Die eigentliche Gefahr der Schulterdystokie geht weniger vom Notfall selbst, sondern
vor allem vom panischen Handeln der Helfenden aus. Das wird besonders
deutlich, wenn man die möglichen Komplikationen der Schulterdystokie betrachtet:
Nahezu alle in Haftpflichtfällen begutachteten Schädigungen gehen auf die
geburtshilflichen Manipulationen und nicht auf die Blockade selbst zurück.
„Denk-basiertes Handeln“
Lehrbücher, Vorlesungen, Leitlinien und Weiterbildungen zur Schulterdystokie gleichen
sich erfahrungsgemäß in folgenden Punkten:
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Die Schulterdystokie wird als ein schicksalhaftes Geschehen
dargestellt, dessen Wahrscheinlichkeit in erster Linie vom – natürlich im
Moment der Geburt nicht mehr beeinflussbaren – Geburtsgewicht bestimmt wird.
Echte präventive Denkansätze (Rolle von Ernährung und Bewegung in der
Schwangerschaft, Bedeutung der Gebärposition) kommen in der Regel viel zu
kurz.
-
Das McRoberts-Manöver als primäre Handlungsvorgabe wird quasi als
Ultima ratio dargestellt.
Dabei wird oft verschwiegen, dass die fatalen Folgen und die forensischen
Konsequenzen in der Regel auf gewaltsame Lösungsversuche zurückzuführen sind und
dass bei einem besonnenen und vor allem behutsamen Handeln die Gefahren für das
Kind eher gering erscheinen.
Und leider läuft dann in der Realität das Notfallmanagement genauso automatisiert
und angstbesetzt ab. Es wird gehandelt, ohne über die Sinnhaftigkeit der
Maßnahmen nachzudenken: Erst McRoberts, und dann irgendwie ziehen …
Dabei spielt gerade bei der Schulterdystokie die Besonnenheit und die Beachtung der
geburtsphysiologischen Grundlagen eine extrem wichtige Rolle. „Denk-basierte
Geburtshilfe“ versteht die Geburtshilfe als ein lebendiges Fachgebiet, das
auf Traditionen aufbaut, das Wissen der Lehrerinnen und Lehrer wertschätzt,
Erfahrungen umsetzt – diese aber immer kritisch nachdenkend hinterfragt.
Und ein solches Nachdenken ist grade bei der Schulterdystokie wichtig, weil sich die
Handlungsabläufe zugunsten des Kindes deutlich optimieren lassen. Die nachfolgenden
Überlegungen zur Schulterdystokie weichen deshalb teilweise von herkömmlichen
Darstellungen ab. Diese Neuorientierung hat folgende Gründe:
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In den geburtshilflichen Lehrbüchern wird die Rolle des Kindes als aktiver
Teilnehmer an den geburtsdynamischen Prozessen unterschätzt
(„Geburtsobjekt Kind“ als passiver Körper, der durch die Wehenkraft durch
das Becken geschraubt wird). In Wahrheit spielen die kindlichen Stellreflexe
(insbesondere der asymmetrische tonische Nackenstellreflex) eine
Schlüsselrolle bei der Schulterrotation: Das Kind dreht durch diesen Reflex
aktiv seine Schulter über die Symphyse. Fehlen diese Reflexe (z. B. beim
schwer deprimierten Kind infolge einer intrauterinen Notsituation), kann die
Rotation nicht oder nur erschwert gelingen. Der schlechte Zustand des Kindes
ist in diesem Fall nicht Folge, sondern Ursache der Schulterdystokie. Für
diese, für das Notfallmanagement äußerst bedeutsame Situation passt der
Begriff sekundäre Schulterdystokie besser.
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Wir haben in unserer Ausbildung das Becken als quasi betonierten Ring mit
starren Gelenken vermittelt bekommen. Spätestens durch die aktuellen
Forschungen zur Beckenendlagen-Geburt ist die unerwartete
Flexibilität des muskulös-bindegewebig-knöchernen
Gesamtsystems Becken bewiesen. Bereits McRoberts baute sein
Manöver auf der Kenntnis auf, dass Beuge- und Streckbewegungen im Hüftgelenk
das Durchtrittsplanum deutlich vergrößern können. Vor dem Hintergrund, dass
im Vierfüßlerstand ungleich größere Raumgewinne erzielt werden ([1]), müssen auch die Handlungsstrategien bei
der Schulterdystokie angepasst und das McRoberts-Manöver modifiziert
werden.
Begriffsbestimmung
Unter einer Schulterdystokie versteht man eine Blockade der Schulterrotation nach der
Geburt des Kopfes: die Schulter kann der Rotation des Kopfes durch den
schraubenförmigen Geburtsweg nicht folgen und „verhakt“ sich über der Symphyse
(hoher Schultergradstand) oder im nachfolgenden Geburtsweg (tiefer
Schulterquerstand – i. d. R. kein ernstes geburtsmechanisches Problem).
Ursache dieser Blockade ist entweder eine mechanische Störung der Rotation, z. B.
durch Bewegungsbehinderung bei einem sehr großen Kind (primäre
Schulterdystokie), oder ein Ausbleiben der aktiven kindlichen
Schulterbewegung infolge des Fehlens kindlicher Stellreflexe (z. B. bei Totgeburt
oder nach schwerer intrauteriner Not – sekundäre Schulterdystokie).
Disponierende Faktoren und Pathogenese
Disponierende Faktoren und Pathogenese
Der kontinuierliche Durchtritt des kindlichen Körpers durch den Geburtsweg wird durch
die Reflexe des Kindes sichergestellt.
Primäre Schulterdystokie
Die Reflexe sind vorhanden, die Rotation gelingt durch mechanische Behinderung
nicht.
Mütterliche Faktoren:
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Ungünstige Position des Beckens – einerseits hinsichtlich des
Durchtrittsplanums, andererseits bezüglich der Geburtsparabel. Die
günstigste Position scheint hier der Vierfüßlerstand zu sein, die
ungünstigste die Rückenlage. Aber: Bei schlaffen Bauchdecken kann u. U.
der genau gegenteilige Effekt eintreten.
Kindliche Faktoren:
Bei Geburtsgewichten über 4500 g steigt die Wahrscheinlichkeit einer
Schulterdystokie um den Faktor 10!
Geburtshilfliche Faktoren:
Sekundäre Schulterdystokie
Eigentlich könnte der Körper gut durch das Becken rotieren – aber die notwendigen
kindlichen Stellreflexe fehlen in Folge einer schweren intrauterinen
Beeinträchtigung. Oft wird erst durch die Handlungen von Hebamme und Arzt/Ärztin
aus einer verzögerten Geburt der Schulter eine Schulterdystokie.
Kardinalfehler sind hierbei:
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jeder forcierte Druck von oben („Kristellern“), weil dadurch die Schulter
noch stärker hinter der Symphyse „verkeilt“ wird;
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jede Wehenmittelgabe;
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jede Manipulation am kindlichen Kopf
Eine Rotation der Schulter kann ohne Gefährdung des Kindes nur durch eine
Manipulation an der Schulter, niemals am Kopf, erfolgen.
Eine Lösung des Problems über den Kopf ist ineffektiv, schmerzhaft und
gefährlich. Nach der Geburt des Kopfes ist jede Berührung oder
Manipulation unnötig und gefährlich! Ausnahmen: liebevolles Streicheln und
Ertasten der Nabelschnur bei Nabelschnurumschlingung. Dieser Grundsatz gilt
übrigens für jede Geburt.
Wir beobachten mit großer Sorge die noch immer weit verbreitete und sogar noch in
mancher Hebammenschule gelehrte Unsitte, nach der äußeren Rotation des Köpfchens
dieses mit den Händen zu umfassen und abzusenken. Man solle sich immer in das
Kind hineinversetzen, für das diese Manipulation sehr schmerzhaft ist. Jeder
Erwachsene würde sich nach einer ähnlichen Zerrung eine Physiotherapie
verschreiben lassen. Unsere Kinder sind wehrlos und müssen solche Manipulationen
ertragen.
Differenzialdiagnose
Wenn durch eine ungünstige Nabelschnurumschlingung das Kind nicht tiefer
treten kann, handelt es sich nicht um eine Schulterdystokie. Hier ist eine
Lösung des Problems ausschließlich durch sofortiges Durchtrennen der Nabelschnur
möglich.
Handlungsritual bei der primären Schulterdystokie
Handlungsritual bei der primären Schulterdystokie
1. Ruhe bewahren!
Die größte Gefahr für das Kind besteht in unserer eigenen Angst und in unüberlegten
oder panischen Handlungen. Es gibt keine Zeitnot! Das Kind wird über die
Nabelschnur mit Sauerstoff versorgt und kann notfalls sogar atmen – Zeitkorridore
von über 15 Minuten wurden als unproblematisch beschrieben!
2. Abwarten der nächsten Wehe
So dramatisch die Situation optisch auch erscheinen mag: sehr häufig rotiert die
Schulter in der folgenden Wehe von alleine nach. Das Kind ist in keiner
unmittelbaren Gefahr. Man darf sich keinesfalls von dem Anblick beunruhigen und zu
voreiligen Schritten verleiten lassen.
3. „Bauchtanz“
Unabhängig von der Gebärposition kann die Frau ihr Becken wie beim Bauchtanz wiegen.
Es lohnt sich, dieses kleine Ritual zum festen Bestandteil jeder Geburt zu machen
und bei der Geburtsvorbereitung zu üben. Es ist äußerst wirkungsvoll, da die
Bewegung des Beckens das Durchtrittsplanum dynamisch (Relativbewegung des Beckens
gegen die Schulter) wie statisch (absolute Vergrößerung um bis zu 15 mm) verändert.
Es hebt die Stimmung im Kreißsaal.
4. Positionswechsel des Beckens
Wenn nach dem Bauchtanz die Schulter immer noch nicht gelöst ist, verändern wir die
Position des Beckens. Hintergrund unseres Vorgehens ist das MC-ROBERTS-Manöver, bei
dem durch eine Extrembewegung der Hüftgelenke das Durchtrittsplanum des
Beckeneingangs um bis zu 15 mm vergrößert werden kann. Auch hier gibt es neben
dieser statischen Komponente auch einen dynamischen Effekt, weil durch den
Bewegungsimpuls eine Relativbewegung zwischen Schulter und Symphyse provoziert
wird.
Von großer Bedeutung ist das Fassen nach oben bei allen Manövern, um die Mm.
pectorales zu aktivieren.
Die beiden Schritte des McRoberts-Manövers – Ausstrecken der Beine und
anschließend maximale Beugung im Hüftgelenk (Abb. [1]) – lassen sich auf alle Gebärpositionen übertragen.
Abb. 1a, b
„Klassisches“ McRoberts-Manöver in Rückenlage. a) Ausstrecken der
Beine. b) Danach maximale Beugung im Hüftgelenk.
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„Hirtenposition“: Wir wechseln zunächst die Seite und stellen das
andere Knie an (Streckung/Beugung) (Abb. [2]). Führt dies nicht zum Erfolg lassen wir die Frau aufstehen
(Streckung) und bringen sie dann in die Rückenlage. Jetzt führen wir das
klassische McRoberts-Manöver durch: Wir strecken beide Beine im Liegen aus
und winkeln sie anschließend mit maximaler Beugung im Hüftgelenk an.
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Vierfüßlerstand: Wir gehen zunächst in die „Hirtenposition“, wechseln
ruhig auch noch einmal die Seite und stellen das andere Knie an. Dann gehen
wir weiter wie oben beschrieben vor.
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Hocke: Wir gehen zunächst in den Vierfüßlerstand (Beugung) und dann
wie beschrieben über die „Hirtenposition“ in die Rückenlage.
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Seitenlage: Wir drehen die Frau zunächst in die Rückenlage und führen
das MC-ROBERTS-Manöver durch. Führt das nicht zum Erfolg, bewegen wir die
Frau in die „Hirtenposition“ und dann weiter in den Vierfüßlerstand.
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Rückenlage: analog: MC-ROBERTS-Manöver, „Hirtenposition“,
Vierfüßlerstand.
Abb. 2
Hirtenposition.
In der Gebärwanne sollten wir spätestens jetzt das Wasser abgelassen haben. Je
nach Wannentyp kann man auch hier verschiedene Gebärpositionen einnehmen. Wenn dies
nicht möglich ist, sollte die Frau aus der Wanne steigen (Beugung/Streckung) und
alle Manöver „an Land“ durchführen.
5. Suprapubischer Druck
Zunächst versuchen wir, die vordere Schulter durch die Bauchdecken zu fixieren. Dabei
müssen wir beachten, dass unser suprapubischer Druck die Gebärende zwingend
in eine Abwehrspannung bringt, die für unser Anliegen absolut kontraproduktiv ist.
Deshalb sollten wir die Hand der Frau auf den Bauch oberhalb der Symphyse
legen und mit unserer eigenen Hand quasi durch die mütterliche Hand hindurch
gemeinsam die Schulter ertasten. Dies erlaubt und erfordert eine äußerst hilfreiche
Kommunikation mit der Gebärenden.
6. Innere Manipulation
Wenn es uns nach allen äußeren Manövern nicht gelungen ist, die Symphyse über die
Schulter rutschen zu lassen, dirigieren wir nun die Schulter an der Symphyse vorbei.
Dies erfolgt durch folgende innere Manipulationen:
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Eingehen mit der Hand in die Kreuzbeinhöhle, in der immer genügend
Platz ist;
-
Ertasten des hinteren Schulterblatts: es bietet ein stabiles und
unempfindliches Widerlager für unsere Rotationsbewegung
Nun geben wir mit der inneren Hand den Rotationsimpuls auf das Schulterblatt der
hinteren Schulter und durch die mütterliche Hand hindurch mit der äußeren
Hand den Gegendruck auf die vordere Schulter. In aller Regel gelingt spätestens
jetzt die Lösung der Schulter.
Haben wir auch jetzt keinen Erfolg, gehen wir mit der anderen Hand von der
Kreuzbeinhöhle aus in die Scheide ein und folgen der Bauchseite des Kindes,
bis wir das Schlüsselbein der vorderen Schulter ertasten. Nun können wir den
Rotationsimpuls direkt an beiden Schultern ausüben. Wir haben den
kindlichen Thorax nun zwischen unseren Fingern wie in einer Zange. Die Rotation muss
nun gelingen. Notfalls umfassen und in die andere Richtung drehen.
Vorgehen bei der sekundären Schulterdystokie
Sofortige innere Manipulation, ggf. kombiniert mit suprapubischem Druck.
Hilferuf und Dokumentation
Hilferuf und Dokumentation
Für die Durchführung der genannten Manöver ist keine Hilfsperson notwendig. Wenn die
Hebamme die Handlungsrichtlinien beherrscht, wird sie das Problem alleine lösen
können. Ein Hilferuf ist dennoch in der Regel notwendig,
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weil das Kind möglicherweise zunächst deprimiert geboren wird und Hilfe
braucht,
-
weil man in einer solchen Anspannungssituation zu zweit besser agieren
kann,
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weil die Hilfsperson u. U. Ruhe, Kompetenz und Zuversicht in die Situation
bringen kann,
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weil dieser aus forensischer Sicht gefordert wird (Schulterdystokie als
regelwidrige Geburtssituation gehört in den ärztlichen
Kompetenzbereich).
Für den Hilferuf haben sich Codeworte bewährt, die keine zusätzliche
Beunruhigung in die Situation bringen („Wir warten auf die nächste
Wehe.“)
Bei der Schulterdystokie gilt in besonderem Maße: Der oder die Kompetenteste
leitet die Handlungen. Und das ist nicht automatisch der/die herbeigerufene
Arzt/Ärztin.
Bei der Dokumentation ist zu beachten: Eine Schulterdystokie liegt streng
genommen nur dann vor, wenn die Rotation auch durch Positionswechsel nicht gelingt
und man aktiv die Schulter lösen muss (ab Schritt 5 im o. g. Handlungsplan). Es wäre
also falsch, bereits vorher diese Diagnose zu dokumentieren.
Die Diagnose „schwere Schulterentwicklung“ sollte nicht dokumentiert werden,
weil es keine Definition für die zeitlichen Abläufe bei der Schulterrotation gibt.
Man muss nicht schlafende Hunde wecken. Eine sorgfältige und forensisch sichere
Dokumentation wäre: „Geburt des Kopfes um … Uhr, zur Erleichterung der
Schulterrotation Positionswechsel in folgende Positionen …, Geburt des Körpers um …
Uhr.“
Immer wieder geistert in Handlungsrichtlinien zur Schulterdystokie die Forderung nach
einer ausgedehnten Episiotomie herum. Es sei nochmals betont: Die
Schulterdystokie ist ein Problem des knöchernen Beckens und nicht des Beckenbodens.
Allerdings sollte man bei der Dokumentation stets bedenken, dass man nicht wissen
kann, auf welcher fachlichen Expertise sich ein potenzieller Gutachter befindet.
Deshalb ist folgender Satz obligat: „Das Eingehen der Hand gelang
unkompliziert, deshalb konnte auf eine Episiotomie verzichtet werden.“