Plötzliche und unerwartete Aggression von Hunden im Praxisalltag kann (lebens-)gefährlich
sein. Wir zeigen Hintergründe zum Verständnis und geben Tipps zu Prophylaxe und Handling
dieser Situation.
Die Redewendung „In einem gesunden Körper steckt ein gesunder Geist“ kann im Prinzip
auch auf Hunde angewendet werden. Der Umkehrschluss dieses Spruches weist darauf hin,
dass sich Krankheiten oder generelles Unwohlsein in einem „nicht gesunden Geist“ also
in Verhaltensauffälligkeiten äußern können. Und auch dies ist bei den Tieren zu beobachten:
Unkonzentriertheit, Ängstlichkeit und Aggression sind die häufigsten Auffälligkeiten,
die im Zusammenhang mit gesundheitlichen Einschränkungen einhergehen. In vielen Fällen
sind diese oder andere Verhaltensänderungen wie Schlappheit, Motivationslosigkeit
und Leistungsschwäche sogar der Grund, weshalb der Tierhalter seinen Hund in der Praxis
vorstellt. Im Berufsalltag einer Tierarztpraxis hat man es demnach häufig mit Hunden
zu tun, die sich unwohl fühlen und dies ggf. auch durch eine höhere Reizbarkeit zum
Ausdruck bringen. Durch einen Blick „hinter die Kulissen“ werden Zusammenhänge klar
und es eröffnen sich Möglichkeiten der Prävention und des optimalen Managements von
schwierigen Situationen.
Stress und Stressreaktion
Stress und Stressreaktion
Beim Erlebnis „Stress“ (sog. „Stresserleben“) reagiert der Körper auf Stressoren,
also Reize, die eine Stressreaktion in Gang bringen. Stressoren können ganz verschiedener
Natur sein: physikalisch (Hitze, Kälte), mechanisch (Stöße, Berührungen), sozial (Isolation,
Mobbing, fehlende Rückzugsmöglichkeiten), emotional (Angst, Frust, Wut), körperlich
(Krankheiten, Schmerzen, Schlafdefizit) und psychisch (Reizüberflutung, Dauerkonzentration,
anhaltende Langeweile, Überforderung).
Sympathikus-Aktivierung
Bei der Stressreaktion laufen im Körper 2 Reaktionsketten gleichzeitig ab. Zum einen
kommt es durch die Aktivierung des Sympathikus zur massiven Ausschüttung von Adrenalin
und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark ins Blut. Beide Hormone haben eine zentrale
Wirkung auf das Gehirn und somit auf Lernprozesse, da sie auch als Neurotransmitter
wirken. Darüber hinaus haben sie aber auch eine periphere Wirkung, denn die Adrenalin-und
Noradrenalin-Ausschüttung führt zu einem Anstieg des Blutdrucks und zu einer Aktivierung
des Renin-Angiotensin II-Regelkreises. Dieser steuert die Ausschüttung von Mineralkortikoiden,
vor allem Aldosteron, aus der Nebennierenrinde, das den Wasserhaushalt (inkl. Blutdruck,
Schweißsekretion) reguliert.
ACTH-Aktivierung
Parallel dazu wird in der Stressreaktion auch das Hormon CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon)
aus dem Hypothalamus ausgeschüttet, das wiederum die ACTH-Ausschüttung (adrenocorticotropes
Hormon) aus dem Hypophysenvorderlappen aktiviert. Das ACTH regt in der Folge die mittlere
Schicht der Nebennierenrinde zur Ausschüttung von Glukokortikoiden an. Die beiden
wichtigsten Vertreter der Glukokortikoide sind Cortisol und Cortison. Sie steigern
die Bereitstellung von Energiereserven vor allem durch die Glykogensynthese (Zuckersynthese)
in der Leber, wodurch der Blutzuckerspiegel erhöht wird. Gleichzeitig wird durch die
Glukokortikoide auch Energie durch Abbau von Eiweiß aus dem Muskelgewebe und durch
Abbau der peripheren Fettdepots bereitgestellt.
Des Weiteren haben die Hormone entzündungshemmende, antiallergische und immunsuppressive
Wirkung - das bedeutet, dass das Immunsystem unter längerer Stresseinwirkung geschwächt
wird.
Stresswirkungen
Die Stressreaktion spricht Körper und Geist gleichermaßen an. Auf körperlicher Ebene
erscheint der Hund im Stress leistungsfähiger - er läuft auf Hochtouren. Unter dem
Einfluss der Stresshormone kann ein Hund daher besonders schnell und kraftvoll reagieren.
Gleichzeitig kommt es aber zu Einschränkungen im geistigen Bereich. Denn auch das
Gehirn wird unter Stress auf Geschwindigkeit gepolt. Entscheidungen im Stresszustand
werden ohne langes Nachdenken gefällt, denn Stress dient dem Überlebenskampf. Hierfür
ist vor allem das Hormon bzw. der Neurotransmitter Noradrenalin verantwortlich. Noradrenalin
wird daher auch als Aktions- oder Aggressionshormon bezeichnet. Der für planvolles
Handeln und Konzentration erforderliche Neurotransmitter Serotonin hingegen wird unter
dem Einfluss der Stresshormone „zurückgedrängt“. Der Hund ist unter dem Einfluss von
Stresshormonen - grob gesagt - auf Flucht (ggf. auch Schreckensstarre) oder Angriff
programmiert. Die Fähigkeit zu „ausgefeilter“ Kommunikation im sozialen Bereich, aber
auch zur Konzentration ist in diesen Momenten weitgehend lahmgelegt.
Die körperlich-geistigen Auswirkungen der Stressreaktion lassen sich wie folgt prägnant
zusammenfassen:
-
Hunde können mit großer Kraft und Schnelligkeit reagieren,
-
sie tendieren zu Affekthandlungen,
-
die Reizschwelle aggressiv zu reagieren ist unter Umständen herabgesetzt,
-
sie leiden unter einer Denk- und Lernblockade und können abgespeicherte Informationen
nicht in gewohnter Art und Weise abrufen. Sie erscheinen daher häufig „ungehorsam“.
In Wirklichkeit sind sie jedoch nicht „ansprechbar“.
Übrigens: Die Abläufe und Folgereaktionen einer Stresskaskade sind bei Hunden und
Menschen gleichartig! Auch Menschen reagieren in Stresssituationen affektartig und
sind „kaum ansprechbar“. Kluges Denken oder die Aufnahme von Informationen (z. B.
von Ratschlägen) ist erst wieder möglich, wenn die Stresshormone abgebaut sind. Sicher
kennen auch Sie die Situation, dass man nach einem Konflikt denkt: „Warum habe ich
denn eben nicht ... gesagt oder getan, das wäre doch klüger gewesen.“ Vielleicht geht
es unseren Hunden auch nicht anders.
Stresssymptome
Die Liste an möglichen Stresssymptomen ist lang und kann von Situation zu Situation
bzw. von Hund zu Hund variieren. In der Tierarztpraxis kann man bei gestressten Hunden
häufig folgende Symptome sehen: Hecheln, Unruhe, auffälliger Haarausfall, Schuppenbildung,
schwitzige Pfoten, Zittern, körperliche Angespanntheit (hoher Muskeltonus), schlechte
Konzentrationsfähigkeit, fiepen, bellen, gesteigerte Reaktions- und Angriffsbereitschaft,
Futterverweigerung oder schnappende Futteraufnahme, Durchfall.
Bei länger andauerndem Stress sind auch erhöhte Infektionsanfälligkeit und dauerhafte
Magen-Darm-Probleme (Durchfall und Erbrechen) häufige Symptome. Die Atemfrequenz ist
ebenso wie die Herzschlagrate (und der Blutdruck) deutlich gesteigert. Die Hunde haben
ein „Stressgesicht“ und weite Pupillen.
Stressauslöser
Grundsätzlich gilt: Alle Reize, die der Hund als neu oder unangenehm empfindet, können
eine Stressreaktion auslösen. Eingangs wurde schon darauf hingewiesen, dass die individuellen
Stressfaktoren ganz unterschiedlicher Natur sein können. Wichtig ist zu wissen, dass auf den Hund in einer beliebigen Situation nicht ein Reiz,
sondern viele verschiedene Reize einwirken. Die Summe der einwirkenden Reize spiegelt sich in der momentanen Befindlichkeit wider,
die der Hund durch sein Ausdrucksverhalten zeigt.
Auch soziale Reize (Führungsmanagement durch den Halter, andere anwesende Menschen,
Artgenossen), Umweltreize (alle Reize wie z. B. Bodenuntergrund, Gerüche, Geräusche
der Praxisumgebung, des Behandlungsraums, der Station) und der Gesundheitszustand
(z. B. Schmerzen, anderweitiges Unwohlsein) spielen eine Rolle. In der tierärztlichen
Untersuchung kommen weitere Stressfaktoren hinzu, denn der Hund interpretiert auch
eine Vielzahl von Handlungen, die wir nett gemeint haben, die wir als „normal“ erachten
oder die in der Untersuchung/Behandlung einfach erforderlich sind, häufig als bedrohlich.
Hierzu zählen - je nach Gewöhnungsgrad und der individuellen Vorgeschichte des Hundes
- ggf. sogar schon die Nähe und Ansprache, häufiger aber Anfassen (speziell, wenn
es plötzlich oder von oben erfolgt), Fixieren und festes Angucken sowie alle schmerzhaften
oder anderweitig unangenehmen Manipulationen.
Warnzeichen
Bis auf wenige Ausnahmen warnen Hunde mittels körper- und lautsprachlicher Ausdruckselemente
(Mimik, Gestik und beispielsweise Knurren) vor einem Angriff. Neben den „Klassikern“
wie hochgezogene Lefzen und Blickfixieren können einem Angriff aber auch nur subtile
Gesten wie etwa eine kurze Steifigkeit vorausgehen. Ein Problem stellt die Fülle an
unterschiedlichen Hundetypen und auch das individuelle Sozialisations- und Erfahrungsmaß
der jeweiligen Patienten dar. Nicht jeder Hund ist gleich gut lesbar. Dies kann an
der Ruten- oder Ohrenform, der Felllänge oder -farbe und an Hautfalten liegen oder
weil es zuchtbedingt zu einer Verarmung des Ausdrucksverhaltens gekommen ist.
Abb. 1 Durch Übungsbesuche kann ein Welpe mit der Tierarztsituation vertraut gemacht werden.
Auch Hunde, die für das Zeigen aggressiver Kommunikation (Drohverhalten) in der Vergangenheit
bestraft worden sind, halten sich mit Drohgesten häufig sehr zurück. Dies macht sie
unberechenbarer, da man ihnen im Einzelfall kaum mehr ansehen kann, wann die Situation
zu eskalieren droht.
Aufgrund dieser Schwierigkeit gilt es, die unten aufgeführten allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen
generell sehr ernst zu nehmen. Spätestens beim Erkennen von Drohverhalten und im Grunde
auch bei einem „unguten Bauchgefühl“ gilt es auf mehr Sicherheit in Form des Maulkorbs
zu bestehen.
Sicherheitsregeln
Aus den aufgeführten Informationen wird klar, weshalb sich ein Hund, der sonst ggf.
umgänglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen (Belastung durch Stressoren) auch
plötzlich unkontrolliert und/oder aggressiv verhalten kann. Im Umgang mit den Hundepatienten
ist es daher sinnvoll, routinemäßig verschiedene Punkte zur Gefahrenprophylaxe umzusetzen:
-
Fragen Sie beim Tierhalter ab: Hat der Hund schon einmal nach einem Menschen geschnappt/gebissen?
Falls ja, sind hierbei Verletzungen entstanden? Tipp: Diese Frage kann auch in den
Anmeldungsbogen aufgenommen werden. Da es sich leider gezeigt hat, dass einige Tierhalter
hier nicht ehrlich antworten, lohnt es sich zudem auf dem Anmeldebogen folgenden Passus
einzufügen: Mit meiner Unterschrift bestätige ich, alle Fragen wahrheitsgemäß und
nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet zu haben. Management: Hunde, die schon einmal geschnappt/gebissen haben, sollten während der Untersuchung
mit einem Maulkorb gesichert werden. Dies gilt speziell, wenn in der Untersuchung Maßnahmen erforderlich sind, die der
Hund als stressig oder unangenehm empfindet.
-
Im Schmerz blitzartig aggressiv zu reagieren ist keine Charakterfrage, sondern ein
nicht nur für Hunde gültiger „Reflex“ zum Selbstschutz. Management: Bei schmerzhaften Manipulationen sollte jeder Hund immer ausreichend gesichert werden. Die beste Option ist auch bei nur geringgradiger Schmerzhaftigkeit über den Einsatz
eines Maulkorbes gegeben (s. u.). Bei starken akuten oder zu erwartenden Schmerzen
sollte hingegen eine schmerzausschaltende Narkose angesetzt werden.
-
Für die meisten Hunde stellt sich der Tierarztbesuch insgesamt als stressreiches Erlebnis
dar. Dies hat neben der als eigenständiger Stressfaktor wirkenden Erkrankung auch
mannigfaltige weitere Gründe (s. o.). Management: Im Umgang mit dem Hund sollte strikt darauf geachtet werden, das Stresserleben so
weit wie möglich zu reduzieren. Dies kann auch über folgende Maßnahmen erreicht werden:
-
Verkürzung der Wartezeiten durch optimales Zeitmanagement,
-
rechtzeitige Vorbereitung der erforderlichen Untersuchungsmaterialien,
-
zügiges, zielorientiertes Arbeiten nach optimaler Vorbereitung (ggf. Sicherung des
Hundes durch Maulkorb, Sedation, Narkose),
-
Verzicht auf unnötige Körperberührungen und Zuwendung, d. h. keine unnötige Kontaktaufnahme,
kein Streicheln, kein Zureden, aber auch keine Einschüchterungen oder Bedrohungen.
Abb. 2 Dieser Hund hat Angst. Ein Bedrängen in der Ecke würde das Stresserleben steigern.
Maulkorbeinsatz
Viele Tierhalter lehnen den Einsatz eines Maulkorbes für ihren „lieben“ Hund zunächst
rundweg ab. Sie glauben, dass der Maulkorb nur für „Beißer“ angebracht ist und möchten
nicht, dass ihr Hund auf diese Art und Weise „abgestempelt“ wird. Hier tut Aufklärung
not! Nicht zuletzt durch den unabstreitbaren Sicherheitsvorteil haben alle an der
Untersuchung und Behandlung beteiligten Personen bei einem mit Maulkorb gesicherten
Hund eine selbstsichere und damit auch positive Ausstrahlung. In aller Regel kann
die Arbeit auch besonders zügig umgesetzt werden, da keine stark belastenden Fixierungsmaßnahmen
oder unnötigen „Streits und Diskussionen“ mit dem Tier erforderlich sind. Die ausgestrahlte
Ruhe wirkt sich extrem positiv auf den Hund aus. Negative Erlebnisse und unerwünschte
Verknüpfungen für die Zukunft können so auf ein Minimum reduziert werden. Wichtiger
Hinweis: Die Akzeptanz eines Maulkorbes sollte im Idealfall schrittweise und über
Verknüpfungen mit Belohnungen im Vorfeld vom Tierhalter geübt werden. Am wenigsten belastend für das Tier sind Gittermaulkörbe, da sie das Hecheln nicht einschränken.
Abb. 3 Hat ein Hund bereits einmal geschnappt, ermöglicht ein Gittermaulkorb einen weiterhin
ruhigen Umgang mit dem Tier.
Weitere Tipps
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Bereiten Sie eine Infomappe mit Gesundheits-, Erziehungs-, und Literaturtipps sowie
möglichen Empfehlungen guter Hundeschulen vor.
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Stellen Sie die Regel auf, dass alle Hunde in Ihrer Praxis stets an kurzer Leine und
mit größtmöglichem Abstand zu anderen Tieren zu führen sind.
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Lassen Sie alle Hundepatienten prophylaktisch (mittels belohnungsbasierter Übungen)
mit dem Tragen eines Maulkorbes und Halskragens vertraut machen.
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Weisen Sie die Besitzer von Hunden mit schmerzhaften Erkrankungen an, das Tier stets
liebevoll aber unaufdringlich zu umsorgen. Vor plötzlichen Berührungen oder anderen
„Übergriffen“ (durch körperliches Bedrängen) sollte es auch im privaten Rahmen geschützt
werden.
-
Ermuntern Sie die Tierhalter langfristig erforderliche Manipulationen, die der Hund
ablehnt, zum Wohle aller zielgerichtet und in einem kleinschrittigen und emotional
positivem Kontext vermittelt, mit dem Hund zu trainieren.
Online
http://dx.doi.org/10.1055/s-0032-1323609