Z Orthop Unfall 2012; 150(02): 121-125
DOI: 10.1055/s-0032-1311699
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Report – Rehabilitation: Auf der Suche nach Evidenz

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Publication Date:
12 April 2012 (online)

 
 

Eine verwirrende Vielfalt an Leistungsträgern, Anbietern und Finanzierungsmodellen beherrscht die hiesige Reha-Szene. Klar ist: Wenn Reha wirklich helfen soll, eine alternde Bevölkerung länger fit zu halten, vor allem auch länger fit am Arbeitsplatz, ist eine bessere Differenzierung nötig, wem welche Reha wirklich nützt.

Letztes Jahr in Marienbad? Dort, wo schon Gorki und Gontscharow, Chopin und Wagner? Oder in Bad Saulgau? In Bad Kissingen? Bad Salzuflen? Bad Sebastiansweiler?

Rehabilitation, das riecht immer ein wenig nach Schwefelquelle, ruft Bilder von Badekappen, Trinkhallen, vom Kurorchester im Park hervor, und evoziert auch bange Ahnungen von Abstinenz und Kaltwasserkuren.

Alles Dinge, die heutige Apologeten des Fachs gar nicht mehr sehen. "Es gab ja Zeiten, da bemaß sich der Erfolg einer Rehabilitation daran, dass Sie einen Kurschatten abgegriffen haben", ulkte Prof. Karsten Dreinhöfer von der Charité auf dem letzten DKOU. Doch das sei lange vorbei. Heute ginge es darum, mit dem Patienten konkrete Rehaziele zu vereinbaren und diese dann umzusetzen. Motto: Wie weit wollen Sie in einem halben Jahr wieder laufen können, wie kommen wir dahin und … jetzt dann aber mal ran an das Trainingsgerät.

Und mehr und mehr stellt eine Mediziner- und Forscherszene Methoden und Verfahren von Reha auf den Prüfstand der Evidenzbasierten Medizin. Welche Reha nützt? Wem nützt sie? Lassen sich Langzeiterfolge dokumentieren? Keine Frage, die Szene ist im Umbruch: "Reha ist keine reine Erfahrungswissenschaft mehr", formuliert es Bernd Kladny, Leiter einer Sektion Rehabilitation/Physikalische Medizin der DGOU. Es gebe immer mehr belastbare Daten für erfolgreiche Rehaverfahren (siehe auch das Interview Kladny).

Profitiert hat das Feld ohne Zweifel durch einen von BMBF und Rentenversicherung 1996 ins Leben gerufenen Förderschwerpunkt Rehabilitationswissenschaften, in dem bis 2007 acht Forschungsverbünde an die 40 Millionen Euro bekamen. Etliche davon funktionieren weiter, heute überwiegend mit Mitteln der Rentenversicherung (siehe links in der Online-Version).

Der Versuch einer Zwischenbilanz zeigt aber auch: Vielerorts muss Reha erst noch Maßstäbe und Parameter entwickeln, an denen entlang sich ihr konkreter Nutzen messen lässt. Zugleich wird es eben nur mit mehr Nutzenbelegen gelingen, Reha wirklich zu der Rolle im Gesundheitswesen zu verhelfen, die der Gesetzgeber für sie vorgesehen hat.

Der verankerte Reha im Jahr 2001 nicht nur im neu geschaffenen Sozialgesetzbuch IX, sondern gleich auch noch in weiteren Büchern des verästelten Sozialgesetzes. Seither gilt, in zwei Leitsätzen zusammengefasst:

  1. Reha vor Rente und

  2. Reha vor Pflege (im Detail beides nachzulesen in §8 des SGBIX).

Konkret heißt das zum Beispiel: Bevor jemand vorzeitig wegen Krankheit aus dem Arbeitsleben ausscheiden muss, gilt es mittels Reha alles zu versuchen, ihn doch noch länger im Job zu halten. Und wenn jemand dank einer Reha-Maßnahme von der Pflegestufe 2 wieder in die Stufe 1 käme, dann hätte Reha ebenfalls ihre Aufgabe erfüllt. Angesichts der demographischen Entwicklung befürworten viele Experten einen Ausbau von Reha. Dann, wenn Akutmedizin nicht mehr weiter helfen kann, soll Reha helfen, mit chronischen Schmerzen bestmöglich umzugehen, mit einer Herzschwäche, einem Diabetes und womöglich obendrein auch noch einem Kunstgelenk bestmöglich zu leben.

Enorm verwirrend bleibt bis heute das Geflecht aus unterschiedlichen Zuständigkeiten verschiedener Leistungsträger – wer zahlt? – und Leistungserbringern – wer macht die Reha mit dem Patienten?

Träger sind Renten- und Krankenversicherung, unter Umständen auch Berufsgenossenschaft, Unfallversicherung und die Arbeitsagentur.

Reha im eigentlichen Sinne ist vor allem Sache von Rentenversicherung und GKV. Die Rentenversicherung muss grob gesagt, immer dann ran, wenn es gilt, Menschen im Erwerbsleben zu halten. Sonst ist oft die Krankenkasse zuständig. Zum Beispiel auch für jene Mutter- oder Vater-Kind-Kuren, für die Anfang Februar 2012 neue Richtlinien für die Begutachtung verabschiedet worden sind. Vor allem das Müttergenesungswerk hatte den Kassen Willkür bei der Vergabe vorgeworfen.

Nicht nur dieser Streit zeigt: Die Beurteilungsinstrumente dafür, wer wann welche Reha braucht, sind alles andere als präzise und unumstritten. Seit Jahren schon tüfteln daher manche Arbeitsgruppen an neuen Assessment-Verfahren, mit denen sie genau ermitteln wollen, welche Reha nun wer braucht. Von objektivierbaren Diagnosen ist die Rehabilitationswissenschaft allerdings nach wie vor ein gutes Stück weit weg. Ja, manch Experte bezweifelt, dass sie für Rehabilitation immer und überall möglich sind (siehe auch das Interview Spyra, und das Interview Greitemann).

Die Verwirrung pflanzt sich fort bei einer enorm vielfältigen Begrifflichkeit für verschiedene Formen von Reha. Da wäre die so genannte Medizinische Rehabilitation – im Kern sind es Leistungen, um Menschen mit und nach Krankheit wieder möglichst fit zu kriegen. 80 % aller Medizinischen Rehabilitationen bei der GKV, 20 % bei der Rentenversicherung, sind so genannte Anschlussrehabilitationen, die sich binnen 14 Tagen nach Entlassung an einen Krankenhausaufenthalt anschließen.

Im Detail ist die Zahl an Schulen und Techniken oft kaum überschaubar. Allein für Patienten mit "unspezifischen" Rückenschmerzen gibt es stationäre oder ambulante Reha, nach den verschiedensten Modellen und Philosophien, je nach Klinik mit psychosomatischem, mit somatischem Schwerpunkt, mit oder ohne anschließende Nachbetreuung.

Davon abzugrenzen sind Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA), früher auch berufliche Rehabilitation genannt. Dazu zählt etwa eine Umschulung, wenn ein Bademeister ob unheilbarer Hauterkrankung nicht mehr in seinem Beruf bleiben kann. Medizinische Reha und LTA voneinander zu trennen, entpuppt sich in der Praxis aber zunehmend als unsinnig. In vielen Modellprojekten erprobt vor allem die Deutsche Rentenversicherung (DRV) heute die Kombi von Medizinischer Reha, die bewusst auch die Arbeitssituation eines Betroffenen in den Blick nimmt (siehe auch das Interview Bernhard Greitemann).

Geldfluss als Geheimnis

Insgesamt ist Reha einer der kleineren Posten im Gesundheitswesen. Auf 8 Milliarden Euro schätzt ein vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) letztes Jahr präsentiertes "Faktenbuch Medizinische Rehabilitation 2011" die Ausgaben für Medizinische Reha und Vorsorge hierzulande – für das Jahr 2008. Das waren etwas über 3 % aller Ausgaben im Gesundheitswesen in jenem Jahr. 39 % davon berappte die Deutsche Rentenversicherung, 33 % die GKV. Wie dieses Geld zu den Leistungsträgern gelangt, bleibt allerdings meist streng gehütetes Geheimnis.

An die 1.240 Reha- und Vorsorgeeinrichtungen legten im Jahr 2009 etwa zwei Millionen Reha-Patienten in rund 171.500 Betten. Der "Eckrehabilitand", so heißt der Durchschnittspatient im Fachjargon, brachte es damit in jenem Jahr auf 25,5 Tage Verweildauer.

Doch abgerechnet wird höchst vielfältig. Anders als in den Krankenhäusern mit ihrem weitgehend einheitlichen DRG-System, führt in der Reha jedes Haus und jede ambulante Einrichtung quasi eigene Tarifverhandlungen mit Kassen und Rentenversicherungen. Eine repräsentative Statistik dazu, wie Träger mit den Leistungserbringern in Deutschland abrechnen, gibt es nicht.

Die Kliniken stöhnen unter der Last dieses Abrechnungswesens. "Wir kriegen je nach Träger unterschiedliche Tagessätze oder Fallpauschalen. Die konkreten Einnahmen hängen dann ganz davon ab, welche Verweildauer außerdem für welche Patientengruppen vereinbart ist, ob es Ausnahmen für besonders schwer betroffene Patienten gibt oder nicht, und so weiter", erläutert Bernd Kladny. Nein, zufrieden mit dieser Situation, ist der Klinikchef ganz und gar nicht. Durchaus übliche Tagessätze von 120 Euro, die sie offenbar für viele Patienten kriegen, verwundern zusätzlich – so viel zahlt man schnell allein für Übernachtung und Frühstück in einem Mittelklassehotel. Reha-Kliniken üben sich in einer Mischkalkulation. Manch (vergleichsweise kostengünstiger) "orthopädischer Patient", trage so dazu bei, die höheren Ausgaben für schwerer Verletzte aufzufangen – ist da schon mal hinter vorgehaltener Hand zu hören.


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Steigender Aufwand in Reha-Kliniken

Obendrein laufen den Häusern seit einigen Jahren die Kosten davon. Dahinter stecken mehrere Faktoren:

1. Kränkere Patienten

Zumindest eine von wenigen großen Studien der Begleitforschung zur Einführung des Fallpauschalensystems in hiesigen Krankenhäusern hat belegt, dass Reha-Kliniken im Durchschnitt heute mehr Aufwand betreiben müssen, um Patienten wieder fit zu kriegen, die sie aus dem Krankenhaus bekommen. Die Redia-Studie hat zwischen 2003 und 2009 in Reha-Kliniken anhand der Daten zu 2 290 orthopädischen und kardiologischen Patienten untersucht, welche Folgen die Einführung des DRG-Systems im Jahr 2004 auf die Versorgungslandschaft hatte. Ein Fazit: Sowohl im Krankenhaus als auch bei der Rehabilitation haben sich die Verweildauern verkürzt. Ein zweites: Nach der Reha ist der gesundheitliche Zustand der Patienten vor wie nach DRG-Einführung in etwa gleich geblieben. Doch kommen etliche Betroffene in der Reha-Klinik zunächst in schlechterem Gesundheitszustand an. Entzündungen, erkennbar an deutlich erhöhten CRP-Werten, Wundheilungsstörungen und Hämatome haben zugenommen, OP-Nähte sind häufiger in schlechterem Zustand. Parallel dazu hat der Aufwand zugenommen, den Reha-Kliniken betreiben, um ihre Patienten wieder fit zu kriegen.

Dass es trotzdem wenig Murren von Reha-Kliniken gibt, erklären Insider damit, dass man "mit ganz schlechter Verhandlungsposition am Ende der Kette" stecke. Wer zum Beispiel versuche, Akutkliniken auf schlechte Wundversorgung hinzuweisen, riskiere, von dort schlicht keine Reha-Patienten mehr zugewiesen zu bekommen. Für ein Aufbegehren sei die Verhandlungsposition zu schwach. Und namentlich zitieren jetzt bitte auf keinen Fall!


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2. Verschiebungen bei Diagnosen

Parallel steigt der Anteil psychischer Erkrankungen, deren Rehabilitation vergleichsweise teuer ist, seit einigen Jahren deutlich an. Zwar führten auch 2009 noch orthopädische Erkrankungen die Liste der Reha-Diagnosen mit 38 % an. Gefolgt von Krebs (18 %), psychischen Diagnosen (13 %) und Herz-Kreislauf (9 %; Abb. [ 1 ]).

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Abb. 1 Krankheitsspektrum in der medizinischen Rehabilitation Erwachsener* (ambulant und sta-tionär) 1995 und 2009.

Vor allem Krebs und psychische Erkrankungen steigen aber seit Jahren an, während die "orthopädischen" Diagnosen sinken. Das macht Reha ebenfalls teurer: Im Durchschnitt berappte die Rentenversicherung 2009 2 500 Euro je Medizinischer Rehabilitation für eine körperliche Erkrankung, bei psychischen und Sucht-Erkrankungen waren es hingegen 6 241 Euro.


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Der Deckel soll weg

Mehr Geld ist vor allem bei der Rentenversicherung derzeit allerdings kaum zu kriegen. Denn schon seit 1997 gilt für die den wichtigsten Träger Medizinischer Reha, die Deutsche Rentenversicherung, eine Obergrenze bei den Ausgaben. Errechnet wird dies rein nach Formel gemäß der Anzahl von Beitragszahlern und der Entwicklung der Löhne- und Bruttogehälter im Bundesgebiet. Mit 5,38 Milliarden Ausgaben war der Deckel bei der DRV in 2010 erreicht, 2011 dito.

"Der Deckel hält nicht mehr" avancierte flugs zum Titel einer im Jahr 2011 erstellten Prognos-Studie. Tenor: Reha nützt dem Einzelnen und der Gesellschaft und braucht mehr Geld. Entweder durch viel stärkere Zuwachsraten für das derzeitige Reha-Budget bei der Rentenversicherung oder gleich durch eine saftige Anhebung auf 8,5 Milliarden Euro. "Eine Milliarde mehr" fordert auch die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Rehabilitation. "Der Deckel muss weg" trompeten Privatkliniken, Rentenversicherung und etliche Politiker von CDU/CSU bis "Die Linke".

Einsparmöglichkeiten bieten neue Ansätze zur Flexibilisierung. Eine ambulante Reha ist in der Regel deutlich günstiger als eine stationäre. Allein schon aus Kostengründen sehen viele Experten daher den Anteil ambulanter Reha weiter steigen, derzeit liegt er bei der Rentenversicherung bei 11 % aller Rehamaßnahmen. Und die Qualität muss dabei nicht geringer sein: Ambulante muskuloskeletale Rehabilitation sei nach Evaluation der DRV-Bund in einigen Leistungsbereichen der stationären Reha sogar überlegen, meint Dr. Friedel Hartmann vom MVZ in Teltow. "Deshalb ist hier ambulant vor stationär ein sinnvolles Prinzip."


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Kann Reha liefern?

Die alles entscheidende Frage aber bleibt: Kann Reha überhaupt liefern? Was spricht dafür, dass mehr Geld für Reha tatsächlich helfen kann, Menschen länger im Arbeitsleben zu halten, oder Pflegebedürftigkeit zu verringern?

Nach einem breit zitierten "Amortisationsmodell – medizinische Rehabilitation" der Deutschen Rentenversicherung, rechnet sich Rehabilitation dann, wenn sie einen Arbeitnehmer wieder für mindestens weitere vier Monate im Arbeitsleben hält.Die DRV legt auch Zahlen vor, nach denen 24 Monate nach einer Reha noch 85 % der Teilnehmer im Erwerbsleben seien. Das zeige "den Erfolg der medizinischen Rehabilitation, wenn man bedenkt, dass vor der Rehabilitation eine erheblich gefährdete oder sogar bereits geminderte Erwerbsfähigkeit vorlag", erklärt die Versicherung im Jahresbericht 2011 (Abb. [ 2 ] u. [ 3 ]).

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Abb. 2 Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlaug nach medizinischer Rehabilitation in 2006 (pflichtversicherte Rehabilitanden).
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Abb. 3 Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlaug nach medizinischer Rehabilitation in 2006 für verschiedene Diagnosegruppen (pflichtversicherte Rehabilitanden).

Doch stützen sich solche Zahlen meist auf reine Vor-Reha gegen Nach-Reha-Abschätzungen anhand verschiedener Kohortengruppen. In die Königsklasse der Kategorien der Evidenzbasierten Medizin schaffen es bislang nur wenige Ansätze, die eben in echten randomisierten Studien mit Vergleichsgruppen erprobt worden sind.


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Rückenschmerzen

Exemplarisch sichtbar wird dies beim Thema Rückenschmerzen. Am Stichwort multimodal kommt hier in der Reha heute keiner mehr vorbei. Will sagen: Viele Disziplinen, vom Psychologen bis zum Physiotherapeuten müssen sich zusammen kümmern, um eine Chronifizierung bei "unspezifischen" Beschwerden zu vermeiden, oder zumindest in den Griff zu kriegen. Als Ziele gelten: Raus aus dem Bett, Aktivität, wenn keine Schmerzfreiheit zu erzielen ist, dann selbstbestimmter Umgang mit Schmerzen und Schmerzbewältigung.

Immerhin sechs herausragende Programme, die hierzulande Mindestqualitätskriterien erfüllen, identifiziert ein Übersichtsartikel einer Gruppe um Matthias Morfeld von der Hochschule Magdeburg-Stendal aus dem Jahr 2010. Alle haben zumindest ein schriftliches Manual, geben klare Ziele vor und setzen "aktivierende" Methoden ein. Das älteste und quasi der Klassiker ist das Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) von 1990.

Und dennoch lautet das Fazit des Übersichtsartikels: Evaluationen der Programm stützen sich kaum auf echte Vergleiche einer Kontroll- gegen eine Interventionsgruppe. Obendrein sei ein Vergleich der Programme untereinander kaum möglich, da es kaum einheitliche Untersuchungsdesigns gibt.

Bis heute zeigen viele Powerpointpräsentationen auf Fachsymposien auch ein Zitat aus der Arbeitsgruppe um Prof. Heiner Raspe vom Institut für Sozialmedizin des Universitätsklinikum Schleswig Holstein in Lübeck. "Völlig überzeugende Evidenz für den Nutzen einer stationären Reha bei chronischen Rückenschmerzen steht heute aus deutschen Studien nicht zur Verfügung", erklärten Angelika Hüppe und Heiner Raspe 2003 nach einer Metaanalyse. Die methodische Qualität hiesiger Studien sei von wenigen Ausnahmen abgesehen zu gering. Das Grundproblem bleibe vor allem die unbefriedigende Nachhaltigkeit von Reha, so ein "Update" zu dieser Studie aus dem Jahr 2005. Um die zu steigern setzt man in Lübeck heute auf das Nachsorgeprogramm, das "Neue Credo", das Patienten auch nach Entlassung aus der Reha helfen soll, Übungen fleißig fortzusetzen und Schulungen zu besuchen. Fazit einer mittlerweile vorliegenden Nachauswertung: Wer derart betreut wird, gibt noch ein Jahr nach Ende der eigentlichen Reha-Maßnahme eine günstigere Selbsteinschätzung ab, auch auf Dauer im Beruf bleiben zu können und geht signifikant häufiger zum Sport als eine Gruppe ohne entsprechende Nachsorge.

Es ist längst nicht das einzige derartige Programm. Mit der Intensivierte(n) Rehabilitationsnachsorge, IRENA, offeriert die Deutsche Rentenversicherung heute auch für orthopädische Rehapatienten eine Möglichkeit der Nachsorge. Die Akzeptanz in der Fachwelt ist hoch, doch längst nicht alle Kliniken machen mit. Eine Gruppe um Prof. Wilfried Mau von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg checkte dafür unlängst die Daten aller IRENA-Teilnehmer aus dem Jahr 2007. Fazit: Im Bereich der Orthopädie kamen fast 42 % der IRENA-Teilnehmer aus 10 % der Kliniken, die für die DRV Bund arbeiten. Etliche Häuser boten keine Nachsorge an. Keine Frage: Auch Reha stößt beim Thema Nachsorge an eine Schnittstellenproblematik des ganzen Gesundheitswesens (siehe dazu auch das Interview Kladny).


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Kaum Langzeitdaten

Rar sind und bleiben derweil echte Langzeitdaten. Einer der zentralen Parameter bleibt dabei die Frage, wie lange jemand nach Reha weiter in seinem Job bleiben kann.

So findet eine von der DAK finanzierte Studie von Prof. Jürgen Freiwald von der Bergischen Universität Wuppertal und Dr. Karsten Witte von der Novotergum AG gute Vorher-Nachher-Effekte noch ein Jahr nach einer einjährigen Reha mit 39 Trainingseinheiten. Grundlagen der von Novotergum vertriebenen Physiotherapie sind Konzepte, wie sie in der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz festgezurrt worden sind. Die Tage mit Rückenschmerzen wie auch von Arbeitsunfähigkeit waren bei Teilnehmern, verglichen mit Daten vor der Reha, signifikant gesunken. Eine Vergleichsgruppe, die eine andere Reha erhält, hatte auch diese Studie aber nicht.


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IOPKO

Eine der hierzulande raren Vergleichsstudien zur Reha von Rückenschmerzen wurde 2006 zum so genannten IOPKO-Konzept veröffentlicht. Entwickelt ist dieses Programm von einer Gruppe um Bernhard Greitemann an der Klinik Münsterland in Bad Rothenfelde. Die Autoren vergleichen in ihrer Studie die Ergebnisse einer intensivierten IOPKO-Reha mit einem "traditionellen" Programm an jeweils 307 und 176 Patienten bis zu zehn Monate nach Ende der Reha. Zu dem Zeitpunkt hatten sich Parameter wie Einschränkungen der Funktion, Schmerzen, und psychische Belastungen bei den Mitgliedern der Interventionsgruppe stärker reduziert als in der Vergleichsgruppe. Die Autoren sprechen von "moderaten bis starken" Effekten. Die Zahl der Krankheitstage war in der Interventionsgruppe um 75 % auf 2,5 Tage, in der Kontrollgruppe um 59 % auf 4,4 Tage gesunken. Insgesamt aber war die Zahl der Erwerbstätigen zehn Monate nach Ende der Reha von vorher 86 % auf 66 % gesunken. Und hier gab es zwischen beiden Gruppen in der Studie keine signifikanten Unterschiede. Auch Greitemann betont im ZFOU-Interview die methodischen Probleme der Rehaforschung, die oft erst einmal nach den Kriterien von Evidenz fahnden muss (siehe das Interview Greitemann)


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Problem der Methoden

Die Experten sind sich in vielem nicht einig, was man überhaupt sinnvollerweise messen soll. Ein zentraler Parameter wie die Dauer der Zeit, die jemand nach Reha wieder arbeiten kann, wird längst nicht von allen Wissenschaftlern als präzise und sinnvoll angesehen. Zu sehr könnten Arbeitsmarkteffekte dabei auch mögliche Erfolge von Reha binnen kürzester Zeit überlagern (siehe die Interviews Spyra und Greitemann). Mehr noch: Auch die fachliche Diskussion darüber, wer nun welche Reha braucht, ist in vielem noch offen.

Dabei hat die 2001 von der UN verabschiedete International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) überhaupt erstmals ein Klassifikationsfundament für Reha gelegt.

Manche Ärzte schrieben möglichst viele schwere Diagnosen auf einen Reha-Antrag, wundert sich Bernd Kladny – dies in der irrigen Annahme, so den Medizinischen Dienst der Kasse eher zu überzeugen. Dabei spielten die Diagnosen nach ICD nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr stellt die ICF Einschränkungen von Funktionen und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in den Mittelpunkt. Wenn, dann gilt noch eher die Devise: Je mehr beides in Mitleidenschaft gezogen wird, desto größer wird auch die Notwendigkeit und der Anspruch auf Rehabilitation.

Für den praktischen Einsatz gibt eine ICF Research Branch Deutschland mittlerweile sogar Core Sets heraus (http://www.icf-research-branch.org/about-us/our-mission.html). Für eine wirklich feinjustierte Bestimmung, welche Reha welcher Patient braucht, reicht die ICF derzeit aber nach Ansicht vieler Experten nicht.


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RMK als genaueres Assessment

So erheben die ICF bislang gar keine Persönlichkeitsfaktoren. Dabei ist das Wie jemand etwa mit Rückenschmerzen umgeht oft besonders entscheidend für den weiteren Verlauf in Richtung Chronifizierung oder eben nicht. Einige Gruppen tüfteln bereits an so genannten "Personenbezogenen Faktoren" der ICF. "In der Praxis fehlen uns aber nach wie vor oft die Instrumente, um individuell genauer einzuschätzen, welchen Rehabedarf ein Patient nun hat", erklärt Dr. Karla Spyra von der Berliner Charité.

Ihre Gruppe hat dafür seit 1997 so genannte Rehabilitanden-Management-Kategorien (RMK) entwickelt. Hinter dem sperrigen Titel stecken derzeit zwei umfangreiche Fragebögen. Einer für Patienten mit Rückenschmerzen oder Gelenksproblemen, ein zweiter für Suchtpatienten, auszufüllen in etwa 15 Minuten. RMK ist am Ende eine Kombination aus über einem Dutzend internationalen Scores, von Harris Hip Score, Barthel-Index bis zur Hospital Anxiety and Depression Scale, HADS. Am Ende teilt RMK Rückenschmerzenpatienten in vier, Hüft- und Knie-Rehabilitanden in zwei verschiedene Bedarfsgruppen ein (siehe auch das Interview Spyra).

Die RMK sollen auch Auskunft geben über feinere emotionale und kognitive Beeinträchtigungen – in der Praxis könnte das zum Beispiel dem Kliniker just jene Warnzeichen liefern, wenn ein Rückenschmerzpatient über mangelnde Coping-Strategien verfügt. Erste Versuche, damit auch den Behandlungsbedarf für jede Bedarfsgruppe konkret auf Stunden und Minuten zu berechnen laufen. Im Routineeinsatz ist der Bogen in der orthopädischen Reha bislang nicht.


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Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung

Noch sind Standards überhaupt ziemliches Neuland. Reha-Einrichtungen müssen jetzt bis September 2012 erstmals eine Zertifizierung für ein internes Qualitätsmanagement nachweisen.

Noch wichtiger ist die externe Qualitätssicherung. Eine Stabsstelle bei der Deutschen Rentenversicherung checkt dabei stichprobenweise Jahr um Jahr Haus um Haus. Alle Kliniken müssen dafür anonymisiert Diagnosen und erbrachte Leistungen dokumentieren. Entlassungsberichte werden von ausgewählten Ärzten direkt überprüft und bewertet. Hinzu kommen Befragungen von Rehabilitandinnen. Das Ergebnis dieses BQR-Verfahrens (Bewertung der Qualität von Reha-Einrichtungen) wird den Kliniken zurückgespiegelt.

Die Prüfer checken vor allem, ob eine Klinik die DRV-eigenen Therapiestandards umsetzt. Im Bereich der Orthopädie liegen diese Standards bereits für Rückenschmerzen und für Patienten mit Knie- und Hüftendoprothesen vor. Es sind Mindestanforderungen und sie bleiben auf einer Meta-Ebene. So fordert zum Beispiel das "Evidenzbasierte Therapiemodul" (ETM 3) bei Rückenschmerz-Reha Massagen bei mindestens 30 % der Rehabilitanden in einer Reha-Klinik. Und zwar mit einer Mindestdauer von 120 Minuten pro Patient und Reha-Maßnahme. ETM 8 fordert Kurse zur Schmerzbewältigung für mindestens jeden zweiten Patienten mit einer Mindestdauer von 200 Minuten.

Diese Standards sind ein enormer Fortschritt. "Gott sei dank" betont Prof. Bernd Greitemann, gebe es damit eine verbindliche Arbeitsgrundlage für alle Häuser, die außerdem evidenzbasiert sei, da die Kataloge anhand von Literaturanalysen und in zahlreichen Abstimmungen mit Experten erarbeitet wurden. Und doch, so Greitemann, trügen auch diese Standards noch das Problem, dass die Details zum Bedarf in den einzelnen Therapiemodulen von Experten nur geschätzt werden konnten.

Damit geht die Diskussion munter in die nächste Runde. Beispiel Reha von Hüft- und Knie-TEP. Die DRV setzt hier im Therapiestandard Hüft- und Knie-TEP 240 Minuten an Physikalischer Therapie an (im ETM 3, zu erbringen mindestens sechs mal pro Reha und mindestens jedem zweiten Patienten). Dr. Achim Peters, Ärztlicher Leiter an der Schwarzwaldklinik Orthopädie in Bad Krozingen wirbt hingegen für eine Differenzierung je nach Schweregrad: "Gleiche Standards für alle, das können wir nicht machen." Nötig sei vielmehr eine feinere Einteilung und Behandlung der Rehapatienten. Die Daten für diese These liefert ihm eine retrospektive Kohortenstudie, die 1 165 Patienten nach Hüft-Tep anhand des Harris Hip Score in zwei verschiedene Schweregradgruppen einteilte. Ergebnis eins: Die Effekte durch eine physikalische Therapie (das sind Thermo-, Hydro-, Elektrotherapie, sowie Massagen oder Lymphdrainage) waren in der Gruppe mit dem höheren Schweregrad am besten. Ergebnis zwei: Diese Gruppe braucht allerdings auch mehr davon, gut 330 Minuten Physikalische Therapie je Reha. "80 % der Patienten teilen wir diesen beiden Schweregradgruppen zu", berichtet Peters. Weitere 20 % brauchen seiner Ansicht nach sogar eine komplett individuelle, "handverlesene Therapieverordnung", da sie in kein Schema passen.

Keine Frage: Es sind noch einige Studien nötig, bis sich diese Fragen wirklich klären lassen.

BE

Zum Weiterlesen:

Faktenbuch Rehabilitation 2011 des RWI:
http://www.rwi-essen.de/publikationen/rwi-materialien/243/

In der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) arbeiten alle Träger an Konzepten zusammen.
http://www.bar-frankfurt.de

Interessenten wie Antragsteller finden Rat und Hilfe bei 500 Servicestellen im Bundesgebiet:
http://www.reha-servicestellen.de

Portal der DRV zur Rehabilitation:
http://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/de/Navigation/Rehabilitation_node.html

Jahresberichte der DRV:
http://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/de/Navigation/Formulare_Publikationen/publikationen/reha_jahrebericht_node.html

Reha-Forschung

Broschüren des BMBF und DRV zum Förderschwerpunkt Forschung in der Rehabilitation
http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/_media/forschung_in_der_rehabilitation%281%29.pdf
http://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/_media/Druckversion_Rehawissenschaften_090121.pdf

Reha-Forschung bei der DRV:
http://forschung.deutsche-rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/contentAction.do?key=main_reha_einleitung&chmenu=ispvwNavEntriesByHierarchy55

Ausgewählte Publikationen:

Metaanalyse von Hüppe und Raspe, 2005:
https://www.thieme-connect.com/ejournals/abstract/rehabilitation/doi/10.1055/s-2004-834602

IOPKO-Studie von Dibbelt, Greitemann und Büschel, 2006:
https://www.thieme-connect.com/ejournals/abstract/rehabilitation/doi/10.1055/s-2006-932641

Morfeld et al., 2010
https://www.thieme-connect.com/ejournals/abstract/rehabilitation/doi/10.1055/s-0030-1249099


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Abb. 1 Krankheitsspektrum in der medizinischen Rehabilitation Erwachsener* (ambulant und sta-tionär) 1995 und 2009.
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Abb. 2 Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlaug nach medizinischer Rehabilitation in 2006 (pflichtversicherte Rehabilitanden).
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Abb. 3 Sozialmedizinischer 2-Jahres-Verlaug nach medizinischer Rehabilitation in 2006 für verschiedene Diagnosegruppen (pflichtversicherte Rehabilitanden).