Z Orthop Unfall 2012; 150(03): 244-245
DOI: 10.1055/s-0032-1320098
Für Sie gelesen
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Buchbesprechung

Contributor(s):
F. U. Niethard
Hildebrandt Jan, Pfingsten Michael.
Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule – Interdisziplinäres Praxisbuch entsprechend der nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz.

München: Urban & Fischer-Elsevier GmbH; 2. überarbeitete Auflage mit 360 Abbildungen,
ISBN: 978-3-437-23251-0
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Publication History

Publication Date:
21 June 2012 (online)

 
 
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    Studien aus den USA zeigen, dass ein Patient mit Bandscheibenvorfall S1, ausstrahlenden Schmerzen und positivem Lasègue eine vielfach höhere Operationswahrscheinlichkeit hat, wenn er sich beim Neurochirurgen vorstellt als beim Orthopäden. Der eine versucht, die Nervenwurzel zu retten, der andere die Bandscheibe. Es ist also bekannt, dass die Interpretation von wirbelsäulenbedingten Beschwerden, je nach Fachgebiet, unterschiedlich ausfallen kann. Dies trifft ganz besonders für die 5 % der Patienten mit Schmerzbefunden zu, die in einen chronischen Verlauf münden und über 50 % der Kosten verursachen. In Deutschland haben sich primär Anästhesisten dieser chronischen Schmerzproblematik angenommen. Hildebrandt hat schon in den achtziger Jahren mit seiner Habilitation neue Wege für die Aktivierung derartiger Patienten und Vermeidungsstrategien bei der Entstehung chronischer Schmerzzustände aufgezeigt. Aus den USA kommend sind dann zunehmend die psychologischen Aspekte in den Vordergrund getreten. Ihnen wird eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der so genannten nichtspezifischen Rücken- oder Kreuzschmerzen eingeräumt, nämlich dann, wenn keine spezifische Diagnose gestellt werden kann.

    Nach Angaben in diesem Buch soll dies zwischen 85-95 % der Fall sein. Der Schwerpunkt dieses Buches liegt daher in der Darstellung nichtorthopädischer Aspekte. Von den insgesamt 57 Autoren, die an dem Buch mitgearbeitet haben, sind neun aus dem Fach Orthopädie.

    Das Buch rankt sich im Wesentlichen der so genannten Versorgungsleitlinie unspezifischer Kreuzschmerz entlang, die zwischen 2006 und 2010 entstanden ist. An der Erstellung dieser Leitlinie waren immerhin 26 verschiedene Fachgesellschaften beteiligt, was nicht nur zeigt, wie komplex die Thematik ist, sondern auch, wie viele Bereiche und damit auch Fachgesellschaften um die Patienten konkurrieren. Wenn es im Vorwort heißt, dass vom Krankheitsbild Rückenschmerz mit klassischer Behandlung eine gewaltige (Gesundheits-) Industrie lebt, so müsste dem hinzugefügt werden, dass auch die sogenannten "therapeutischen Lager", also die unterschiedlichen Arztgruppen an der Versorgung dieses häufigen Krankheitsbildes interessiert sind. Nicht zuletzt aber wird dieser Bereich auch vom Patienten und dessen Bedürfnissen bis hin zum sekundären Krankheitsgewinn gelenkt.

    Dass psychologische Momente bei der Interpretation von Krankheitsbildern insgesamt in der Bundesrepublik heute noch zu gering berücksichtigt werden, kann wohl kaum noch behauptet werden. Während der sogenannten Bone and Joint Decade 2000 bis 2010 wurde mit Zahlen agiert, wonach in Deutschland die Mehrzahl der Frühberentungen auf Grund muskuloskelettaler Erkrankungen und Verletzungen erforderlich ist. Dies hat sich deutlich zu Gunsten psychologischer Erkrankungen gewandelt. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeittage wegen psychischer Probleme und Verhaltensstörungen hat sich seit 2001 bis 2006, das heißt dem Beginn der Erstellung der nationalen Versorgungsleitlinie unspezifischer Kreuzschmerz, von 6,6 auf annähernd 11 %, d.h. um 50 % und seit dem noch einmal um 50 % vermehrt, also über einen Zehn-Jahreszeitraum verdoppelt. Wenn nun einerseits die "Psychologisierung" auch dieses Krankheitsbildes weiter voranschreitet und zugleich über eine rapide steigende Operationszahl bei Wirbelsäulenerkrankungen berichtet wird, scheint immer noch nicht alles rund zu laufen.

    Es ist der Verdienst des Buches, auch auf die Defizite in allen Bereichen hinzuweisen. Das Buch umfasst sieben Kapitel, von denen sich insbesondere die zur Epidemiologie, über die Krankheitsbilder und Therapie auch mit den nationalen Versorgungsleitlinien unspezifischer Kreuzschmerz auseinandersetzen. Eine nach wie vor offene Flanke in der Diskussion sind die Definitionen. Der Orthopäde versteht unter dem Rückenschmerz denjenigen von Brust und Lendenwirbelsäule. Diskutiert wird hier schwerpunktmäßig der Kreuzschmerz, wie er auch in der nationalen Versorgungsleitlinie abgebildet wurde. Wo nun aber die Grenzen zwischen spezifischen und unspezifisch liegen, muss auch nach der Lektüre dieses Buches unklar bleiben. Man bedenke z. B., dass die Modic-I-Veränderungen, die gute Prädiktoren für Rückenschmerzen sind, vor der kerspintomographischen Ära überhaupt nicht zu erkennen waren. Sind Schmerzen dieser Art also spezifisch oder unspezifisch? (gilt auch für das so genannte Facettensyndrom und diskogene Schmerzzustände, die differentialdiagnostisch herauskristallisiert werden können).

    Wenn auch den Orthopäden einige Aspekte bei der Bewertung von Kreuzschmerzen fehlen (so z. B. die Darstellung von Provokationstests an der Wirbelsäule, Untersuchungstechniken zur Darstellung von Aggravation und Simulation), so bietet dieses Buch doch einen hervorragenden Überblick über die derzeitige Versorgungssituation und die noch anstehende Problematik in Deutschland. Ob es derzeit noch gilt, dass psychosoziale Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzerkrankungen immer noch vernachlässigt werden, müsste wohl unter den aktuellen Gegebenheiten überprüft werden. Dass eine Fachspezialisierung und "Scheuklappensicht" der Bewertung der Krankheitsbilder und dem Patienten nicht gerecht werden, ist bekannt. Eine einseitig somatisch oder operativ ausgerichtete Weiterbildung ist aber ebenso schädlich wie eine einseitig psychische. Im Vorwort wird treffend ausgedrückt: Wer komplexere Rückenschmerzen jenseits eindeutiger Pathologie behandeln will, muss ausreichende Kenntnisse der Bewegungs- und Verhaltentherapie haben.

    Hinzuzufügen wäre, dass der Untersuchende dann aber auch über entsprechende Kenntnisse verfügen muss, um den unspezifischen vom spezifischen Kreuzschmerz unterscheiden zu können. Das dies wiederum nur mit einem interdisziplinären Ansatz und durch ein sinnvolles Gesamtmanagement möglich ist, wird durch die Herausgeber in abschließenden Kapiteln dargestellt. Einer unbedingt notwendigen Versorgungsforschung muss es überlassen bleiben, die Effizienz aller dieser Verfahren zu überprüfen. Es gibt noch viel zu tun….

    F. U. Niethard, Aachen


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