Kontra
Hans Joachim Salize
Die Themen, die die psychiatrische Versorgungsdiskussion bestimmen, verlaufen in Zyklen.
Welches Thema auf die Tagesordnung kommt, ist zum Teil nachvollziehbar, z. T. gehorcht
dies aber auch unbekannten, manchmal irrational anmutenden Mechanismen. Wenn sich
die Wogen um die Einführung der neuen Finanzierungsweise in der psychiatrischen Krankenhausversorgung
– dem derzeitigen Hauptthema der Debatte – gelegt haben werden (was vermutlich noch
einige Zeit braucht), ist es sehr gut möglich, dass die psychiatrische Rehabilitation
das nächste große Thema werden wird. Wenn dies so kommt, wird es jedoch mit einiger
Wahrscheinlichkeit nicht im Sinne der Pro-Position dieser Kontroverse geschehen, sondern
unter dem Vorzeichen, das bereits die Pflegesätze in der stationärpsychiatrischen
Versorgung auf den Prüfstand gebracht hat: dem Zwang zur Kostendämpfung.
Angesichts knapper Budgets kann man eine solche Fokussierung durchaus nachvollziehen.
Aus dieser Perspektive wird der entscheidende strategische Nachteil der psychiatrischen
Rehabilitation jedoch der fehlende Nachweis ihrer Effektivität sein. In der Kostendebatte
wird dies die psychiatrische Rehabilitation zwangsläufig noch weitaus stärker in die
Defensive zwingen, als sie es derzeit schon ist.
Es ist nicht eindeutig definiert, was psychiatrische Rehabilitation eigentlich meint
und welche Behandlungsmethoden und Versorgungsformen letztendlich dazugehören. Der
Begriff umreißt vor allem den außerstationären und sog. komplementären Sektor und
dessen Angebote. Vor der Psychiatriereform, d. h. noch in den 70er-Jahren des letzten
Jahrhunderts war dieser Sektor in Deutschland praktisch nicht existent. Nach mehr
als 30-jährigem kontinuierlichem Ausbau ist er zu einem hoch differenzierten und spezialisierten
System von Einrichtungen und Diensten geworden. Nach wie vor weisen die rehabilitativen
Angebote jedoch eine hohe regionale Variabilität auf. Fundamentale strukturelle Unterschiede
zwischen den Regionen – und nicht nur zwischen alten und neuen Bundesländern – sind
in Deutschland die Regel.
Bereits die rein mengenmäßige Beschreibung der zur Regelversorgung gehörenden rehabilitativen
Angebote für psychisch Kranke bereitet deshalb in Deutschland die größte Mühe. Es
mangelt an leicht zugänglichen, validen und jährlich aktualisierten Platz- oder Einrichtungsziffern
für zentrale Angebote wie Arbeitsrehabilitation, betreutes Wohnen oder Sozialpsychiatrische
Dienste. Von Prozessdaten oder Ergebnisindikatoren ist ganz zu schweigen [1]. Diese Intransparenz ist ungewöhnlich für ein hoch organisiertes und bürokratisiertes
Land wie Deutschland.
Aufgrund entsprechender Studien kann jedoch als weitgehend belegt gelten, dass der
rehabilitative Sektor einen Großteil der jährlichen psychiatrischen Versorgungskosten
verschlingt. Bei Patienten mit Schizophrenie liegt einschließlich der Kosten für das
betreute Wohnen der Anteil zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der gesamten Versorgungskosten.
Der Rest entfällt auf die stationär- und ambulant-psychiatrische sowie auf die medikamentöse
Behandlung [2]
[3]. Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass dieser mehr als 50 %ige
Kostenanteil sehr leicht und schnell ein Thema für die versorgungspolitische Diskussion
und die Kostendämpfer werden kann.
Es ist dabei keineswegs so, dass ein Großteil der psychiatrischen Rehabilitationsmaßnahmen
nicht notwendig wäre und diese möglicherweise auch effektiv sind. Für die Mehrheit
der Patienten sind sie überaus segensreich. Nur kann man dies leider kaum mit großflächigen
Forschungsdaten belegen.
Nachgewiesene Effektivität ist jedoch zunehmend der Maßstab, anhand dessen die Notwendigkeit
von Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung gemessen wird. Institutionen wie das Institut
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) haben den Auftrag,
hierfür die notwendige Informationsbasis zu schaffen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen.
Gegenwärtig beschränken sich die Analysen des IQWIG noch weitgehend auf den Bereich
der klinischen und pharmakologischen Therapien. Die Ausweitung der IQWIG-Aktivitäten
auf rehabilitative Ansätze oder komplexere Versorgungsstrategien dürfte jedoch nur
eine Frage der Zeit sein.
Wie bedrohlich die wachsende Bedeutung des Evidenzkriteriums für die psychiatrische
Rehabilitation in ihrer gegenwärtigen Struktur sein kann, wird anhand jüngerer Erkenntnisse
hinsichtlich solch zentraler psychiatrisch-rehabilitativer Säulen wie der Arbeitsrehabilitation
deutlich. Untersuchungen des „Supported Employment“-Ansatzes weisen darauf hin, dass
das der psychiatrischen Arbeitsrehabilitation zugrunde liegende Konzept des Trainings
in beschützter Umgebung weit weniger effektiv sein könnte als die sofortige Platzierung
psychisch Kranker auf dem ersten Arbeitsmarkt und dem der Platzierung folgenden „training
on the job“ [4]
[5]. Man kann sich leicht ausmalen, was es für etablierte Einrichtungen und Träger arbeitsrehabilitativer
Maßnahmen bedeutet, sollten sich solche Erkenntnisse bestätigen und auf die Tagesordnung
gesundheitspolitischer Gremien kommen, die über die Zulassung und Finanzierung solcher
Maßnahmen entscheiden.
Für die Mehrzahl der in der Regelversorgung etablierten psychiatrischen Rehabilitationsmaßnahmen
fehlen solche Erkenntnisse. Sie könnten schon in der nahen Zukunft eingefordert werden
– mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für weitere überraschende Befunde ähnlich
denen des „Supported Employment“-Ansatzes. Der Mangel an Evidenz in der psychiatrischen
Rehabilitation ist weitgehend selbstverursacht. Zu verdanken ist dies dem Ausbau der
rehabilitativen Strukturen zu Zeiten der Psychiatriereform, als für entsprechende
Modellvorhaben vergleichsweise üppige Finanzmittel zur Verfügung standen, jedoch in
der allgemeinen Reformeuphorie häufig auf die Überprüfung der Effektivität dieser
Modellprojekte verzichtet wurde.
Auch in den Jahren nach der Psychiatriereform setzte sich diese Tendenz fort. Der
Boom der universitären biologisch-psychiatrischen Grundlagenforschung mit ihrer Verheißung
neuartiger Behandlungsformen hat ebenfalls die Brisanz des Kriteriums der Versorgungseffektivität
unterschätzt. So widmeten z. B. die psychiatrischen Kompetenznetze der Frage der Kostenwirksamkeit
etablierter oder neuer Versorgungsansätze nur sehr geringe Aufmerksamkeit.
Sicherlich ist die Effektivität von Maßnahmen, die auf komplexe Lebenszusammenhänge
wie Wohnen, Arbeit und Sozialbeziehungen zielen – den Zielfeldern der psychiatrischen
Rehabilitation – methodisch nicht gerade einfach nachzuweisen. Dies ist jedoch kein
Grund dafür, die Bemühungen nach Evidenz weiter so gering zu halten, wie es in den
vergangenen Jahren war und damit das Risiko der Marginalisierung bestehender rehabilitativer
Ansätze weiter in Kauf zu nehmen.
Noch ein weiterer Aspekt der eingangs angesprochenen Zyklizität der psychiatrischen
Diskussionsthemen könnte die psychiatrische Rehabilitation als Zukunftsthema an den
Rand drängen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Gesundheitspolitik plötzlich – nachdem
sie jahrzehntelang die Grundlagenforschung präferiert und gefördert hat – paradigmatisch
die psychiatrische Prävention auf die Tagesordnung setzen würde. Dass dies aus heiterem
Himmel geschieht, ist zwar unwahrscheinlich, aber die Umsetzung präventiv ausgerichteter
Ansätze in die psychiatrische Versorgungsrealität ist lange überfällig. Und es erscheint
zumindest nicht abwegig, dass angesichts des Kostendrucks ein Entscheidungsträger
die simple Rechnung aufmacht, dass es doch kostengünstiger sein könnte, auf die Verhinderung
von Chronifizierung zu setzen, anstatt chronifizierte Fälle langwierig und mühsam
zu rehabilitieren.
Auch diese mögliche Entwicklung wäre von fachpsychiatrischer Seite aus zu antizipieren,
indem nicht nur praktiziert, sondern auch nachgewiesen wird, dass Prävention, Therapie
und Rehabilitation bei psychischen Störungen Hand in Hand gehen müssen.