NOD2-Gen identifiziert worden, die statistisch in hohem Maße mit der Erkrankung
assoziiert sind. Alle 3 Varianten betreffen einen Teil des Gens, der für den leucinreichen
Repeat-Terminus des Proteins kodiert und die Sensordomäne für Muramyl-Dipeptid ist.
Dadurch kommt es zur Aktivierung von NF-κB in Makrophagen und Epithelzellen. Es konnte
auch ein statistischer Zusammenhang mit der anatomischen Lokalisation der Krankheit
in der Ileozökalregion hergestellt werden. Die hier entdeckten Varianten im NOD2-Gen
sind interessanterweise auch an anderen entzündlichen Erkrankungen beteiligt. So konnte
in der Folge ein Zusammenhang auch zu Asthma bronchiale, psoriatischer Arthritis,
Periodontitis und dem kolorektalen Karzinom hergestellt werden. Diese Zusammenhänge
sind jedoch statistisch deutlich schwächer als die Assoziation zu Morbus Crohn.
In der weiteren genetischen Exploration der Ursachen des Morbus Crohns zeigte sich
dann, dass die Varianten im NOD2-Gen bei Weitem nicht das genetische Risiko erklärten.
Durch die Verfügbarkeit von hochdichten SNP-Arrays, die bis zu 1 Million Einzelbasenpolymorphismen
pro Individuum abfragen, war es möglich, in sehr großen Kohorten von Morbus-Crohn-Patienten
und Kontrollen eine Vielzahl von weiteren Krankheitsgenen zu entdecken. In großen
Metaanalysen und auch durch den Einsatz eines spezifischen, auf Genvarianten in immunrelevanten
Genen fokussierten Chips sind derzeit mehr als 160 Krankheitsgene für chronisch entzündliche
Darmerkrankungen identifiziert worden. Trotzdem ist das genetische Risiko dadurch
noch nicht vollständig beschrieben. In der Analyse der medizinischen Systembiologie
der Erkrankung zeichnet sich doch eine Reihe von unterschiedlichen Stoffwechselwegen
ab, die bei der Erkrankung beteiligt zu sein scheinen. Hierzu gehören die angeborene
Immunität, Zytokinregulation, insbesondere im Bereich von IL23/IL12 und STAT3, die
Autophagie und endosomale Stressreaktionen.
Parallel zum Morbus Crohn sind genomweite Assoziationsstudien (GWAS) auch bei Colitis
ulcerosa und anderen entzündlichen Barriereerkrankungen durchgeführt worden. Wie bei
Morbus Crohn zeigt sich eine Vielzahl assoziierter Krankheitsgene und Varianten. Häufig
stellen die entdeckten Varianten auch nur Marker für ein genetisches Signal dar, das
sich dann durch konsequente Sequenzierung des Locus in eine Vielzahl seltener, z. B.
kodierender Polymorphismen umsetzen lässt. Interessanterweise zeigt die Analyse anderer
entzündlicher Barriereerkrankungen eine erhebliche Überlappung der beteiligten Krankheitsgene
zwischen den diagnostischen Entitäten. Hierdurch sind klinische Beobachtungen erklärbar,
dass oft die Phänotypen zwischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa zu wechseln scheinen.
Wahrscheinlich ist in vielen Patienten die polygene Suszeptibilität auch nicht in
dem Maße abgrenzbar, wie sich das der Kliniker für seine Diagnostik wünschen würde.
Im Gegenteil, es steht zu erwarten, dass die diagnostische Einteilung, die vorwiegend
organbezogen definiert wurde, möglicherweise in Zukunft revidiert werden muss und
dass auch primäre organübergreifende Manifestationen im Krankheitsverlauf deutlich
zu wenig klinisch beachtet wurden.
Eine der wesentlichen Erkenntnisse des Verständnisses der Systembiologie der Erkrankungen
durch die breite genetische Exploration ist, dass es eine einheitliche Hypothese zur
Pathophysiologie nicht gibt. Weiterhin sind eine Reihe pathophysiologischer Therapieansätze
(z. B. alleinige Fokussierung auf T-Zell-Aktivierung) auch schon aus genetischer Sicht
nicht erfolgreich. Dies wird auch durch die klinische Beobachtung belegt, dass bislang
keines der fokussierten Therapieverfahren in der Behandlung dieser Erkrankungen in
mehr als 30–40 % der Patienten eine positive Therapieantwort zeigt.
Die weitere genetische Exploration der chronisch entzündlichen Barriereerkrankungen
wird in einer Vervollständigung der genetischen Risikokarten resultieren. Es ist zu
erwarten, dass dieses angesichts der Verfügbarkeit von Höchstdurchsatz-Sequenziertechnologien
mit erheblicher Geschwindigkeit vorangeht. Die Vervollständigung der systembiologischen
Modelle der Erkrankungen wird sicherlich auch zur Etablierung und Nutzung neuer Therapieverfahren
führen. Es ist zu erwarten, dass solche therapeutischen Ansätze im Blick der bislang
verwandten Diagnosen krankheitsübergreifend konzipiert werden müssen. Ähnlich der
Entwicklung für gezielte Therapieansätze in der Onkologie scheint es wichtig zu sein,
Kategorien von Patienten zu bilden, die jenseits des organbezogenen Indikationsbegriffs
definiert werden. Zukünftige Therapien, die z. B. spezifische Defekte in der angeborenen
Immunität adressieren, müssen daher vorwiegend an Patienten getestet werden, die diesen
Defekt auch aufweisen, unabhängig davon, ob es zu einer entzündlichen Manifestation
im Bereich ihrer Schleimhäute oder einer bestimmten Krankheitskategorie kommt.