Die Möglichkeiten zur „molekularen Diversifikation“ des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms
nehmen rasch zu. In Verbindung damit zeichnen sich spezifisch zuzuordnende Therapiemöglichkeiten
durch Tyrosinkinaseinhibitoren oder Antikörper ab. In diesem Zusammenhang findet sich
oft der Begriff der „personalisierten“ oder „individualisierten“ Krebstherapie. Dieser
Kommentar versucht eine Standortbestimmung zu den Kontexten der „Personalisierung,
Individualisierung und Stratifizierung“ in der Krebstherapie.
Die Therapiestrategien in der Onkologie sind in den letzten Jahren bei verschiedenen
Tumorentitäten durch eine Zunahme der auf die molekularen Mechanismen der Erkrankung
gerichteten Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten (Tyrosinkinaseinhibitoren, Antikörper)
gekennzeichnet. Da die Interferenz mit einem molekularen Mechanismus sehr spezifisch
sein kann und zudem der Einfluss molekularer Alterationen auf die Tumorpropagation,
das Tumorwachstum oder Metastasierung in einer Tumorentität nicht vorhersagbar ist,
sollten bereits in Phase-I/II-Studien Strategien zur Exploration einer prädiktiven
Diagnostik verfolgt werden [1]
[2]. Gibt es aus präklinischen Analysen keinen Hinweis für einen „Link“ zwischen Substanz,
möglichem Wirkmechanismus und Therapieeffekt, wäre dennoch zunächst eine weitere Exploration
in präklinischen Modellen hilfreich. Die daraus abgeleiteten Hypothesen für eine mögliche
prädiktive Diagnostik können dann in Phase-I/II-Studien begleitend validiert werden.
Kann dies so nicht verfolgt werden, sollte der Akquise von Biomaterialien (Tumorgewebe,
Blut) im Phase-I/II-Kontext höchste Priorität eingeräumt werden. So ist zumindest
im Nachgang die Möglichkeit zur Exploration prädiktiver Parameter gegeben, um Hypothesen
zur Charakterisierung von Patientengruppen mit bestmöglichem Therapieeffekt aufzustellen.
Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um so für Phase-III-Studien Kriterien für den
Patienteneinschluss oder doch zumindest die Patientenstratifikation festzulegen. Als
Beispiele für diese Entwicklung können in der Krebstherapie die Behandlung der chronisch
myeloischen Leukämie bzw. der gastrointestinalen Stromatumoren mit Imatinib, des kolorektalen
Karzinoms mit Cetuximab sowie des Mammakarzinoms mit Trastuzumab angesehen werden.
Stratifizierte Medizin
Durch prädiktive Diagnostik (Translokations-, Mutationsanalyse bzw. Nachweis einer
Rezeptorüberexpression) können bei den vorgenannten Krankheitsbildern diejenigen Patienten
charakterisiert werden, für die ein klinisch relevanter Effekt durch die jeweilige
Therapie zu erwarten ist. Gerade beim metastasierten Lungenkarzinom ist in den nächsten
Jahren auf dem Feld der „stratifizierten Medizin“ eine dynamische Entwicklung zu erwarten.
Neben den aktivierenden Mutationen des EGF-Rezeptors [3]
[4] ist mit der EML4-ALK-Translokation [5] bereits jetzt eine weitere molekulare Alteration beim pulmonalen Adenokarzinom beschrieben,
die einer spezifischen Therapie zugänglich ist. Letztlich zeigt sich, dass bei entsprechender
Analyse für 50 – 55 % der pulmonalen Adenokarzinome definierte molekulare Alterationen
nachweisbar sind (KRAS, EGFR, B-RAF, HER 2, PIK3CA, MET-Amplifikation, MEK1, N-RAS,
AKT1, EML4-ALK) [6]. Auch ein Teil der pulmonalen Plattenepithelkarzinome lässt sich molekular definierten
Gruppen zuordnen. Es zeichnet sich ab, dass in den nächsten Jahren Therapieansätze
verfügbar werden, für die ein spezifischer Effekt durch Zuordnung zu molekularen Alterationen
zu erwarten steht [7]. Neben dem klassischen Staging werden dann auch Punkte wie Biopsiegröße, strukturierter
Aufbau der molekularpathologisch-diagnostischen Strategien (Immunhistochemie, FISH-Analyse,
PCR-Mutationsanalyse, Multiplexanalyse) sowie die indikative molekularpathologische
Befundung bedeutsam werden [8].
Für die Konzepte der „stratifizierten Therapie“ wird häufig synonym der Begriff der
„personalisierten oder individualisierten Krebstherapie“ gebraucht. Der Ansatz zielt
jedoch auf molekulare Alterationen im Tumor des Patienten und berührt damit die Person
an sich nicht und auch nicht das, was ein Individuum ausmacht. Es handelt sich um
die Behandlung von Patientengruppen, deren Tumoren definierte molekulare Merkmale
tragen, also um ein stratifiziertes Therapiekonzept. Der Begriff der stratifizierten
Medizin wird der Prägung dieses Paradigmas gerechter als die „personalisierte oder
individualisierte Krebstherapie“.
„Personalisierte Medizin ist in Mode, weil sie einen Gegenpol zur naturwissenschaftlichen
in Schemata denkenden modernen Hightech-Medizin zu sein vorgibt“, schreibt G. Maio
in einer ethischen Betrachtung zu dieser Begrifflichkeit [9]. Er sieht die Gefahr, dass der „gegenwärtige Trend der Pharmakogenomik gerade nicht
zur Aufwertung der Persönlichkeit, sondern im Gegenteil gerade zu deren Abwertung
[führt] … Je mehr sachliche Informationen vorliegen, desto mehr wird man dem Irrtum
verfallen, in der Erhebung dieser Sachlichkeit schon das Wesentliche über den Menschen
ausgesagt zu haben … Je mehr wir direkt in Zahlen ausdrücken können, desto mehr werden
wir das nicht Zählbare, das nicht Abbildbare, das nicht Standardisierbare für irrelevant
erachten. Man wird Zug um Zug denken, dass man der Individualität des Patienten dadurch
gerecht wird, dass man seine individuellen Gene untersucht und man wird es immer mehr
für verzichtbar halten, sich in ganz individueller Weise mit der Lebenswelt des Patienten
auseinanderzusetzen.“
Gerade in der Thoraxonkologie ist es bedeutsam, dies jedoch im Blick zu behalten.
Nahezu jeder zweite Patient mit einem Lungenkarzinom weist zum Diagnosezeitpunkt bereits
eine metastasierte Erkrankung auf – die Hälfte dieser Patienten lebt mit den derzeit
verfügbaren Therapiemöglichkeiten nicht länger als zehn bis zwölf Monate. Diese Perspektive
ist mit erheblichen Belastungen für Patient und Familie verbunden ([Abb. 1]). Dazu kommt, dass allein die kumulative Inzidenz von Hirnmetastasen sowie Knochenmetastasen
über diesen Zeitraum hinweg bei 40 – 50 % liegt. Durch die damit verbundene Symptomatik
wird für viele Patienten und deren Familien in dieser kurzen Zeit physische Fragilität,
eine Veränderung der Persönlichkeit und eingeschränkte Mobilität oder Immobilität
rasch erfahrbar.
Abb. 1 Dimensionen der Belastung für Patienten/Angehörige beim metastasierten Lungenkarzinom.
Personalisierte Medizin
Um medizinische Maßnahmen an patientenseitige Faktoren und Einschränkungen anzupassen,
bedarf es einer entsprechenden Wahrnehmung und Einschätzung. Bereits bei der Einschätzung
des Allgemeinzustandes jedoch kann es erhebliche Differenzen zwischen Patienten- und
Behandlersicht geben [10] ([Abb. 2]). Die Möglichkeit der nicht hinlänglichen Konkordanz sollte im Bewusstsein bleiben
und im klinischen Alltag der Patient selbst immer auch nach seiner Einschätzung befragt
werden. Darüber hinaus ist die Kenntnis und Bewertung von Komorbiditäten, von physischen
Einschränkungen, der sozialen Situation und unter Umständen auch die Einschätzung
der mentalen Leistungsfähigkeit für die Therapiewahl und Anpassung der Behandlung
bedeutsam. Letztlich kann so auch eine Einschätzung zu erwartender Toxizitäten im
Nachgang zu einer Chemotherapie – und demgemäß eine Anpassung der Therapieintensität
– möglich werden [11]. Zudem kann das Komorbiditätsausmaß für die Prognose von größerer Bedeutung sein
als die Krebserkrankung selbst. In solchen Konstellationen stellt sich die Frage nach
der demgemäß bestmöglich angepassten tumorspezifischen Therapie [12]
[13]. So gesehen kann mit dem Begriff der „personalisierten Krebstherapie“ wohl am besten
die Berücksichtigung patientenseitiger Faktoren, von Komorbiditäten, von alters- oder
erkrankungsbedingten Einschränkungen der Organfunktion wie auch des sozialen Umfeldes
bei der Therapiewahl und -planung reflektiert werden ([Abb. 3]). All diese Faktoren wiederum wirken auf Ausmaß und Intensität der durch die Therapie
zu erwartenden Nebenwirkungen und Komplikationen zurück und sind für eine auf die
betroffene Person gut „zugeschnittene“ Behandlung wichtig. Insbesondere in der palliativen
Therapiesituation ist in diesem Prozess die Kenntnis der patientenseitigen Präferenz
und Haltung gleichermaßen bedeutsam wie die Berücksichtigung der vorgenannten Faktoren
und Einflussgrößen.
Abb. 2 Einschätzung des Allgemeinzustandes gemäß ECOG-Klassifikation aus Patienten- und
Behandlersicht. Adaptiert aus Lilienbaum et al. [10].
Abb. 3 „Personalisierung“ der onkologischen Therapie: Integration verschiedener Einflussgrößen
unter Berücksichtigung der Patientenpräferenz für die Einschätzung von Effekt sowie
Komplikationen und Nebenwirkungen einer Therapiemaßnahme.
Individualisierte Medizin
Das Konzept der individualisierten Betreuung gerade für Patienten in der metastasierten
Tumorsituation und mit einer kurzen Überlebenserwartung ist in einem Thesenpapier
der American Society of Clinical Oncology (ASCO) gut dargestellt [14]. Diese Patienten müssen mit komplexen Herausforderungen in physischer, psychologischer,
sozialer und spiritueller Dimension umgehen. Individualisierte Betreuung bedeutet,
die für den einzelnen Patienten notwendigen Maßnahmen, die individuellen Ziele und
die individuellen Präferenzen während des gesamten Krankheitsverlaufes auf den genannten
Ebenen jeweils adäquat zu erfassen und darauf einzugehen ([Abb. 4]). Neben krankheitsspezifischen Therapiemaßnahmen, symptomorientierter Behandlung
und Maßnahmen zum Erhalt der Lebensqualität ist für den Krankheitsverlauf im gleichen
Maß eine realitätsbezogene, stützende Kommunikationslinie von Bedeutung. Die Autoren
mahnen an, dass dies oft nicht der Fall ist und eine realitätsbezogene Gesprächsführung
zur Prognose der Erkrankung, zum potenziellen Nutzen krankheitsspezifischer Maßnahmen,
zur potenziellen Bedeutung palliativmedizinischer Maßnahmen mit oder ohne Verbindung
zu alternativen Behandlungskonzepten oft nur unzureichend erfolgt ([Abb. 5]). Gerade beim metastasierten Lungenkarzinom konnte in einer randomisierten Studie
gezeigt werden, dass regelmäßige Gesprächskontakte mit Fokus auf a) Information zu
und Verständnis der Erkrankung – b) Behandlung von Symptomen – c) Vermittlung von
Strategien zum Umgang mit der Situation an den Patienten und seine Angehörigen – d)
Festlegung der zu erfolgenden Maßnahmen am Lebensende – zu einer signifikanten Verbesserung
der Lebensqualität, Reduktion der psychischen Belastung in Form einer Depression sowie
situations- und patientengemäßen Managementstrategien am Lebensende führen. Darüber
hinaus konnte die mediane Überlebenszeit signifikant verbessert werden [15].
Abb. 4 Thesen der ASCO (American Society of Clinical Oncology) zur individualisierten Betreuung
bei fortgeschrittener Krebserkrankung – Prinzipien. Adaptiert aus Peppercorn et al.
[14].
Abb. 5 Thesen der ASCO (American Society of Clinical Oncology) zur individualisierten Betreuung
bei fortgeschrittener Krebserkrankung – Umsetzung. Adaptiert aus Peppercorn et al.
[14].