Die Autoren dieser als Metaanalyse angelegten Studie gehen der Frage nach, ob eine
Amputation als Ultima Ratio in der Behandlung des chronischen komplexen regionalen
Schmerzsyndroms Typ 1 (CRPS I, M. Sudeck) nach ausgereizter erfolgloser konservativer
Therapie empfohlen werden kann.
Therapy-Resistant Complex Regional Pain Syndrome Type I: To Amputate or Not? J Bone
Joint Surg Am 2011; 93: 1799–1805
Material und Methode
In den Datenbanken EMBASE und PUBMED wurde nach den Stichworten "komplexes regionales
Schmerzsyndrom" (inklusive der Synonyme CRPS, Dystrophie, Algodystrophie, Südeck [sic]
und sympathische Reflexdystrophie) in Kombination mit "Amputation" gesucht. In die
Auswertung wurden Studien in englischer, holländischer und dänischer Sprache entsprechend
einem von der Untersuchergruppe erstellten Auswahlverfahren eingeschlossen. Aufgrund
der begrenzten Menge an Literatur bedienten sie sich hierzu einer Literaturrecherche,
in die explizit Fallberichte eingeschlossen wurden.
Entsprechend der von den Autoren vorgegebenen Kriterien konnten 26 Artikel gefunden
werden, die zwischen 1948 und 2009 veröffentlicht wurden. Es handelte sich sämtlich
um Fallserien und Einzelfallberichte mit dem Evidenzgrad IV. Insgesamt wurden 107
Patienten beschrieben, darunter 38 Männer und 55 Frauen, bei 14 Patienten war kein
Geschlecht angegeben. Eine durchschnittliche Dauer zwischen dem ersten Auftreten des
CRPS und der Amputation wurde mit 69 Monaten angegeben.
Die Diagnosestellung wird als heterogen beschrieben, lediglich in zwei Studien wurde
die Diagnose CRPS anhand der IASP-Kriterien (International Association for the Study
of Pain, siehe Kasten) gestellt, in den übrigen Studien wurden ältere oder auch nicht
näher spezifizierte Diagnosekriterien verwendet. Unter den bis zum Amputationszeitpunkt
angewendeten Therapien waren Physiotherapie, (nicht näher definierte) medikamentöse
Therapie, Sympathikusblockaden, chirurgische Sympathektomie und psychologische Behandlung.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 111 Amputationen dokumentiert, davon 37 an der oberen, 63 an der
unteren Extremität und 11 ohne Angabe des Amputationsortes. Die Wahl der Amputationshöhe
wurde in nur einer Studie mit 8 Fällen begründet. Als häufigste Gründe für eine Amputation
wurden Schmerz, eine unbrauchbare Extremität und Infektionen/Ulzerationen genannt.
Im Bezug auf die Operationsergebnisse wurden Rezidive des CRPS I oder Phantomschmerz
insgesamt in ca 50% der Fälle festgestellt. Die übrige Komplikationsrate lag bei etwa
30 % (Infektionen, Wundheilungsstörungen und Druckgeschwüre). Eine Rückkehr in den
Arbeitsalltag gelang bei ca 30 % der Patienten. Aussagen zu Erfolgskriterien wie Patientenzufriedenheit,
Lebensqualität oder erfolgreicher Einsatz von Prothesen waren aufgrund der äußerst
inhomogenen Beschreibung in den einzelnen Arbeiten nicht zu treffen.
Diskussion
In der Diskussion wird kritisch auf den Wert der eingeschlossenen Publikationen eingegangen.
Keine der Arbeiten enthält eine Kontrollgruppe, hierdurch ist nicht zu bewerten, ob
ein möglicher Erfolg der Amputation auf der Intervention beruht oder einem Placeboeffekt,
natürlicher Verlauf oder einfach Zufall ist. Ferner wird insbesondere die schwierige
Vergleichbarkeit aufgrund uneinheitlicher oder ganz fehlender Diagnosekriterien des
CRPS I angeführt, so dass nicht sicher beantwortet werden kann, ob es sich bei den
dokumentierten Patienten aus heutiger Sicht überhaupt um Fälle mit CRPS I handelt.
Auch die z.T. schlecht dokumentierte postoperative Entwicklung von Schmerz, Behinderung
und Lebensqualität wird diskutiert. Obwohl der Schmerz bei 80 % der Patienten als
ausschlaggebender Grund für eine Amputation angegeben wurde, ließ sich aufgrund uneinheitlicher
Dokumentation keine Aussage zur Verbesserung der Lebensqualität in Bezug auf Schmerzen
postoperativ treffen.
Die hohe CRPS-Rezidivrate von 50% in der Gesamtpopulation erklärt sich durch eine
eingeschlossene Studie, bei der eine Rezidivrate von 100 % nach Amputation beobachtet
wurde. Unter Ausschluss dieser Arbeit liegt die Rezidivrate nur noch bei 8 %.
Die auffällige Geschlechterverteilung (m:f = 1:1,4) wird ebenfalls kommentiert. Bei
der Verteilung des CRPS I allgemein besteht ein ungefähres Verhältnis von m:f = 1:3.
Die hohe Rate an Männern, die eine Amputation als Therapie durchführen lässt, ist
anhand dieser Untersuchung nicht erklärbar, es wird eine verstärkte Bereitschaft von
Männern zur Amputation vermutet.
Zusammenfassend sehen die Autoren aufgrund ihrer Studie eine Rechtfertigung zur Amputation
beim lang andauernden CRPS I nach Ausschöpfen aller konservativen Therapien in Sonderfällen
als gegeben. Insbesondere bei gleichzeitig vorliegender nicht beherrschbarer Infektion
scheint die Indikation gerechtfertigt zu sein. Wegen der schlechten Vergleichbarkeit
der verfügbaren Studien kann keine abschließende Empfehlung gegeben werden, so dass
die Autoren dieser Arbeit neue Studien nach einheitlichen Kriterien fordern.
Kommentar
Diese Studie stellt den Versuch dar, mit Hilfe einer Metaanalyse eine Bewertung der
Amputation in der Therapie des lange andauernden, therapieresistenten CRPS abzugeben.
Die zur Beantwortung der Frage herangezogene Literatur besteht ausschließlich aus
Fallserien und Fallberichten und erreicht daher nur einen Evidenzgrad von IV. Eine
weitere Schwierigkeit ist die völlig uneinheitliche Diagnosestellung für das CRPS
in den untersuchten Arbeiten. Nur 2 Studien wendeten vergleichbare Kriterien der IASP
an, dies ist durch den Einschluss historischer Studien erklärbar, da die Diagnosekriterien
erst 1994 von der IASP erstellt wurden. Vor dem Hintergrund einer hohen Heterogenität
der vorliegenden Literatur in Bezug auf Einschlusskriterien und Erfolgsauswertung
kann in der vorliegenden Studie keine allgemeingültige Empfehlung für oder wider eine
Amputation bei lang anhaltendem CRPS I ausgesprochen werden.
In Leserbriefen wurde den Autoren der Studie vorgeworfen, nicht eindeutig genug von
der Amputation als Therapieoption Abstand zu nehmen. Auch die aktuellen AWMF-Leitlinien
in Deutschland sehen in der Behandlung des CRPS I keine Amputation vor. Der Eingriff
sollte nach Auffassung des Kommentators auf keinen Fall als regelhafter Bestandteil
der CRPS- Therapie angesehen werden und nur individuell zu begründenden, absoluten
Ausnahmefällen vorbehalten sein.
Dr. med. Philipp Herlyn
Chirurgische Klinik und Poliklinik
Abt. für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsmedizin Rostock
E-Mail:
philipp.herlyn@gmx.de
Die Diagnose der CRPS ist eine klinische Diagnose. Deshalb ist die Anamneseerhebung,
die klinisch-orthopädische und neurologische Untersuchung der entscheidende Schritt
in der Diagnosefindung. Ein wesentliches Leitsymptom der CRPS ist, dass die im Folgenden
aufgeführten Symptome generalisieren, d.h. die gesamte betroffene Extremität erfassen
und nicht nur auf das Areal z.B. eines verletzten Nervs beschränken. Für die Diagnose
müssen die Punkte 1 bis 4 erfüllt sein:
-
Anhaltender Schmerz, der für das Anfangstrauma nicht mehr erklärt wird
-
Die Patienten müssen mindestens 1 Symptom aus 3 der 4 folgenden Kategorien in der
Anamnese nennen:
a. Hyperalgesie (Überempfindlichkeit für Schmerzreize); "Hyperästhesie" (Überempfindlichkeit
für Berührung, Allodynie)
b. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
c. Asymmetrie im Schwitzen; Ödem
d. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, "Paresen" (im Sinne von Schwäche);
Veränderung von Haar und Nagelwachstum
-
Bei den Patienten muss mindestens ein Symptom aus 2 der 4 folgenden Kategorien zum
Zeitpunkt der Untersuchung vorliegen:
e. Hyperalgesie auf spitze Reize (z.B. Zahnstocher); Allodynie; Schmerz bei Druck
auf Gelenke/Knochen/Mukeln
f. Asymmetrie der Hauttemperatur; Veränderung der Hautfarbe
g. Asymmetrie im Schwitzen; Ödem
h. Reduzierte Beweglichkeit, Dystonie, Tremor, "Paresen" (im Sinne von Schwäche);
Veränderung von Haar und Nagelwachstum
-
Eine andere Erkrankung erklärt die Symptomatik nicht hinreichend. Die Hauttemperatur
wird mit geeigneten Instrumenten gemessen, alle anderen Symptome werden klinisch beurteilt.
Um Punkt 4 beantworten zu können, müssen differenzialdiagnostisch insbesondere folgende
Erkrankungen, die ein CRPS vortäuschen können, ausgeschlossen sein: Erkrankungen des
rheumatischen Formenkreises, Entzündungen (z.B. erregerbedingte Arthritiden, Infektionen
nach Chirurgie, Polyneuritiden oder Rakulitiden), thromboembolische Erkrankungen,
Kompartment- und Nervenkompressionssyndrome. Hierzu dienen unter anderem laborchemische
Untersuchungen. Das CRPS ist nicht durch Auffälligkeiten bei Routinelaborparametern
wie z.B. CRP-Erhöhung oder BSG-Beschleunigung gekennzeichnet. Oft nicht einfach ist
die Abgrenzung von den Folgen psychiatrischer Erkrankungen, vor allem bei Vorliegen
einer dissoziativen Störung mit autoagressiven Handlungen. Komplizierend ist anzumerken,
dass ein Teil dieser genannten Erkrankungen auch ein CRPS auslösen kann.
Der Verlauf der Erkrankung sollte mit in der Schmerztherapie üblichen Methoden unter
Einschluss von Schmerzquantifizierung, Funktionsparametern (Kraft, Bewegungsumfang,
Umfangsmessung) und vegetativen Funktionsstörungen dokumentiert werden.