Die Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen e.V.
vom 28. 04. bis zum 02. Mai brachte nach Angaben des Veranstalters erneut rund 3.000
Teilnehmer und 160 Ausstellerfirmen nach Baden-Baden. Konferenzsprache war deutsch,
wenngleich diesmal öfter als sonst mit österreichischem Zungenschlag.
Als zweitgrößter deutschsprachiger Kongress des Fachs versucht die VSOU-Tagung traditionell
möglichst viele Orthopäden und Unfallchirurgen zur Fortbildung nach Baden-Baden zu
holen.
Während nun schon im dritten Jahr erneut ein Programmteil eigens den Assistenzärzten
galt, waren Falldiskussionen, in die sich das Publikum direkt mit einklinken sollte,
ein Novum. Gedacht gerade auch für Experten. Sie, meistens auf den oberen Sprossen
der Karriereleiter anzusiedeln, erhalten sonst kaum mehr Feedback, erklärte Kongresspräsident
Martin Krismer: "Die korrigiert keiner mehr. Die Chance darauf, sollen sie hier wieder
bekommen." Krismer, 1955 in Innsbruck geboren, heute dort Professor und Direktor der
Universitätsklinik für Orthopädie, freute sich gegenüber Journalisten, der vierte
Österreicher zu sein, der in der Geschichte der Tagung einen VSOU-Kongress leitet.
Sein Motto: Klarheit.
Volles Haus bei der Eröffnungsveranstaltung.(Foto: Text, PR & mehr)
Breite des Fachs nicht "kampflos" aufgeben
Breite des Fachs nicht "kampflos" aufgeben
Aus dem Berufsverband BVOU kamen hingegen auch in Baden-Baden rauere Töne. "Das Fach
wird von allen Seiten angeknabbert", analysierte Dr. med Andreas Gassen, Vizepräsident
des BVOU. Internisten wie Gynäkologen bekämen zum Beispiel mehr und mehr Geschmack
an der Osteoporose und wollten dieses Thema für sich besetzen. "Pädiater haben uns
die Säuglinssonographie weitgehend schon abgenommen,", so Gassen weiter. Seine Mahnung:
"Es wäre sträflich, wenn wir uns kampflos von der Breite unseres Rheumatologie nicht
kampflos aufgeben."
Schieflagen gebe es allerdings auch innerhalb des Fachs. Die Konservative Orthopädie
sei womöglich schon ein "Fall für die Rote Liste". Gassen: "Es gibt in Deutschland
kaum noch Kinderkliniken, die einen konservativen Schwerpunkt haben." Ein Grund dafür
sei das DRG-System. Doch auch in den Arztpraxen könne konservative Orthopädie mittlerweile
kaum noch kostendeckend erbracht werden. Dafür, so der Verbandsvertreter, werde man
andererseits politisch als Sau durchs Dorf getrieben und "für Kosten verantwortlich
gemacht, die wir nicht zu verantworten haben".
Womit auch auf der kleinen Pressekonferenz in Baden-Baden eine muntere Debatte zum
Thema "Zu viele Operationen in Deutschland?" eröffnet war.
Wenige Tage vor dem Baden-Baden-Kongress hatte bekanntlich in Berlin, Prof. Hans-Peter
Bruch als Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen (BDC) in Berlin gefordert,
dass bei den Zielvereinbarungen der Kliniken die medizinische Qualität die größte
Rolle spielen müsse. Finanzielle Anreize könnten hier, so auch die Sorge des BDC,
Fehlanreize schaffen.
209.000 künstliche Hüftgelenke, 175.000 künstliche Kniegelenke wurden 2010 hierzulande
implantiert. Nach einer Auswertung der Barmer-GEK ist das gegenüber 2003 eine Zunahme
um 18, und 52 Prozent. Auch wenn die DGOOC diese Zahl Anfang Mai relativierte, halten
viele Chirurgen die Zuwachsraten nicht mehr allein für medizinisch erklärbar.
Das Urteil in Baden-Baden fiel da deutlich vorsichtiger aus. Ein wichtiger Antreiber
sei schlicht eine steigende Nachfrage, meinte Martin Krismer: "Es ist heute im Allerweltswissen
verankert, dass man sich bei Kniegelenksproblemen eben eine Prothese holen kann."
Die Menschen in Mitteleuropa seien heute nicht mehr bereit, Einschränkungen in Kauf
zu nehmen, sekundierte Dr. med Hermann Locher, designierter Präsident der VSOU-Tagung
im nächsten Jahr. Zielvereinbarungen in den Kliniken sorgten eher als "innerstrukturelle
Maßnahme" dafür, dass der höhere Bedarf eben auch gedeckt werde.
(Fotos: Text, PR & mehr)
Wissenschaftlich ein Schwerpunkt war diesmal die Implantat-assoziierte Knocheninfektion.
Manch Experte sieht hier eine Katastrophe heraufziehen. Noch sind es relativ wenige
Fälle, doch die Zahlen steigen und die Patienten werden immer jünger. Nach Schätzungen
sind bei primärem Hüft- und Kniegelenksersatz bis zu 2 Prozent der Patienten, bei
osteosynthetischer Versorgung geschlossener Frakturen bis zu fünf Prozent und bei
offenen Brüchen ein Vielfaches der Patienten betroffen, wie Prof. Dr. med. Christof
Wagner vom Klinikum Ingolstadt GmbH referierte. Längst hat sich dabei ein Paradigmenwechsel
vollzogen: "Unser zentrales Ziel ist die Infektberuhigung, Sie können den Infekt nicht
entfernen", wusste Wagner. Und bei 10 bis 30 Prozent der Betroffenen lassen Rezidive
am Ende nur die Amputation einer Gliedmaße als letzten Ausweg.
Die Grundlagenforschung kommt nicht recht voran. Bis zu 80 Prozent der Infektionen
gehen auf Biofilme zurück. Künstliche Oberflächen im Organismus sind Idealflächen
für die Besiedlung mit Bakterien. Ist dort erst mal ein "reifer" Biofilm etabliert,
bleibt meist nur noch der Ausbau des Implantats. Denn Strategien, etwa mittels Ultraschall
Biofilme abzulösen oder durch raffinierte molekulare Tricks in das Quorum-Sensing-Kommunikationssystem
der Bakterien einzugreifen, haben bislang nicht zu neuen Therapien geführt. Die Patienten
frühzeitig in ein spezialisiertes Zentrum zu bringen, war Wagners pragmatische Forderung,
damit die Behandlung zumindest bestmöglich erfolgen kann.
Einbahnstraße der Prothetik
Einbahnstraße der Prothetik
Erschwerend hinzu komme eine Verschiebung im Spektrum der oft hochresistenten Erreger,
berichtete Prof. Rudolf Ascherl aus Chemnitz in einem der Fachsymposien. Häufiger
als MRSA macht mittlerweile MRSE (Methicillin-resistenter Staphylococcus epidermidis) Probleme. Und man habe bereits 11 Prozent Propionibakterien bei diesem Patientengut,
berichtete Ascherl.
Am Ende bleiben nur die chirurgischen Verfahren: Ausbau der Prothese, Debridement,
Einbau von Spacern, Antibiotikaspülungen – alles in der Hoffnung, am Ende noch eine
dauerhafte Implantatversorgung zu schaffen. Man handle hier als Chirurg aber gezwungenermaßen
wider Besseres Wissen, kommentierte Dr. Peter Herrmann von der BG Klinik Ludwigshafen.
"Bakterien mögen Metall. Wir Ärzte mögen daher kein Metall. Aber wir vergraben mit
den Megaprothesen die größten Metallfremdkörper im Körper." Für ihn die "Einbahnstraße
der Prothetik." Lösungen sind derzeit kaum in Sicht.
Die Kosten sind enorm: Auf 287.000 Euro kam die Behandlung einer einzigen Patientin
in Ascherls Klinikum, sie durchlitt 16 Eingriffe in einem Jahr. Die Angst dieser Patienten
sei so hoch wie bei onkologischen Patienten, berichtete Ascherl.
Hie und da zeichnen sich zumindest Möglichkeiten für bessere Diagnostik ab. Neben
dem Diagnosekriterium "Schmerzende Hüfte" des Patienten, sowie erhöhten CRP-Werten
stellte sich der histopathologische Score nach Krenn und Morawietz als guter Parameter
heraus, um intraoperativ beurteilen zu können, ob wirklich eine Infektion vorliegt
oder nicht, wie Dr. Michael Müller von der Berliner Charité anhand von Studiendaten
an Hüftpatienten berichtete. Müller: "Die Histopathologie sollte standardmäßig eingesetzt
werden."
Direkt zu beheben wären Mängel bei der Versorgung. Alle Betroffenen zeigten einen
sehr schlechten Zahnstatus. Solche Warnzeichen, auch den Zustand von Zehen und Füßen,
gelte es bei den Patienten wieder viel gründlicher anzuschauen und in Diagnostik wie
Behandlung einzubeziehen, mahnte Ascherl. Das werde oft vernachlässigt: "Wir gehen
da einen völlig falschen Weg in den Kliniken."
Für andere Fragen fehlen Studien: Dr. Jean-Yves Jenny aus Straßburg berichtete von
guten Erfolgen allein mit einem einzeitigen Prothesenwechsel bei infizierter Knie-Endoprothese
und forderte mehr Vergleichsdaten mit der zweizeitigen Vorgehensweise: "Uns fehlen
die Studien dazu."
Kein großer Ärztekongress ohne transmedizinale Ansprüche. Der VSOU bot diesmal Konrad
Paul Liessmann, Univ. Prof. für Philosophie an der Universität Wien, und Leiter des
Philosophicum Lech. Der 1953 in Villach, Kärnten, geborene Philosoph kennt die mediale
wie die fachliche Bühne als mehrfach preisgekrönter Buchautor und Verfasser zahlreicher
Zeitungs- und Fachzeitschriftenartikel. Sein Thema in Baden-Baden: Der Aufrechte Gang.
Untertitel: Über die Zukunft der akademischen Bildung.
Nahverwandte Arten beriechen sich
Nahverwandte Arten beriechen sich
Obwohl es ihm zu Beginn etwas "waghalsig" erschien, zu Orthopäden über den Aufrechten
Gang zu berichten, gab Liessmann dann doch eine kurze Tour de Force zu dessen Evolution.
Ohne Aufrechter Gang kein Homo sapiens, erst dadurch wurde das Auge zum wichtigsten
Sinnesorgan, "die ehemalige Vorderpfote frei zum Verfertigen von allerhand Werkzeugen,
leider auch von Waffen". Erst der Aufrechte Gang erlaube, dass Menschen sich vis a
vis begegnen können. Liessmann: "Unsere nahverwandten Arten beriechen sich noch von
hinten." Spätestens mit der europäischen Aufklärung wurde der aufrechte Gang auch
zum Sinnbild des freien Menschen, damit auch der liberalen Bürgergesellschaft.
Dann aber die Bildung, genauer der Bologna-Prozess. 1999 mit der von 20 EU-Ministern
gezeichneten Bologna-Erklärung mit großem Pomp aufs Gleis gesetzt steht der Name der
Stadt seither auch für die Vereinheitlichung der Hochschulabschlüsse in derzeit 47
Ländern, vor allem der Europäischen Union. Liessmann ist nicht der erste, der die
Umsetzung des löblichen Vorhabens ("Keiner wird gegen einen europäischen einheitlichen
Bildungsraum Einwände haben") zu Felde zieht: "Dass daraus ein starrer Mechanismus
wurde mit aufgeblähter Verwaltung, unnötigen Evaluierungen, verwirrenden Zertifizierungen,
zahllosen Reglementierungen ... wird zur Frage führen, warum der Prozess so entgleiten
konnte." Allein in Österreich zähle man mittlerweile 315 akademische Titel, die Studiengänge
verschult und verplanter denn je und entsprechend immer weniger Raum zur "Erweiterung
des Horizonts", den die Universität seit dem Mittelalter eigentlich bieten sollte.
Taktgefühl, wie man mit dem Patienten spricht
Taktgefühl, wie man mit dem Patienten spricht
Klar ist auch für ihn: Das Rad zurückdrehen, wird kaum gehen. Liessmann: "Wir müssen
versuchen, Verbesserungen zu erreichen." Seine drei Kernforderungen dafür: Akademische
Bildung müsste auch in Zukunft nicht nur reine Methodenkenntnis sein, sondern auch
ein Wissen um das Wesen von Wissenschaft an sich, über den wissenschaftlichen Prozess
ermöglichen. Zweitens einen Sinn für die historischen Wurzeln von Wissenschaft. Und
dann müsse ein Akademiker auch ästhetische und moralische Qualitäten entwickeln. Etwa
Taktgefühl dafür, wie man mit einem Patienten spricht. Liessmann: "Kippt man dem eine
Nachricht so hin, betrügt man ihn oder kann man ihm sogar ein Placebo richtig vermitteln?"
Das war Referenz an die vorherige "Ansprache des Präsidenten". Martin Krismer gab
darin ein Plädoyer für den Einsatz von Placebos in der Orthopädie. Sei es Knorpelglätten
bei Arthrose im Kniegelenk oder Akupunktur bei Rückenschmerzen: "Meine Damen und Herren,
wesentliche Therapien, die wir verwenden, sind Scheintherapien." Ein kurzes Stocken
im Publikum, bevor Krismer Entwarnung gab: Solange durch den Einsatz von Placebos
kein Schaden entstehen könne – Krismer spricht von Opportunitätskosten – sei es gerechtfertigt,
den Placeboeffekt in der Medizin zu nützen.
Ein Problem bleibe, dass jeder Arzt den Patient richtig und offen aufklären müsse,
dabei aber riskiert, den Placeboeffekt zunichte zu machen, wenn er ihn zu sehr erklärt.
Krismer sieht hier dennoch Gestaltungsspielräume. Einem Patienten mit Rückenschmerzen
ließe sich sehr wohl erklären, dass Akupunktur wirksam sei, in Studien die gleiche
Wirkung wie eine Scheinakupunktur entfalte, dabei aber sogar weniger Nebenwirkungen
habe als die klassische Pharmakotherapie mit NSAR.
DGOU mit Koordinationsstörungen
DGOU mit Koordinationsstörungen
Dass die Existenz dreier Fachgesellschaften à la DGU, DGOOC, und DGOU allein die Einführung
von Vorsitzenden, Präsidenten und Vizepräsidenten mittlerweile auf Tagungen zur holprigen
Übung macht, war nicht Krismers Schuld.
Der Nachwuchsförderpreis, der seit 2010 vom VSOU und Rottapharm Madaus ausgeschrieben
wird, ging an Dipl-Ing Jan Nadorf vom Universitätsklinikum Heidelberg.(Foto. Text,
PR & mehr)
Ja, die DGOU - sie habe "morgens noch manchmal Koordinationsstörungen beim Aufstehen,
aber sie gedeiht", amüsierte sich Prof. Wolfram Mittelmeier, aktueller Präsident von
DGOU wie DGOOC.
Nun werde es Zeit für Musik, rettete sich Krismer einmal nach länglicher Aufzählung
von Titeln. Dafür sorgte Harposax aus Oberperfuss bei Innsbruck. Die Combo bietet
"Poppjazz", war in der Besetzung in Baden-Baden (Paul Heis: Saxophon …, Ramona Reiner:
Harfe, Lena Posch: Geige und Steirische Ziehharmonika) am besten, sobald sie auch
schräge und folkloristische Töne mixte.
Auszeichnungen gab es auch. Den Carl-Rabl-Preis für die beste Monographie erhielt
Anke Eckardt als Herausgeberin des Buchs Praxis LWS-Erkrankungen - Diagnose und Therapie.
Den erstmals ausgelobten Preis für die beste Veröffentlichung in der Zeitschrift für die orthopädische und unfallchirurgische Praxis (Jahresbestpreis-OUP) bekam eine Gruppe um Prof. Wolf Petersen aus Berlin. Die Hermann-Bauer-Medaille
erhielt Dr. Dieter Clemens für seine langjährigen Verdienste um die VSOU. Den VSOU-Nachwuchsförderpreis
bekam der Ingeniuur Jan Nadorf vom Universitätsklinikum Heidelberg.
Der nächste VSOU-Kongress ist vom 01. bis 04. Mai 2013 in Baden-Baden: http://www.vsou.de
BE