Z Orthop Unfall 2012; 150(01): 1-7
DOI: 10.1055/s-0032-1305960
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – Sportverletzungen - Vorbeugen ist besser als Heilen

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Publication Date:
16 February 2012 (online)

 
 

Vor immer mehr "Ermüdungsbrüchen" beim Sport warnten Experten auf dem letzten Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU). Im Interview mit der ZFOU beleuchten zwei Experten die Frage, ob Sportverletzungen wirklich zunehmen, wo die Risiken sind und welche Möglichkeiten zur Prophylaxe es besser zu nützen gilt.

Raymond Best: "Enormer medialer Druck erhöht die Risiken"

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Dr. Raymond Best (Jahrgang 1967) ist Oberarzt an der Sportklinik Stuttgart und Mitgründer der Sportmedizin Stuttgart. Obendrein arbeitet der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Notfallmedizin und Chirurgie seit 2006 als Mannschaftsarzt des VFB Stuttgart 1893 e.V.

? Vorab bitte aus berufenem Munde: Wie viel Sport sollte jeder treiben und … tut der Bürger das auch?

Die Deutsche Sportärzteschaft nennt als Mindestempfehlung dreimal pro Woche 30 Minuten niedrig dosierten Ausdauersport. Das wäre sozusagen Pflicht für jeden, es sorgt dafür, dass die Risiken für Diabetes, Herzinfarkt und so weiter deutlich gesenkt werden. Drei mal 30 Minuten, das kann man wirklich schaffen. Wenn man aber sieht, was die breite Masse so treibt, dann würde ich sagen, das viele weit davon entfernt sind.

? Also etwa Rad fahren?

Zum Beispiel. Welche Sportart man wählt, bleibt dem Einzelnen überlassen.

? Aber um was geht es hier genau? 30 Minuten flott mit dem Rad den Berg hoch oder eher so ein bisschen um den Block?

Das kommt darauf an. Es geht um entspannten Ausdauersport. Für den Nicht-Geübten ist Bergauf fahren meistens kein entspanntes Fahren, er fängt besser in der Ebene an.

? Davon trennen muss man wohl die Frage, was zu tun ist, um im Alter den Abbau von Muskelmasse zu bremsen?

Korrekt. Da muss schon ein Kraft-Widerstands-Training her, bei dem man mit bis zu 85 Prozent seiner Muskelleistung übt. Studien konnten zeigen, dass durch regelmäßiges Krafttraining z. B. Sturzgeschehen und Knochenbrüche im hohen Alter deutlich gesenkt werden können.

? Muss ich dafür ins Fitnessstudio?

Das kommt auf Ihr Niveau an. Jemand, der gar nicht geübt ist, kann mit einigen Übungen daheim anfangen.

? Kommen wir zur Kehrseite von Sport. "Junge Athleten leiden immer häufiger unter Ermüdungsbrüchen" lautete eine Pressemeldung zum letzten DKOU. Nehmen Sportverletzungen zu?

Nein, es gibt absolut gesehen keine Zunahme. Was wir hingegen neu beobachten, ist eine Verschiebung hin zu Überlastungsschäden. Etwa eine Überlastung von Achilles- oder Kniescheibensehne. Oder ein Ermüdungsbruch.

? Woran liegt das?

Das hat u. a. mit neuen Trendsportarten und leistungs- und wettkampforientiertem Breitensport zu tun. Jeder kann heute Sport treiben, jedem wird eingeredet – geh los, kauf dir ein paar Schuhe und laufe einen Halbmarathon. Das ist einerseits positiv. Doch legen viele Ungeübte zu sehr einfach drauf los und wundern sich anschließend, dass z. B. die Achillessehne weh tut.

? Das ist aber per se noch nicht gefährlich?

Kommt drauf an. Es gibt Sehnenscheidenreizungen, denen sie zwei, drei Wochen Ruhe und Behandlung geben und das reicht. In vielen Fällen geht es aber um Sehnenumbaustörungen. Die haben u. a. mit einer falschen Technik zu tun. Jemand kommt z. B. vom Fahrrad, sagt, ich möchte jetzt laufen gehen, ist konditionell relativ gut, kauft sich irgendein paar Laufschuhe legt los und kommt nach sechs Wochen mit Achillessehnenbeschwerden. Da muss man dann anfangen zu suchen: Falscher Laufschuh, falscher Untergrund, falsche Lauftechnik … man muss fragen, wie hat derjenige belastet, wo hat er sich belastet und wie kann man das ändern, damit es nicht wieder kommt?

? Sind Aufwärmen und Dehnungsübungen wichtig?

Letztendlich fehlen die wissenschaftlichen Beweise. Im Endeffekt sagt man aber, der Körper braucht sechs Minuten, bis er einen gewissen Steady State erreicht hat. Aufwärmen und langsam loslegen macht daher Sinn. Viele steigen jedoch aus dem Auto, Schuhe an … und Attacke.

? Bei Beschwerden zu wem?

Ab 35 Jahren sollte jeder, der irgendeine Form von Sport neu angeht, vorher zu einem Arzt mit Kenntnissen in Sportmedizin gehen, um sich checken und beraten zu lassen. Das muss nicht unbedingt einer sein, der Sport auf dem Schild stehen hat. Manchmal reicht auch ein Hausarzt, der sportmedizinisch gut ausgebildet ist.

? Schon mit 35 Jahren?

Hätten Sie einen Porsche seit 35 Jahren in der Garage, würden Sie mit dem auch nicht ohne vorherigen Check in Urlaub fahren. Es gibt beispielsweise die Borg-Skala, mit der sich das subjektive Belastungsempfinden erfassen lässt. Auf einer Skala von "ich bin überhaupt nicht angestrengt" bis … "mehr geht nicht". Bei Freizeitsportlern zeigt sich regelmäßig: Die Hälfte denkt, dass sie noch ganz entspannt ist, während sie, objektiv gesehen, längst im roten Bereich trainiert. Die Leute sind dann immer überrascht, wenn man ihnen zeigt, guck mal, ab 10 Kilometer in der Stunde bist du schon in einem roten Bereich, du rennst aber immer bei 13 und fühlst dich vermeintlich gut. Ausdauermedizinisch gesehen ist das dann leider am Ziel vorbei. Daher zum Arzt – ein erfahrener Sportmediziner wird Ihren optimalen Trainingsbereich ermitteln.

? Ehem, also noch eine kleine Igel-Leistung für Jedermann?

Die Kosten sind überschaubar. Ich rate dazu, weil ich glaube, dass Überlastungs- und Spätschäden dadurch deutlich minimiert werden. Auch Kinder und Jugendliche sollten vor dem Eintritt in einen Verein zu solch einer Untersuchung, falsches Training wäre hier besonders fatal.

? In jedem Sportverein soll der Trainer seine Schützlinge vorher zu einem Check-Up schicken?

Ja. Im Kader ist das längst Standard. Jeder Sportler, der im Landes- oder Bundeskader ist, muss einmal im Jahr eine Kaderuntersuchung machen.

? Ist das aufwändig?

Nein, das ist zumindest orthopädisch eine Viertelstunde insgesamt vielleicht 45 Minuten. Sie schauen beispielsweise, wie entwickelt sich die Wirbelsäule, die Beine, wie entwickelt sich dieser Mensch und ist die Sportart, die er betreibt, für ihn die richtige? Ist das jetzt überhaupt jemand, der zum Beispiel wirklich Speerwerfer werden sollte?

? Wonach beurteilen Sie das?

Es gibt Warnzeichen. Wenn Ihnen z. B. ein Sportler sagt, ich hatte zwei-, dreimal letztes Jahr ein bisschen Rückenbeschwerden, dann sollten Sie ein Röntgenbild überdenken. Finden Sie dann bei einem jungen Athleten womöglich eine Entwicklungsstörung mit einem bestimmten Schweregrad in einem Lendenwirbelkörper, müssen Sie ihm und seinen Eltern sagen: Du musst aus diesen Drehsportarten prinzipiell raus, oder fängst damit besser gar nicht erst an: Kein Speerwurf, kein Hochsprung.

? Und der muss sich daran halten?

Bei Kader-Sportlern keine Frage. Wenn wir dem Verband sagen, er kriegt keine Sporttauglichkeitserklärung für das kommende Jahr, dann ist das bindend. Diesbezüglich sind aber Mario Gomez oder Fabian Hambüchen nicht anders gebaut als Fritz und Lieschen Müller um die Ecke. Jeder Trainer sollte deshalb für so etwas ein waches Auge haben.

? Das ist jetzt wiederum ziemlich unverbindlich.

Idealerweise müsste man von jedem Vereins- und Übungsleiter fordern, dass gewisse sportmedizinische Grundvoraussetzungen da sind, um mit Jugendlichen zu arbeiten.

? Ein Zertifikat, ich war da und dort in dem Kurs und weiß, welcher meiner Spieler wann zum Arzt muss?

Wenn Sie so wollen …

? Wer soll das einführen? Der DFB?

Zum Beispiel.

Andererseits ist vieles bei Sportverletzungen bis heute umstritten. Einer der Gründe scheint, dass es offenbar wenig valide Statistiken dazu gibt. Die offenbar größte Stichprobe hierzulande kommt auf Größenordnungen, nach denen sich pro Jahr fünf von 100 Leuten, die Sport treiben, gravierend verletzen. Und König Fußball regiert bei den Unfallursachen regelmäßig auf Platz 1 (Tab. [ 1 ]).

Das sehe ich grosso modo auch so. Generell zählen Hand-, Fuß- und Basketball zu den gefährlichsten Sportarten. Man weiß: Eine High-Impact-Sportart ist eine mit direktem Gegnerkontakt. Sobald der ins Spiel kommt, wird es gefährlich.

? Damit ist doch der medizinische Rat klar – besser kein Fußball, auch kein Handball?

Nein, wir verbieten niemandem seinen Sport. Natürlich ist Fußball gefährlicher als Ausdauersport: Aber auch wer Ausdauer-Sport betreibt hat, relativ gesehen, wiederum ein höheres Verletzungsrisiko als der, der gar nichts macht. Nein, angesichts der Gesellschaft, in der wir leben, wäre ich froh, wenn all die übergewichtigen Kinder Fußball spielten.
Und bitte: Wählen Sie einen Sport, der Spaß macht. Schick deinen Jungen Fußball spielen, wenn er Spaß daran hat. Das ist viel besser, als der Nachbar, der seine Tochter Tennis spielen lässt, die das zwar gar nicht mag, aber partout die neue Martina Navratilova werden soll.

? Kriegt die Medizin denn heute zumindest jede Verletzung wieder hin?

Da hat sich enorm viel getan. Wenn Sie sich z. B. vor 30 Jahren das Kreuzband gerissen haben, war das im Profisport möglicherweise das Karriereende. Heute ist man, egal ob Profi oder Amateur, nach sechs bis neun Monaten wieder aktiv. Die meisten Sportverletzungen sind heute reparabel. Mit Ausnahme von ganz schweren Knorpelverletzungen.

? Gibt es Anhaltspunkte, dass die Belastungen beim Sport generell steigen, damit Schwere von Verletzungen und damit vielleicht auch das Risiko auf Spätschäden wie Arthrose?

Das wissen wir nicht, zum Teil weil die Daten fehlen oder weil sie widersprüchlich sind. Es gibt aber zum Beispiel keine einzige Studie, die klar belegt, dass Marathonlaufen auf Hochleistungsniveau ein erhöhtes Risiko für Hüftarthrosen mit sich bringt.

? Knorpel, der einmal weg ist, wächst nicht mehr nach.

Jede Gelenkverletzung mit Bandverletzungen und Knorpelschaden hat definitiv immer eine Spätfolge, keine Frage.

? Was bleibt, ist Prävention. Die Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport (ASIS) legt Faltblätter zur Prävention von Verletzungen im Sport auf.

Mir kein Begriff …

? Die sagen, man müsse Prävention sportartenspezifisch auslegen.

Ja sicher. Andererseits, sind einige wichtige Dinge gar nicht so sehr sportartenspezifisch. Ein Hauptfehler, der z. B. immer noch bei allen Mannschaftssportarten gemacht wird, bei denen Laufen eine gewisse Rolle spielt, ist, dass die so genannte Rumpfstabilisation viel zu stiefmütterlich behandelt wird. Wenn ein Spieler rennt, springt und wieder landet, vervielfachen sich die Reaktionskräfte des Aufpralls weiter oben. Das Knie hat dann ungefähr das Dreifache, die Hüfte das Sechsfache an Körpergewicht zu tragen. Abfangen muss das vor allem die Rumpfmuskulatur. Ist sie zu schwach, kippt das Becken beim Landen etwas zur Seite und man wurschtelt sich irgendwo so hin. Das ist ein enormer Risikofaktor für Überlastungsprobleme und Verletzungen der unteren Extremitäten. Und das kann man trainieren.

Selbst im Profifußball sind solche Konzepte allerdings noch keine 25 Jahre alt. Jürgen Klinsmann z. B. wurde 2006 belächelt, als er Spieler mit Gummibändern zwischen den Beinen hat trainieren lassen. Heute ist diese so genannte Core Stability in fast jedem Bundesligaverein Gang und Gäbe.

? Im Breitensport gibt es das bislang nicht?

Kaum. Dabei wäre das sehr wünschenswert. Da gibt es Übungen für Jedermann: Beim Zähneputzen auf den Zehen stehen, mit dem einen Bein absolut ruhig stehen und mit dem anderen Achter in die Luft zeichnen.

? Wo gibt es weitere Anleitungen für solche Übungen?

Etwa bei der FIFA. Die hat eine eigene medizinische Organisation, die F-MARC (Fifa Medical Assessment and Research Centre). Die haben die so genannten 11+ aufgelegt - 11 gymnastische Übungen, die jeder Fußballspieler problemlos machen kann. (Siehe: http://de.fifa.com/aboutfifa/footballdevelopment/medical/playershealth/the11/index.html).

? Sieht so aus, als sei die Präven-tion von Verletzungen im Profisport heute viel besser als im Breitensport?

Korrekt, dafür haben wir bei den Profis wieder andere Probleme.

? Welche?

Viele Verletzungen im Profisport haben heute oft keine Zeit, ausreichend zu regenerieren. Gerade das, wofür wir Sportärzte immer gerühmt werden, dass wir den Muskelfaserriss nach zwei Wochen wieder auf dem Feld haben, ein umgeknicktes Sprunggelenk nach drei Wochen, das ist rein medizinisch gesehen oft fraglich.

? Das machen Sie beim VFB?

Natürlich nicht. Sobald wir davon ausgehen, dass wir die Gesundheit eines Sportlers in irgendeiner Form nachhaltig schädigen, wenn er sich vorzeitig belastet, bleibt der draußen. Das ist bei uns die unumstößliche Linie.

? Und sonst, gibt es keine Standards?

Nein. Das berühmteste Beispiel haben wir alle 2010 erlebt. Arjen Robben hat ein WM-Finale gespielt, die Holländer haben gesagt, er kann spielen, der FC Bayern hatte ihn hingegen damals für ein halbes Jahr rausgenommen. Wer auch immer Recht hat, so etwas gibt es immer wieder. Der Profisport unterliegt einem wahnsinnigen medialen und finanziellen Druck. Wir haben als Ärzte die Athleten wie Trainer im Genick. Jeder Sportler, der wegen Verletzung auf der Bank sitzt, ist finanziell eine Katastrophe und es gibt entsprechend Druck, dass man ihn möglichst schnell wieder fit hat.

? Und dann gibt es Kollegen, die ihre Schützlinge zu früh wieder auf den Rasen lassen?

Gibt es. Ich möchte mich hier aber nicht als Moralapostel aufspielen. Es ist einfach ein schmaler Grat! Es sind übrigens oft auch die Sportler selber, die aufs Feld zurückgehen wollen, obwohl sie ihnen gerade gesagt haben, dass sie Pause machen sollen. Und oft suchen sie sich dann auch gerne den Arzt heraus, der ihnen die Antwort gibt, die ihnen am besten gefällt. Ich habe z. B. unlängst einen Athleten am Kreuzband operiert, der mir erklärte, es gebe Ärzte, die schafften das in vier Monaten. Das ist nicht seriös – sechs Monate minimum sind im Mannschaftssport nötig. Wir wissen, dass ein operiertes Kreuzband nach etwa drei bis vier Monaten seine schwächste Zeit hat. Da tobt ein Wettkampf um die kürzeste Versorgungszeit. Wenn Sie als Sportarzt da nicht ihre Grenze kennen, an der sie unverhandelbar stoppen, dann verlieren Sie sich möglicherweise. Wir brauchen meines Erachtens eine neue Debatte um internationale Standards.


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Thomas Henke: "Keine Anhaltspunkte für mehr Ermüdungsbrüche"

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Dr. Thomas Henke (Jahrgang 1959) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Ruhr-Universität Bochum. Der Statistiker und Biomechaniker forscht und engagiert sich seit 25 Jahren in der Prävention von Sportverletzungen – unter anderem als Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport (ASIS) und im EU-Projekt "Safety in Sports".

? Machen wir Normalbürger heute genug Sport?

Wenn man sich anschaut, wie Herzkreislauf-Krankheiten, Diabetes und ähnliches mehr zulegen, dann weiß man, dass da zuwenig gemacht wird.

? Sportmediziner raten zu mindestens drei mal 30 Minuten Ausdauersport die Woche

Da kann man fürs Erste mit leben, täglich eine halbe Stunde ist mir lieber. Im Übrigen ist regelmäßig und dafür ein bisschen kürzer sinnvoller als einmal die Woche eine Gewaltaktion.

? Wer ab Mitte 50 etwas gegen Muskel- und Knochenabbau tun will, muss mehr machen?

Ein Widerstands-Krafttraining, ja..

? Einige Autoren meinen, man müsste da schon im Fitnessstudio 85 Prozent seiner Maximalkraft regelmäßig abrufen, um Muskelmasse wieder zu stärken?

Ja, aber dafür müssen Sie nicht gleich ins Fitnessstudio. Im Prinzip würde es beim älteren Menschen reichen, mit dem Körpergewicht zu arbeiten - Liegestützen zum Beispiel. Besonders sinnvoll fände ich übrigens, wenn junge und ältere Menschen mehr zusammen trainieren würden.

? Wie das?

Wir haben ja drei große Altersbereiche. Bis zum 18. Lebensjahr, wo der Körper, und seine Kompetenz aufgebaut wird. Dann einen Bereich bis etwa 55 Jahre, wo die körperlichen Voraussetzungen ähnlich bleiben. Und dann geht das Ganze irgendwie wieder rückwärts den Bach runter.

Wenn Sie sich jetzt einmal anschauen, welche Fähigkeiten Menschen mit zunehmendem Alter wieder verlernen, dann haben wir da eine Entsprechung mit Kindern und Jugendlichen. Beide Gruppen müssen die gleichen Dinge trainieren, die einen, um es nicht zu verlernen, die anderen um es neu zu lernen.

? Ein Beispiel?

Verletzungen sind bei kleinen Kindern meistens ganz unabhängig von der körperlichen Aktivität. Egal, ob Handball, Fußball oder sonstige Sachen. Aufgrund der noch fehlenden motorischen Kompetenz fallen sie häufig auf Kopf, obere Extremitäten oder die Schulter. Und das gleiche Muster finden wir plötzlich auch wieder bei Menschen jenseits der 60. Eine gute Sportübung dagegen ist ganz einfach: Man läuft und wirft sich gegenseitig Bälle zu. Ich bin daher für mehr Sport von Jungen und Alten zusammen.

? Stichwort Schäden durch Sport. Eine Pressemeldung zum letzten DKOU titelte: "Junge Athleten leiden immer häufiger unter Ermüdungsbrüchen …"

Ich weiß nicht, wo derartige Erkenntnisse herkommen. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Wir erheben hier eine Unfallstatistik, die seit 25 Jahren läuft, und mir ist solch ein Trend unbekannt.

? Welche Statistik meinen Sie?

Wir werten unter anderem seit Ende der 1980er Jahre stichprobenartig Meldungen zu Sportverletzungen bei der ARAG Sportversicherung aus (Siehe auch Infokasten). Wir erfassen da Verletzungen aus dem Vereinssport und zwar solche, die zu einem Arztbesuch führen.

? Ermüdungsbrüche nehmen in Deutschland danach nicht zu?

Um das beurteilen zu können, fehlt einfach die Zahlenbasis.

? Und eine Zunahme bei Sportverletzungen generell?

Auch dazu gibt es keine Zahlen.

? Warum nicht?

Die Präzision auch unserer vergleichsweise großen Erhebungen reicht dafür nicht. Wir wissen ja noch nicht mal genau, wie viele Leute wirklich sportlich aktiv sind.

? Sie gehen aber doch von 23 Millionen aus, die hierzulande aktiv Sport betreiben? Hinzu kommt noch der Schulsport (s. Infokasten)

Ja, aber da geht es schon los. Diese Gruppen sind nicht disjunkt. Es gibt viele Schüler, die auch noch im Verein sind, es gibt viele im Verein, die auch noch selbstorganisiert joggen gehen und so weiter. Das lässt sich so kaum aufteilen. Unsere Statistik erlaubt daher nur Schätzungen.

? Was sagt sie über Sportverletzungen generell?

Ich würde hierzulande von zwei Millionen Sportverletzungen pro Jahr ausgehen. 1,25 Millionen, an die fünf Prozent aller, die Sport treiben, verletzen sich so schwer, dass sie zum Arzt gehen.

? Von einer Stauchung bis zum schweren Knochenbruch …

Ja. Aber auch hier müssen Sie sehen, dass wir auch Dinge erfassen, die mit dem Sport gar nichts zu tun haben. Nehmen Sie Kegeln. Das ist auf den ersten Blick sehr gefährlich, da Todesfälle beim Kegeln vergleichsweise häufig sind. Das hat natürlich nichts mit dem Sport zu tun. Beim Kegeln sehen Sie vielmehr häufig Leute im Durchschnittsalter von 50 bis 70 Jahren, die dann zufällig leider beim Kegeln einen Infarkt erleiden.

? Wie steht es mit den Kosten von Sportverletzungen?

Wir schätzen sie auf etwa ein Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen. Zum Vergleich: Die Kosten ernährungs- und bewegungsmangelbedingter Krankheiten schätzen wir auf bis zu 30 Prozent. Damit ist klar, dass jeder Sport auch unter Inkaufnahme des Verletzungsrisikos viel besser ist als kein Sport.

? Manche Experten raten jedem, der Sport treibt, sich ab und an sportmedizinisch untersuchen und beraten zu lassen. Viele Ermüdungsbrüche, womöglich auch Spätschäden an den Gelenken gingen auf falsches Training zurück.

Das ist im Breitensport an den Haaren herbei gezogen. Ich habe da ein bisschen das Gefühl, dass es um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Ärzte geht.

Richtig finde ich durchaus eine einmalige Untersuchung internistischer, von mir aus auch orthopädischer Art, etwa, um auszuschließen, dass womöglich ein unerkannter Herzfehler vorliegt, der ein Risiko auf einen plötzlichen Herztod birgt. Es ist sicher auch sinnvoll, wenn ein 12-jähriger eine Untersuchung beim Hausarzt macht, bevor er in den Fußballverein eintritt. Aber da braucht man keinen Sportmediziner dafür. Und die Notwendigkeit zur regelmäßigen Untersuchung sehe ich nicht.

? Und was tun gegen die vielen Verletzungen?

Da muss sich sogar noch die Grundeinstellung ändern. Wenn Sie Leute fragen, die sich beim Sport verletzt haben, dann sagen ihnen neun von zehn, das war einfach Pech. Dass es Gründe gibt, die man auch angehen kann, ist noch nicht so weit vorgedrungen. Wir müssen mehr gegen die Sportverletzungen tun.

? Auch Ihre Statistiken zeigen, dass besonders viele Verletzungen beim Fußball auftreten, gefolgt von anderen Ballsportarten …

In der Tat. Wir haben bei den großen Ballsportarten etwa 10 bis 15 Verletzte pro Jahr und 100 Spieler. Da ist ein Faktor 3 gegenüber dem durchschnittlichen Verletzungsrisiko im Sport drin. Wichtig ist, weiter daran zu arbeiten, diese Risiken zu mindern.

? Also besser Schwimmen statt Fußball?

Nein. Wir raten keinem von einer Sportaktivität ab. Der Nutzen durch Sport ist immer größer als der potentielle Schaden. Sicher, bei Teamsportarten tragen gerade Mädchen ein sechs- bis zehnmal höheres Risiko auf Kreuzbandrisse als Jungen, das ist ein bisschen kritisch.

? Verletzen sich Frauen anders als Männer?

Die Maßnahmen zur Prävention sind bei beiden Geschlechtern gleich. Die Unterschiede liegen vorrangig an unterschiedlichen Präferenzen für Sportarten. Bei Männern im Verein rangiert an der Spitze der Fußball, bei Frauen hier in Deutschland Handball (Abb [ 1 ] u. [ 2 ]).
Ein weiteres Problemfeld bei Frauen ist auch der Reitsport. Gut drei Viertel der Verletzungen ereignen sich im Reitsport bei Mädchen unter 14 Jahren.

? Was ist zu tun?

Grundsätzlich haben wir bei der Verletzungsprävention ganz verschiedene Arbeitsfelder. Da sind einmal Trainingsmaßnahmen. Dann haben wir den großen Bereich der technisch, politischen Maßnahmen, Dinge wie Fair Play-Kampagnen, die Regelauslegung durch die Schiedsrichter und ähnliches. Dann haben wir das Thema Ausrüstung und persönliche Schutzkleidung, bis hin zur Spielfeldgestaltung. Wir arbeiten zu all diesen Aspekten unter anderem in der Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport, ASIS.

? Was ist das?

Eine Interessenvertretung vieler, die sich beruflich mit Sportunfällen und deren Vermeidung beschäftigen. Einige Lehrstühle sind dabei, Unfallversicherungen, das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft VBG und auch die Barmer.

? Und was machen Sie?

Wir wollen gerade Erkenntnisse aus unserer Statistik für eine konkrete Prävention nützen. Prävention muss dabei immer sportartenspezifisch sein, sonst bringt das nichts und ist nicht nachhaltig.

? Und konkret, etwa bei Reitunfällen?

Da wissen wir, dass etliche Verletzungen darauf zurückgehen, dass unerfahrene Reiterinnen die Körpersprache des Tiers nicht verstehen. Außerdem müssen wir das Tragen von Ausrüstung und Schutzkleidung mehr propagieren. Da sind viele nachlässig.

? Bei Ballsportarten hingegen werben Sportmediziner zum Beispiel für spezielle Trainingsmaßnahmen, die etwa die Rumpfmuskulatur stärken.

Richtig. Sie finden dazu Tipps in einer Serie von Faltblättern der ASIS, die sich jeder Interessierte bei der ARAG Sportversicherung kostenlos bestellen kann. Wichtig ist dann natürlich auch, möglichst schon auf die Ausbildung der Trainier Einfluss zu nehmen, die solche Dinge kennen müssen.

? Auch bei den vielen ehrenamtlichen Trainern in den Amateur-Vereinen vor Ort?

Ja, auch wenn es hier besonders schwierig ist. Die meisten Trainer arbeiten ehrenamtlich und mit großem Engagement, haben aber gar keine Trainerausbildung.

Hinzu kommt: Es ist gerade im Breitensport schwierig, Dinge zu implementieren, die losgelöst vom eigentlichen Sport sind. Zum Sprunggelenk haben sich zum Beispiel Therapiekreisel bewährt. Da müssen Sie einem Fußballspieler jetzt aber erst mal erklären, wir sind zwar im Training, aber jetzt zieh mal den Schuh aus, jetzt machen wir hier mal eine Viertelstunde Therapiekreisel. Das macht vor Ort im Verein keiner mit. Die haben eh wenig Zeit und wollen einfach nur Fußball spielen. Unsere Faltblätter geben auch hier erste Tipps.

? Im Profisport ist es einfacher, solche Dinge umzusetzen?

Da haben wir mehr direkten Einfluss auf die Schulung der Trainer. Aktuell gestalten wir zusammen mit dem Deutschen Fußball-, Handball- und Eishockeybund und der VBG Ausbildungsmodule zur Verletzungsprävention, die dann in die Ausbildungslehrgänge der A-Trainer integriert werden können.

? Gibt es Zahlen , dass im Profisport die Verletzungsrisiken gestiegen sind in den letzten Jahren?

Nein. Aber sicher bleibt das Verletzungsrisiko zum Teil sehr hoch. Im Profifußball gibt es pro Saison zwei Verletzungen je Spieler. Im Eishockey wird das noch getoppt, da sind es drei Verletzungen pro Spieler.

Vergleichen Sie: In der normalen Arbeitswelt sind im Schnitt etwa vier von 100 Arbeitnehmern krankgeschrieben. Dies entspricht einem Krankenstand von 4 %. Im Profieishockey-Bereich sind es 25. Wenn Sie 100 Spieler im laufenden Betrieb auf dem Feld halten wollen, müssen Sie 125 verpflichten.

? Ist das noch ein sinnvoller Sport?

Ja, ein hochrasanter Sport, höchst interessant.

? Und was tun, um die Verletzungsraten zu senken?

Da bleibt, siehe oben, die Suche nach Verbesserungen an vielen Fronten. Besonders gravierend aber finde ich, dass heute immer mehr Spieler mehr und mehr im Einsatz sind. Im Fußball, im Handball … da gibt es Europameisterschaften, Weltmeisterschaften, plus die normale Meisterschaft, und dann noch die Champions League. Spieler, die immer mehr quasi rund um die Uhr eingefordert werden, kommen am Ende auch eher verletzt zurück. Eigentlich müsste man mehr Pausen machen.

? Eigentlich?

Die Vereine und Verbände sind Wettbewerber im gleichen Marktsegment. Es gibt bislang keine Standards.

? Wer könnte die schaffen?

Die europäischen Verbände oder der Weltverband selbst. Nötig wäre eine gemeinsame Vorgehensweise zumindest unter den europäischen Verbänden.

? Einige Experten monieren, dass Spieler nach Verletzungen viel zu früh im Einsatz sind.

Ein Problem, ja. Auf nationaler Ebene ist das prinzipiell ganz gut geregelt. Wir haben hier die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft. Die können sagen, Moment, der Spieler, alias Arbeitnehmer ist jetzt nicht einsetzbar, den nehmen wir mal raus.

? Und das klappt?

Längst nicht immer. Etwa wenn ein ambitionierter Spieler sagt, mir zwickt zwar die Wade, aber ich sag mal besser nichts, sonst ist mein Stammplatz weg. Ich kenne ein Positivbeispiel beim AC Mailand.

? Das da wäre?

Der Verein unterhält heute ein Medizinisches Untersuchungszentrum, das Milanlab, in dem sämtliche Spieler von der Jugend bis zum Profi regelmäßig untersucht werden. Mit Data-Mining-Methoden versuchen die dann herauszufinden, ob der Spieler sich in einem gesundheitlich gefährdeten Bereich bewegt. Wenn ja, wird er auch schon rein prophylaktisch vorübergehend freigestellt. Wenn ein Verein dann genügend Spieler bereit hält und rotieren kann, dann ist das eine bessere Möglichkeit, etwas zum Schutz vor Verletzungen im Profisport zu unternehmen als immer nur zu sagen, hier Trainer, der Spieler ist kaputt, jetzt kaufen wir einen neuen.

Interviews: Bernhard Epping


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Informationen zu Sportverletzungen in Deutschland

An die 23 Millionen Bundesdeutsche betreiben in Deutschland aktiv Sport, etwa 13 Millionen davon (57 Prozent) sind im Verein aktiv, 10 Millionen organisieren sich selber. Hinzu kommt der Schulsport bei rund 13 Millionen Schülern.

Die Schätzungen stammen vom Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der dafür seit den 1980er Jahren mehrere Datenquellen auswertet. Einmal eine Stichprobe von aktuell etwa 180 000 Unfällen aus dem Vereinssport über die ARAG Sportversicherung. Außerdem Daten aus Befragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz von 166 000 Haushalten zum Verletzungsgeschehen, sowie Daten zum Schulsport über den Verband der Unfallkassen.

Von den 23 Millionen "Aktiven Sportlern" verletzen sich etwa 1,25 Millionen im Jahr so schwer, dass sie ärztlich behandelt werden. Die Unfälle verteilen sich in etwa hälftig auf Vereins- und nichtorganisierten Sport. Insgesamt schätzen die Autoren um Thomas Henke Verletzungsquoten von 5,1 % im Verein, 5,9 im nichtorganisierten Sport und 5,4 im Schulsport.

Eine neue Zwischenauswertung der Daten der ARAG Sportversicherung von 25 653 Verletzungen zwischen 2005 und 2009 belegt einmal mehr den "Spitzenplatz" von Fußball bei den Sportarten mit Verletzungsrisiken. Mit weitem Abstand gefolgt von drei weiteren Ballsportarten Handball, Volley- und Basketball. Auch Turnen, Judo Gymnastik, Reiten belegen vordere Plätze. (Tab. [ 1 ])

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Tab. 1 Verletzungen nach Sportarten 2005–2009 (N = 25.653)

Bei welchem Sport sich Menschen besonders oft verletzen, variiert aber obendrein je nachdem, ob man Vereinssport, Schulsport oder selbstorganisierten Sport untersucht. Dito nach Geschlecht oder Altersgruppe. (Abb. [ 1 ] u. [ 2 ])

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Abb. 1 Unfallsportarten im Vereinssport bei Männern (Quelle: Henke T., Gläser H., Heck H. Sportverletzungen in Deutschland. In Alt W., Schaff P., Schumann H. Neue Wege zur Unfallverhütung im Sport. Köln: SPORT und BUCH Strauß 2000).
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Abb. 2 Unfallsportarten im Vereinssport bei Frauen (Quelle: Henke T., Gläser H., Heck H. Sportverletzungen in Deutschland. In Alt W., Schaff P., Schumann H. Neue Wege zur Unfallverhütung im Sport. Köln: SPORT und BUCH Strauß 2000).

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Weitere Infos im Netz:

Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin:
http://www.dgsp.de/dgsp-empfehlungen.php

Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport (ASIS):
http://www.sicherheitimsport.de/front_content.php

Bestellung von Faltblättern der ASIS:
http://www.arag-sport.de/forschung-und-praevention/praeventionsbroschueren/

European Netwerk for Sports Injury Prevention:
http://www.safetyinsports.eu/front_content.php?idcat=194&lang=2


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Dr. Raymond Best (Jahrgang 1967) ist Oberarzt an der Sportklinik Stuttgart und Mitgründer der Sportmedizin Stuttgart. Obendrein arbeitet der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Notfallmedizin und Chirurgie seit 2006 als Mannschaftsarzt des VFB Stuttgart 1893 e.V.
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Dr. Thomas Henke (Jahrgang 1959) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sportmedizin und Sporternährung der Ruhr-Universität Bochum. Der Statistiker und Biomechaniker forscht und engagiert sich seit 25 Jahren in der Prävention von Sportverletzungen – unter anderem als Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Sicherheit im Sport (ASIS) und im EU-Projekt "Safety in Sports".
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Tab. 1 Verletzungen nach Sportarten 2005–2009 (N = 25.653)
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Abb. 1 Unfallsportarten im Vereinssport bei Männern (Quelle: Henke T., Gläser H., Heck H. Sportverletzungen in Deutschland. In Alt W., Schaff P., Schumann H. Neue Wege zur Unfallverhütung im Sport. Köln: SPORT und BUCH Strauß 2000).
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Abb. 2 Unfallsportarten im Vereinssport bei Frauen (Quelle: Henke T., Gläser H., Heck H. Sportverletzungen in Deutschland. In Alt W., Schaff P., Schumann H. Neue Wege zur Unfallverhütung im Sport. Köln: SPORT und BUCH Strauß 2000).