Hebamme 2011; 24(4): 212
DOI: 10.1055/s-0031-1299546
Editorial
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Sexualität – immer noch ein Tabu-Thema

Sabine Krauss-Lembcke
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Publication Date:
19 December 2011 (online)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

es gibt zwei Tabu-Themen in unserer Gesellschaft, über die wir eher nicht in der Öffentlichkeit sprechen wollen. Das eine sind die persönlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse, das andere Thema ist die persönlich gelebte Sexualität. Diese beiden Bereiche gehören zu unserem intimen, privaten Lebensbereich, den wir nur mit wenigen engen vertrauten Personen teilen.

Das ist sicherlich auch gut so. Wenn allerdings Probleme auftauchen, kann es hilfreich sein, wenn wir von anderen Menschen erfahren, mit welchen Strategien sie ihre Schwierigkeiten meistern konnten. Wir haben uns deshalb entschieden, das Thema Sexualität in der Schwangerschaft und in der frühen Familienphase aufzugreifen, denn gerade diese Zeit ist immer noch mit Tabus behaftet. Junge Eltern sollen glücklich sein, doch die Belastung ist enorm.

Gestatten Sie mir einen kurzen Rückblick in die jüngere ―Zeitgeschichte der 1960er Jahre. Die heranwachsende Nachkriegsjugend war hungrig nach Freiheit, Aufklärung und Selbstverwirklichung. In diese Zeit fällt die Aufklärungsarbeit von Beate Uhse. Sie klärte Frauen darüber auf, wie sie mit der Knaus-Ogino-Methode verhüten konnten und ermunterte sie, ihre eigene Lust zu entdecken. Wegen der Versendung ihrer Informationsbroschüren wurde Frau Uhse unter dem Vorwurf der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses vor Gericht ―zitiert. Vor 1975 waren pornografische Darstellungen in der Öffentlichkeit noch unter Strafandrohung verboten.

Doch die sexuelle Revolution war nicht aufzuhalten. Mit der Einführung der Pille konnten Frauen Freiheiten ausleben, die der Generation ihrer Mütter noch völlig verwehrt waren. Aufklärungsunterricht an Schulen ist heute ein Teil des Lehr―plans. Wir beobachten unter Jugendlichen eine Freizügigkeit im Ausprobieren ihrer Sexualität. Sie können auch freier mit ihren Eltern über ihre Erfahrungen zum jeweils anderen Geschlecht sprechen. Körperliche Attraktivität hat eine große Bedeutung bekommen.

In Fachgeschäften für „Kosmetik und Body-Styling“ zählen längst auch die Männer zum Kundenkreis. Die Hemmschwelle, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen, ist deutlich gesunken, man könnte sogar den Eindruck bekommen, sie wird fast zur Normalität. Schwangere Frauen zeigen freizügig ihre Bäuche in der Öffentlichkeit. Fast jede junge Mutter, die ich betreue, trägt ein Tattoo und/oder ein Piercing. Die Groß―eltern dieser Generation haben ihren Kindern viele Freiheiten vorgelebt und ermöglicht.

Es gibt aber auch eine Last, die diese Generation zu tragen hat, viele junge Eltern sind selbst Trennungs- und Scheidungs―kinder. Hier nehme ich eine große Sehnsucht bei jungen ―Familien wahr: Sie wünschen sich verlässliche persönliche Beziehungen. Sie haben den Traum, eine eigene Familie zu gründen. Sie möchten sowohl als Elternpaar als auch als Liebespaar zusammenbleiben.

Und so kommen sie zu uns, buchen Kurse zur Geburtsvorbereitung, besuchen Eltern-Vorbereitungsseminare, kaufen sich Bücher zum Thema und lesen viele Berichte von Betroffenen im Internet. Doch viele Fragen bleiben offen, z.B.: Haben werdende Väter andere Bedürfnisse und Erwartungen als wir das bislang angenommen haben? Was erwarten schwangere Frauen von ihren Partnern? Wie erleben sich werdende Eltern in ihrer Körperlichkeit und in ihrer Sexualität nach der Geburt? Wie erlebt der Mann seine Sexualität während der Schwangerschaft seiner Partnerin?

In diesem Heft wollen wir darauf einige Antworten geben. Für mich war das Lesen der Beiträge – auch nach 31 Jahren Berufserfahrung – sehr spannend. Und das wünsche ich Ihnen ebenfalls.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien und Freunden eine besinnliche Advents- und Weihnachtszeit.

Ihre

Sabine Krauss-Lembcke

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