Aktuelle Urol 2012; 43(03): 139-140
DOI: 10.1055/s-0032-1315669
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Funktionelle Inkontinenz – Intensive Urotherapie wirkt bei Kindern nachhaltig

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Publication Date:
25 May 2012 (online)

 

Die konservative Urotherapie als Behandlungsoption funktioneller Inkontinenz bei Kindern beinhaltet u.a. die Beratung bez. des Miktionsverhaltens, das Miktions- und Biofeedbacktraining oder die Physiotherapie. Einzelne Studien belegen, dass eine stationäre Urotherapie bei ca. 70 % der Kinder erfolgreich ist. Ob und wie lange dieser Effekt anhält, hat nun eine niederländische Studie untersucht.
J Urology 2011; 78: 1391–1396

mit Kommentar

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Kinder mit funktioneller Inkontinenz profitieren von einer frühen, intensiven Urotherapie, so das Ergebnis dieser niederländischen Studie. Die älteren Kinder sprachen zwar schneller auf die Therapie an, im Langzeitverlauf machte das Alter der Patienten jedoch keinen Unterschied.(©MEV)

Wer in der Kindheit gut auf eine intensive Urotherapie anspricht, hat auch langfristig i.d.R. keine Miktionsbeschwerden. Zu diesem Ergebnis kamen Marianne Vijverberg, University Medical Center Utrecht/Niederlande, und Kollegen anhand einer Kohortenstudie mit 75 Patienten zwischen 6 und 17 Jahren. Diese wurden zwischen 1986 und 1990 wegen Blasenentleerungsstörungen oder überaktiver Blase stationär urotherapeutisch behandelt. Der Altersdurchschnitt der Kinder lag zu Beginn der Studie bei 9,9 ± 2,4 Jahren. Die Patienten erhielten in einem intensiven, stationären Training Anleitungen zu Miktionsgewohnheiten wie Häufigkeit des Wasserlassens und der Sitzpositionen beim Toilettengang. Zudem wurde geschult, wie Obstipation und Harnwegsinfektionen verhindert werden könnten. Die Urotherapie beinhaltete auch die Untersuchung des Harnflusses durch Uroflowmessung, Biofeedback-Training und Anleitungen zur Verhaltensänderung.

84 % der Patienten erzielten gute Langzeitresultate

Nach 6 Monaten wurden die Trainingsergebnisse anhand der folgenden Variablen gewertet: Art des Harndrangs, Einnässen am Tag, Miktionsfrequenz, Harndrang und Miktionsprofil. Dieselben 4 Variablen wurden für die Langzeitstudie im Jahr 2007 (durchschnittlich 17,9 Jahre später) erneut telefonisch abgefragt. Die Bewertung erfolgte jeweils anhand der Kategorien "gut", "moderat" und "schlecht". Die Kurzzeitergebnisse unterschieden sich nicht signifikant von denen der Langzeitbeobachtung (p = 0,726). Von den 56 Patienten, die damals ein gutes Resultat erzielten, fielen 47 Patienten im Langzeitverlauf weiterhin in die Kategorie "gut".

Von 7 Patienten mit zunächst "moderatem" Erfolg konnten sich 5 Patienten zu einem "gut" steigern. Auch von den 12 Patienten, deren Ergebnisse ursprünglich "schlecht" ausfielen, verbesserten sich 11 Patienten zu einem "gut". Im Durchschnitt waren diese 16 Patienten, die sich im Verlauf verbessert hatten, 2,1 Jahre nach der intensiven Urotherapie symptomfrei. Insgesamt wiesen 84 % der Patienten im Langzeitverlauf gute Resultate auf. Dennoch waren zum Zeitpunkt der Langzeitbeobachtung bei 8 Patienten die Werte noch immer "mangelhaft", bei 4 Patienten sogar "schlecht". Die Autoren untersuchten außerdem, inwiefern das Alter der Patienten bei Therapiebeginn die Wirksamkeit der Urotherapie beeinflusste. Obwohl ältere Kinder nach 6 Monaten offensichtlich bessere Resultate erzielten, war dieser Effekt im Langzeitverlauf nicht mehr nachweisbar (p = 0,687).

Fazit

Die Studie liefere mehrere Argumente, funktionelle Störungen des unteren Harntraktes schon im Kindesalter urotherapeutisch zu behandeln, so die Autoren. Zwar wurde ein Großteil derjenigen Patienten, die kurzfristig höchstens moderat auf die Urotherapie ansprachen, im späteren Verlauf auch spontan symptomfrei, aber trotzdem sei Abwarten keine Option, weil sonst behandelbare Ursachen übersehen werden könnten. Zudem verbessere die Urotherapie die Lebensqualität der Patienten, da Inkontinenz im Kindesalter einen negativen psychologischen Effekt habe. Die Autoren sehen zudem einen finanziellen Vorteil frühzeitiger urotherapeutischer Behandlung: Die Kosten für Arztbesuche und Medikamente fielen ansonsten über die Jahre höher aus.

Dr. Bettina Rakowitz, Sachsen b. A.


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Kommentar

Erste Ergebnisse zu Langzeitrespondern

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Dr. Cornelia Möhring ist Leiterin der Kinderurologie an der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Urologische Onkologie des Klinikums Niederberg, Velbert

Die Arbeitsgruppe um Frau Vijverberg publizierte 2011 Daten einer Langzeit-Analyse zu einer eigenen Studie aus dem Jahr 1997 im Journal of Urology [ 1 ]. Hierbei handelte es sich ursprünglich um eine Auswertung eines stationären Trainingsprogramms für Kinder mit funktionellen Blasenentleerungsstörungen. 1997 wurden 95 Kinder (Alter: 6–17 Jahre) in einem 10-tägigen stationären Aufenthalt einer Urotherapie inkl. Biofeedback zugeführt. Die Autoren schlossen nur Kinder ein, die unter einer Urge-Inkontinenz litten und zuvor therapierefraktär über 12 Monate hinweg medikamentös und mit ambulanter Urotherapie behandelt wurden.

In der aktuellen Arbeit wurden aus diesem Patientenkollektiv erneut 75 Patienten rekrutiert und in einem Follow-up von minimal 16,2 Jahren erneut befragt. Die kindliche LUTS spielt im pädiatrischen Alltag mit einer Prävalenz von 10 % bei Kindern unter 7 Jahren und deutlich belastenden Symptomen für Kind und Eltern eine wesentliche Rolle. Einnässen ist das häufigste urologische Symptom im Kindesalter. Es ist für den behandelnden Arzt eine Herausforderung, da der Erfolg oder Misserfolg der eingeleiteten Therapie das psychische und auch das körperliche Wohlergehen des Kindes deutlich beeinflusst. Daher sind Erkenntnisgewinne in der Langzeittherapie für die meisten kinderärztlich tätigen Ärzte durchaus von Relevanz.

Frau Vijverberg und Kollegen zeigten zum ersten Mal in diesem Kontext der kindlichen LUTS bei zunächst therapierefraktären Patienten die Ergebnisse einer stationären Urotherapie über ein mindestens 16 Jahre langes Follow-up. Die Literatur bot bis zu diesem Zeitpunkt nur einen Überblick über maximal 5 Jahre. Die Prävalenz der kindlichen LUTS liegt bei 10 % bei Kindern unter 7 Jahren und persistiert noch bei 1–2 % bis zum 18. Lebensjahr und wird im kurzen Follow-up mit einer Heilungsrate von 74 % betrachtet. Es existieren nur wenige Daten zu Langzeitrespondern auf die Urotherapie (exkl. Biofeedback) durch Wiener et al. 2000 mit einer Rate von 59,4% [ 2 ]. Langzeitresponder auf die Urotherapie (inkl. Biofeedback) wurden bis dato nicht klinisch belegt.

Die Studie von Vijverberg et al. besticht durch ein sehr langes Follow-up von 16,2–21,8 Jahren und bietet so sicher ein hohes Maß an Validität für den Erfolg der Urotherapie in der Behandlung der kindlichen LUTS. Auch die erreichte Rücklaufquote von rund 78 % (75 Kinder von 95) in der Langzeit-Patientenpopulation ist für eine angemessene Objektivität und Reliabilität mehr als ausreichend. In der Literatur sind solche qualitativen Gütekriterien sicher einzigartig und unterstreichen die Ergebnisse.

Anzumerken bleibt, dass ein Erfolg der LUTS-Therapie bei Vijverberg et al. lediglich an 4 Variablen gemessen wurde (Inkontinenzereignisse/Tag, Miktionsfrequenz, Drangereignisse und Harnstrahlprojektion). Unklar blieb hierbei, ob ein Flow-EMG durchgeführt wurde, ob Harnwegsinfektionsrezidive aufgetreten waren und ob einige der Kinder Restharnbildungen gezeigt hatten. Davon abgesehen, ist eine stationäre Urotherapie – zumindest im deutschsprachigen Raum – aus Kostengründen nur noch in Einzelfallentscheidungen zu realisieren. Da diese stationäre Urotherapie aktuell nicht praktikabel erscheint, fällt es schwer, diese Ergebnisse banal auf eine ambulante Urotherapie zu übertragen.

Die Erfolgsrate dieser Studie deckt sich mit den bisher publizierten Daten und kann mit 60 % aus dem realen Patientengut abgeleitet werden. Trotzdem ist sicher ein Kritikpunkt, dass hier spezifische Erfolgsvariablen gewählt wurden, die einen Vergleich mit anderen Arbeiten nicht möglich macht. Wie Flow-EMG-Kurven bei Kindern, die an LUTS leiden, Jahre nach einem Biofeedback-Training aussehen, bleibt weiterhin eine Frage von Interesse, die Vijverberg et al. zurzeit nicht beantworten können. Hier würden weiterführende Studien für Klarheit sorgen. Des Weiteren würde eine Langzeitstudie zum ambulanten Biofeedback-Training für unsere kinderurologische Sprechstunde von ungleich größerer Bedeutung sein.

Dr. Cornelia Möhring, Velbert


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  • Literatur

  • 1 Vijverberg MAW, Elzinga-Plomp A, Messer AP et al. Bladder rehabilitation, the effect of a cognitive training programm on urge incontinence. Eur Urol 1997; 31: 68-72
  • 2 Wiener JS, Scales MT, Hampton J et al. Longterm efficacy of simple behavioral therapy for daytime wetting in children. J Urol 2000; 164: 786-790

  • Literatur

  • 1 Vijverberg MAW, Elzinga-Plomp A, Messer AP et al. Bladder rehabilitation, the effect of a cognitive training programm on urge incontinence. Eur Urol 1997; 31: 68-72
  • 2 Wiener JS, Scales MT, Hampton J et al. Longterm efficacy of simple behavioral therapy for daytime wetting in children. J Urol 2000; 164: 786-790

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Kinder mit funktioneller Inkontinenz profitieren von einer frühen, intensiven Urotherapie, so das Ergebnis dieser niederländischen Studie. Die älteren Kinder sprachen zwar schneller auf die Therapie an, im Langzeitverlauf machte das Alter der Patienten jedoch keinen Unterschied.(©MEV)
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Dr. Cornelia Möhring ist Leiterin der Kinderurologie an der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Urologische Onkologie des Klinikums Niederberg, Velbert