physiopraxis 2011; 9(10): 18-19
DOI: 10.1055/s-0031-1293567
physiowissenschaft

Wissenschaft Kommentiert – MS: Krafttraining hilft auch schwer Betroffenen

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Publication Date:
21 October 2011 (online)

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Krafttraining galt bei Patienten mit Multipler Sklerose lange als nicht indiziert. Doch eine Studie zeigt erneut: Patienten profitieren davon. Klaus Starrost meint: Trotz einiger Einschränkungen macht diese Studie Mut.

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Physiotherapeutischer Hintergrund

Lange Zeit herrschte die Meinung, dass Menschen mit Multipler Sklerose (MS) keine anstrengenden Trainingsprogramme absolvieren sollen, da sie das möglicherweise zu sehr erschöpft. Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Muskelkraft dieser Patienten durchaus trainierbar ist. Physio- und Sporttherapie werden daher immer mehr als wichtiger Baustein bei der symptomatischen Behandlung dieser Erkrankung gesehen. Die bislang durchgeführten Studien zum Training bei MS involvierten in erster Linie leicht bis mäßig schwer Betroffene.

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Fragestellung

Mary Filipi und ihre Kollegen wollten wissen, ob sich ein Krafttraining bei schwer betroffenen Patienten mit Multipler Sklerose ebenso gut durchführen lässt wie bei leichter betroffenen. Außerdem interessierte sie, ob das Training bei allen zu einer vergleichbaren Kraftsteigerung führt.

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Einschlusskriterien

Die Probanden hatten eine nach den McDonald-Kriterien, der klinischen Anamnese und der Bildgebung nachgewiesene MS. Die Forscher teilten die Teilnehmer nach dem Schweregrad der Erkrankung in drei Gruppen ein. Den Schweregrad bestimmten sie anhand des Wertes auf der Expanded Disability Status Scale nach Kurzke (EDSS): Ein EDSS-Wert von 1.0 bedeutet beispielsweise eine minimale neurologische Auffälligkeit ohne Behinderung. Bei einem EDSS-Wert von 5.0 weist der Patient deutliche ADL-Einschränkungen auf und kann nur noch bis zu 200 Meter gehen. Ein Patient mit einem EDSS-Wert von 7.5 kann maximal ein paar Schritte gehen.

Alle Teilnehmer mussten zwischen 19 und 75 Jahre alt und in der Lage sein, an einem sechsmonatigen Trainingsprogramm teilzunehmen. Ein Arzt musste bestätigen, dass der jeweilige Patient für ein Training geeignet und die Intervention für ihn risikolos ist.

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Ausschlusskriterien

Patienten, die laut Arzt nicht für ein Training geeignet waren, nahmen nicht teil. Hatten Probanden während der Studie mehr als zwei Wochen nicht trainiert, schlossen die Forscher sie nachträglich aus.

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Studiendesign

Retrospektiv angelegte Beobachtungsstudie standardmäßig erhobener Daten. Die Forscher schlossen aufeinanderfolgende Patienten ein, die innerhalb eines nicht definierten Zeitraums in einer Multiple-Skle-rose-Klinik in Nebraska, USA, aufgenommen waren. Messzeitpunkte waren der Beginn des Trainings, drei Monate später sowie das Trainingsende nach sechs Monaten.

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Intervention

67 Patienten nahmen teil. 27 waren leicht betroffen (EDSS 1-4,5), 23 mittelgradig (EDSS 5-7) und 17 schwer (EDSS > 7,5). Die Diagnosestellung lag bis zu 45 Jahre zurück. Die Patienten trainierten sechs Monate lang, zwei Mal pro Woche für jeweils 50 Minuten in einer Gruppe. Ein Therapeut betreute je drei Patienten.

Trainingsprotokoll:

Auf fünf bis zehn Minuten Warm-up mittels leichten Bewegungen in vollem Bewegungsausmaß folgten 30 Minuten Zirkeltraining. Die Probanden trainierten in drei unterschiedlichen „Blöcken“:

  • > Block 1: Training an Maschinen zur Verbesserung der Kraftentwicklung aller großen Muskelgruppen

  • > Block 2: Training von Kraft und Balance, darunter Übungen ohne Gerät aus verschiedenen Ausgangsstellungen und funktionelle Übungen mit Gymnastikball

  • > Block 3: Training von Kraft und Balance inklusive unilateraler Übungen

Die Blöcke wechselten von Einheit zu Einheit, um eine frühzeitige Gewöhnung des Körpers an die Übungen zu vermeiden und das Training möglichst abwechslungsreich zu gestalten. Die Intensität der Übungen war so hoch, dass die Teilnehmer zwei bis drei Sätze ä 10 Wiederholungen durchführen konnten. Der anschließende Cool-down bestand aus 5-10 Minuten statischem Dehnen.

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Ergebnisparameter

Die Autoren evaluier-ten die Maximalkraft von großen Muskelgruppen an Armen, Beinen und Rumpf an zwölf Kraftgeräten.

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Ergebnisse

Alle Patienten zeigten deutliche Verbesserungen aller Kraftwerte. Bei den meisten Übungen konnten sie ihre Kraft über 50 % des Ausgangswerts steigern. Die Schwere der Erkrankung zu Beginn des Trainings spielte hierbei keine Rolle.

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Schlussfolgerung

Patienten mit MS profitieren von einem intensiven Krafttraining ungeachtet ihres funktionellen Ausgangsniveaus. Auch rollstuhlpflichtige Patienten können ihre Kraftwerte entscheidend verbessern, was für die Bewältigung der alltäglichen Aufgaben möglicherweise einen großen Vorteil darstellt.

Filipi ML, Kucera DL et al. Improvement in strength following resistance training in MS patients despite varied disability levels.

NeuroRehabilitation 2011; 28:373-382

Kommentar

Vor noch nicht allzu langer Zeit hielten sich Therapeuten beim Krafttraining für Patienten mit Multipler Sklerose eher zurück - aus Angst, ein anstrengendes Training könnte die Patienten zu sehr erschöpfen oder sogar die Schubhäufigkeit erhöhen. Mehrere kontrollierte Studien [1] konnten jedoch zeigen, dass Training bei MS sicher und für die Patienten vorteilhaft ist. Die hier vorgestellte Studie liefert ergänzende Informationen: Sie zeigt, dass Krafttraining sogar für eine große Bandbreite von Betroffenen sinnvoll ist: Sowohl schwer als auch weniger schwer betroffene Patienten profitieren, und trotz des unterschiedlichen Ausgangsniveaus ist der prozentuale Kraftzuwachs vergleichbar.

Dennoch sollte man die Ergebnisse der Studie nicht überschätzen, denn in ihrer Methodik gibt es ein paar Schwächen:

  • > Die Studie hat keine Kontrollgruppe. Es bleibt damit offen, ob andere Anwendungen - zum Beispiel funktionelle Übungen ohne Verwendung von Geräten - genauso wirkungsvoll sind.

  • > Die Patienten, die der Studie zugewiesen wurden, könnten entsprechend der Ein- bzw. Ausschlusskriterien (Eignungsprüfung durch einen Arzt) vorselektiert sein, was möglicherweise den Effekt des Trainings insgesamt verringern könnte. Außerdem erwähnen die Autoren nicht, über welchen Zeitraum sie die Patienten rekrutiert hatten.

  • > Die Therapeuten, die die Daten auswerteten, waren nicht verblindet. Hier könnte es zu Verzerrungen gekommen sein.

  • > Die Zahl der Patienten, die das Training abbrachen, ist nicht detailliert beschrieben.

Zudem wären weitere Ergebnisparameter interessant, die in der Studie nicht erhoben wurden: Man fragt sich sofort, ob und in welchem Ausmaß der Kraftzugewinn die ADL-Fähigkei-ten der Patienten verbessert. Denn zum Beispiel beim Training nach Schlaganfall ist dieser Transfer beschränkt [2]. Weiterhin wäre spannend, in welchem Ausmaß der in der Studie beobachtete objektive Parameter „Muskelkraft“ mit den subjektiven Angaben der Teilnehmer zur Fatigue korreliert.

Dennoch: Trotz der genannten Einschränkungen stellt die Arbeit eine wertvolle Informationsquelle dar, die den Leser ermutigt, Krafttraining bei einer großen Bandbreite von Patienten mit MS anzuwenden. Ein solches Training kann mit Geräten, Gewichten und funktionellen Übungen durchgeführt werden. Wichtig ist sicherlich, dass der Übende intensiv und langfristig trainiert und Feedback über seine Leistungen erhält. Denn nur so können Verbesserungen nachvollzogen und Ziele entwickelt werden.

Klaus Starrost

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Klaus Starrost, MSc., ist Physiotherapeut. Er ist Fachkompetenzleiter Physiotherapie der Kliniken Schmieder und für alle sechs Standorte zuständig. Ein Teil seiner Aufgaben ist die Integration neuer und evidenzbasierter Behandlungsverfahren in die therapeutische Praxis.

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Klaus Starrost, MSc., ist Physiotherapeut. Er ist Fachkompetenzleiter Physiotherapie der Kliniken Schmieder und für alle sechs Standorte zuständig. Ein Teil seiner Aufgaben ist die Integration neuer und evidenzbasierter Behandlungsverfahren in die therapeutische Praxis.