Z Orthop Unfall 2012; 150(03): 235-237
DOI: 10.1055/s-0032-1320092
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Kongressbericht – 60. VSOU-Tagung in Baden-Baden

Further Information

Publication History

Publication Date:
21 June 2012 (online)

 
 

Die Jahrestagung der Vereinigung Süddeutscher Orthopäden und Unfallchirurgen e.V. vom 28. 04. bis zum 02. Mai brachte nach Angaben des Veranstalters erneut rund 3.000 Teilnehmer und 160 Ausstellerfirmen nach Baden-Baden. Konferenzsprache war deutsch, wenngleich diesmal öfter als sonst mit österreichischem Zungenschlag.

Als zweitgrößter deutschsprachiger Kongress des Fachs versucht die VSOU-Tagung traditionell möglichst viele Orthopäden und Unfallchirurgen zur Fortbildung nach Baden-Baden zu holen.

Während nun schon im dritten Jahr erneut ein Programmteil eigens den Assistenzärzten galt, waren Falldiskussionen, in die sich das Publikum direkt mit einklinken sollte, ein Novum. Gedacht gerade auch für Experten. Sie, meistens auf den oberen Sprossen der Karriereleiter anzusiedeln, erhalten sonst kaum mehr Feedback, erklärte Kongresspräsident Martin Krismer: "Die korrigiert keiner mehr. Die Chance darauf, sollen sie hier wieder bekommen." Krismer, 1955 in Innsbruck geboren, heute dort Professor und Direktor der Universitätsklinik für Orthopädie, freute sich gegenüber Journalisten, der vierte Österreicher zu sein, der in der Geschichte der Tagung einen VSOU-Kongress leitet. Sein Motto: Klarheit.

Zoom Image
Volles Haus bei der Eröffnungsveranstaltung.(Foto: Text, PR & mehr)

Breite des Fachs nicht "kampflos" aufgeben

Aus dem Berufsverband BVOU kamen hingegen auch in Baden-Baden rauere Töne. "Das Fach wird von allen Seiten angeknabbert", analysierte Dr. med Andreas Gassen, Vizepräsident des BVOU. Internisten wie Gynäkologen bekämen zum Beispiel mehr und mehr Geschmack an der Osteoporose und wollten dieses Thema für sich besetzen. "Pädiater haben uns die Säuglinssonographie weitgehend schon abgenommen,", so Gassen weiter. Seine Mahnung: "Es wäre sträflich, wenn wir uns kampflos von der Breite unseres Rheumatologie nicht kampflos aufgeben."

Schieflagen gebe es allerdings auch innerhalb des Fachs. Die Konservative Orthopädie sei womöglich schon ein "Fall für die Rote Liste". Gassen: "Es gibt in Deutschland kaum noch Kinderkliniken, die einen konservativen Schwerpunkt haben." Ein Grund dafür sei das DRG-System. Doch auch in den Arztpraxen könne konservative Orthopädie mittlerweile kaum noch kostendeckend erbracht werden. Dafür, so der Verbandsvertreter, werde man andererseits politisch als Sau durchs Dorf getrieben und "für Kosten verantwortlich gemacht, die wir nicht zu verantworten haben".

Womit auch auf der kleinen Pressekonferenz in Baden-Baden eine muntere Debatte zum Thema "Zu viele Operationen in Deutschland?" eröffnet war.

Wenige Tage vor dem Baden-Baden-Kongress hatte bekanntlich in Berlin, Prof. Hans-Peter Bruch als Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen (BDC) in Berlin gefordert, dass bei den Zielvereinbarungen der Kliniken die medizinische Qualität die größte Rolle spielen müsse. Finanzielle Anreize könnten hier, so auch die Sorge des BDC, Fehlanreize schaffen.

209.000 künstliche Hüftgelenke, 175.000 künstliche Kniegelenke wurden 2010 hierzulande implantiert. Nach einer Auswertung der Barmer-GEK ist das gegenüber 2003 eine Zunahme um 18, und 52 Prozent. Auch wenn die DGOOC diese Zahl Anfang Mai relativierte, halten viele Chirurgen die Zuwachsraten nicht mehr allein für medizinisch erklärbar.

Das Urteil in Baden-Baden fiel da deutlich vorsichtiger aus. Ein wichtiger Antreiber sei schlicht eine steigende Nachfrage, meinte Martin Krismer: "Es ist heute im Allerweltswissen verankert, dass man sich bei Kniegelenksproblemen eben eine Prothese holen kann." Die Menschen in Mitteleuropa seien heute nicht mehr bereit, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, sekundierte Dr. med Hermann Locher, designierter Präsident der VSOU-Tagung im nächsten Jahr. Zielvereinbarungen in den Kliniken sorgten eher als "innerstrukturelle Maßnahme" dafür, dass der höhere Bedarf eben auch gedeckt werde.

Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
(Fotos: Text, PR & mehr)

Wissenschaftlich ein Schwerpunkt war diesmal die Implantat-assoziierte Knocheninfektion. Manch Experte sieht hier eine Katastrophe heraufziehen. Noch sind es relativ wenige Fälle, doch die Zahlen steigen und die Patienten werden immer jünger. Nach Schätzungen sind bei primärem Hüft- und Kniegelenksersatz bis zu 2 Prozent der Patienten, bei osteosynthetischer Versorgung geschlossener Frakturen bis zu fünf Prozent und bei offenen Brüchen ein Vielfaches der Patienten betroffen, wie Prof. Dr. med. Christof Wagner vom Klinikum Ingolstadt GmbH referierte. Längst hat sich dabei ein Paradigmenwechsel vollzogen: "Unser zentrales Ziel ist die Infektberuhigung, Sie können den Infekt nicht entfernen", wusste Wagner. Und bei 10 bis 30 Prozent der Betroffenen lassen Rezidive am Ende nur die Amputation einer Gliedmaße als letzten Ausweg.

Die Grundlagenforschung kommt nicht recht voran. Bis zu 80 Prozent der Infektionen gehen auf Biofilme zurück. Künstliche Oberflächen im Organismus sind Idealflächen für die Besiedlung mit Bakterien. Ist dort erst mal ein "reifer" Biofilm etabliert, bleibt meist nur noch der Ausbau des Implantats. Denn Strategien, etwa mittels Ultraschall Biofilme abzulösen oder durch raffinierte molekulare Tricks in das Quorum-Sensing-Kommunikationssystem der Bakterien einzugreifen, haben bislang nicht zu neuen Therapien geführt. Die Patienten frühzeitig in ein spezialisiertes Zentrum zu bringen, war Wagners pragmatische Forderung, damit die Behandlung zumindest bestmöglich erfolgen kann.


#

Einbahnstraße der Prothetik

Erschwerend hinzu komme eine Verschiebung im Spektrum der oft hochresistenten Erreger, berichtete Prof. Rudolf Ascherl aus Chemnitz in einem der Fachsymposien. Häufiger als MRSA macht mittlerweile MRSE (Methicillin-resistenter Staphylococcus epidermidis) Probleme. Und man habe bereits 11 Prozent Propionibakterien bei diesem Patientengut, berichtete Ascherl.

Am Ende bleiben nur die chirurgischen Verfahren: Ausbau der Prothese, Debridement, Einbau von Spacern, Antibiotikaspülungen – alles in der Hoffnung, am Ende noch eine dauerhafte Implantatversorgung zu schaffen. Man handle hier als Chirurg aber gezwungenermaßen wider Besseres Wissen, kommentierte Dr. Peter Herrmann von der BG Klinik Ludwigshafen. "Bakterien mögen Metall. Wir Ärzte mögen daher kein Metall. Aber wir vergraben mit den Megaprothesen die größten Metallfremdkörper im Körper." Für ihn die "Einbahnstraße der Prothetik." Lösungen sind derzeit kaum in Sicht.

Die Kosten sind enorm: Auf 287.000 Euro kam die Behandlung einer einzigen Patientin in Ascherls Klinikum, sie durchlitt 16 Eingriffe in einem Jahr. Die Angst dieser Patienten sei so hoch wie bei onkologischen Patienten, berichtete Ascherl.

Hie und da zeichnen sich zumindest Möglichkeiten für bessere Diagnostik ab. Neben dem Diagnosekriterium "Schmerzende Hüfte" des Patienten, sowie erhöhten CRP-Werten stellte sich der histopathologische Score nach Krenn und Morawietz als guter Parameter heraus, um intraoperativ beurteilen zu können, ob wirklich eine Infektion vorliegt oder nicht, wie Dr. Michael Müller von der Berliner Charité anhand von Studiendaten an Hüftpatienten berichtete. Müller: "Die Histopathologie sollte standardmäßig eingesetzt werden."

Direkt zu beheben wären Mängel bei der Versorgung. Alle Betroffenen zeigten einen sehr schlechten Zahnstatus. Solche Warnzeichen, auch den Zustand von Zehen und Füßen, gelte es bei den Patienten wieder viel gründlicher anzuschauen und in Diagnostik wie Behandlung einzubeziehen, mahnte Ascherl. Das werde oft vernachlässigt: "Wir gehen da einen völlig falschen Weg in den Kliniken."

Für andere Fragen fehlen Studien: Dr. Jean-Yves Jenny aus Straßburg berichtete von guten Erfolgen allein mit einem einzeitigen Prothesenwechsel bei infizierter Knie-Endoprothese und forderte mehr Vergleichsdaten mit der zweizeitigen Vorgehensweise: "Uns fehlen die Studien dazu."

Kein großer Ärztekongress ohne transmedizinale Ansprüche. Der VSOU bot diesmal Konrad Paul Liessmann, Univ. Prof. für Philosophie an der Universität Wien, und Leiter des Philosophicum Lech. Der 1953 in Villach, Kärnten, geborene Philosoph kennt die mediale wie die fachliche Bühne als mehrfach preisgekrönter Buchautor und Verfasser zahlreicher Zeitungs- und Fachzeitschriftenartikel. Sein Thema in Baden-Baden: Der Aufrechte Gang. Untertitel: Über die Zukunft der akademischen Bildung.


#

Nahverwandte Arten beriechen sich

Obwohl es ihm zu Beginn etwas "waghalsig" erschien, zu Orthopäden über den Aufrechten Gang zu berichten, gab Liessmann dann doch eine kurze Tour de Force zu dessen Evolution. Ohne Aufrechter Gang kein Homo sapiens, erst dadurch wurde das Auge zum wichtigsten Sinnesorgan, "die ehemalige Vorderpfote frei zum Verfertigen von allerhand Werkzeugen, leider auch von Waffen". Erst der Aufrechte Gang erlaube, dass Menschen sich vis a vis begegnen können. Liessmann: "Unsere nahverwandten Arten beriechen sich noch von hinten." Spätestens mit der europäischen Aufklärung wurde der aufrechte Gang auch zum Sinnbild des freien Menschen, damit auch der liberalen Bürgergesellschaft.

Dann aber die Bildung, genauer der Bologna-Prozess. 1999 mit der von 20 EU-Ministern gezeichneten Bologna-Erklärung mit großem Pomp aufs Gleis gesetzt steht der Name der Stadt seither auch für die Vereinheitlichung der Hochschulabschlüsse in derzeit 47 Ländern, vor allem der Europäischen Union. Liessmann ist nicht der erste, der die Umsetzung des löblichen Vorhabens ("Keiner wird gegen einen europäischen einheitlichen Bildungsraum Einwände haben") zu Felde zieht: "Dass daraus ein starrer Mechanismus wurde mit aufgeblähter Verwaltung, unnötigen Evaluierungen, verwirrenden Zertifizierungen, zahllosen Reglementierungen ... wird zur Frage führen, warum der Prozess so entgleiten konnte." Allein in Österreich zähle man mittlerweile 315 akademische Titel, die Studiengänge verschult und verplanter denn je und entsprechend immer weniger Raum zur "Erweiterung des Horizonts", den die Universität seit dem Mittelalter eigentlich bieten sollte.


#

Taktgefühl, wie man mit dem Patienten spricht

Klar ist auch für ihn: Das Rad zurückdrehen, wird kaum gehen. Liessmann: "Wir müssen versuchen, Verbesserungen zu erreichen." Seine drei Kernforderungen dafür: Akademische Bildung müsste auch in Zukunft nicht nur reine Methodenkenntnis sein, sondern auch ein Wissen um das Wesen von Wissenschaft an sich, über den wissenschaftlichen Prozess ermöglichen. Zweitens einen Sinn für die historischen Wurzeln von Wissenschaft. Und dann müsse ein Akademiker auch ästhetische und moralische Qualitäten entwickeln. Etwa Taktgefühl dafür, wie man mit einem Patienten spricht. Liessmann: "Kippt man dem eine Nachricht so hin, betrügt man ihn oder kann man ihm sogar ein Placebo richtig vermitteln?"

Das war Referenz an die vorherige "Ansprache des Präsidenten". Martin Krismer gab darin ein Plädoyer für den Einsatz von Placebos in der Orthopädie. Sei es Knorpelglätten bei Arthrose im Kniegelenk oder Akupunktur bei Rückenschmerzen: "Meine Damen und Herren, wesentliche Therapien, die wir verwenden, sind Scheintherapien." Ein kurzes Stocken im Publikum, bevor Krismer Entwarnung gab: Solange durch den Einsatz von Placebos kein Schaden entstehen könne – Krismer spricht von Opportunitätskosten – sei es gerechtfertigt, den Placeboeffekt in der Medizin zu nützen.

Ein Problem bleibe, dass jeder Arzt den Patient richtig und offen aufklären müsse, dabei aber riskiert, den Placeboeffekt zunichte zu machen, wenn er ihn zu sehr erklärt. Krismer sieht hier dennoch Gestaltungsspielräume. Einem Patienten mit Rückenschmerzen ließe sich sehr wohl erklären, dass Akupunktur wirksam sei, in Studien die gleiche Wirkung wie eine Scheinakupunktur entfalte, dabei aber sogar weniger Nebenwirkungen habe als die klassische Pharmakotherapie mit NSAR.


#

DGOU mit Koordinationsstörungen

Dass die Existenz dreier Fachgesellschaften à la DGU, DGOOC, und DGOU allein die Einführung von Vorsitzenden, Präsidenten und Vizepräsidenten mittlerweile auf Tagungen zur holprigen Übung macht, war nicht Krismers Schuld.

Zoom Image
Der Nachwuchsförderpreis, der seit 2010 vom VSOU und Rottapharm Madaus ausgeschrieben wird, ging an Dipl-Ing Jan Nadorf vom Universitätsklinikum Heidelberg.(Foto. Text, PR & mehr)

Ja, die DGOU - sie habe "morgens noch manchmal Koordinationsstörungen beim Aufstehen, aber sie gedeiht", amüsierte sich Prof. Wolfram Mittelmeier, aktueller Präsident von DGOU wie DGOOC.

Nun werde es Zeit für Musik, rettete sich Krismer einmal nach länglicher Aufzählung von Titeln. Dafür sorgte Harposax aus Oberperfuss bei Innsbruck. Die Combo bietet "Poppjazz", war in der Besetzung in Baden-Baden (Paul Heis: Saxophon …, Ramona Reiner: Harfe, Lena Posch: Geige und Steirische Ziehharmonika) am besten, sobald sie auch schräge und folkloristische Töne mixte.

Auszeichnungen gab es auch. Den Carl-Rabl-Preis für die beste Monographie erhielt Anke Eckardt als Herausgeberin des Buchs Praxis LWS-Erkrankungen - Diagnose und Therapie. Den erstmals ausgelobten Preis für die beste Veröffentlichung in der Zeitschrift für die orthopädische und unfallchirurgische Praxis (Jahresbestpreis-OUP) bekam eine Gruppe um Prof. Wolf Petersen aus Berlin. Die Hermann-Bauer-Medaille erhielt Dr. Dieter Clemens für seine langjährigen Verdienste um die VSOU. Den VSOU-Nachwuchsförderpreis bekam der Ingeniuur Jan Nadorf vom Universitätsklinikum Heidelberg.

Der nächste VSOU-Kongress ist vom 01. bis 04. Mai 2013 in Baden-Baden: http://www.vsou.de

BE


#
#

 
Zoom Image
Volles Haus bei der Eröffnungsveranstaltung.(Foto: Text, PR & mehr)
Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
(Fotos: Text, PR & mehr)
Zoom Image
Der Nachwuchsförderpreis, der seit 2010 vom VSOU und Rottapharm Madaus ausgeschrieben wird, ging an Dipl-Ing Jan Nadorf vom Universitätsklinikum Heidelberg.(Foto. Text, PR & mehr)