Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2011; 18(05): 215
DOI: 10.1055/s-0031-1292002
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Empfehlungen zur Nachverfolgung von Mitreisenden – Flugpassagiere mit offener Lungentuberkulose

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
18. Oktober 2011 (online)

 

Abubakar I. Tuberculosis and air travel: a systematic review and analysis of policy. Lancet Infect Dis 2010; 10: 176–83

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(Foto: creativ collection)

Thema: Auf der "DO NOT BOARD LIST" werden Personen genannt, denen die USA die Teilnahme am öffentlichen Flugverkehr aufgrund einer ansteckenden Erkrankung verweigert. Die Centers for Disease Prevention and Control (CDC) und das U.S. Department of Homeland Security haben im Jahr 2007 Kriterien dafür festgelegt. Alle Fluglinien dürfen gelisteten Personen keine Bordkarten für Flüge innerhalb, in die oder aus den USA ausstellen. Die Maßnahme der US-Behörden ist eine erhebliche Einschränkung der persönlichen Bewegungsfreiheit. Zwischen Mai 2007 und Juni 2008 wurden 33 Personen auf die Liste gesetzt – alle aufgrund der Diagnose "offene Lungentuberkulose" und weiterer Kriterien, wie beispielsweise Non-Compliance mit einer Behandlung. Acht dieser Personen hatten eine multiresistente Tuberkulose (MDR-TB oder XDR-TB) [ 1 ].

Auslöser für die Regelung war ein amerikanischer Rechtsanwalt mit der (Zufalls-)Diagnose offene Lungentuberkulose im Mai 2007. Er reiste trotzdem in mehrere europäische Städte, bevor im Labor die Diagnose XDR-Tuberkulose erfolgte. Die Bemühungen der Gesundheitsbehörden und Medien blieben erfolglos: Der Erkrankte wusste von der Suche und dass er möglicherweise ansteckend ist. Es gelang ihm, unbemerkt von Prag nach Montreal zu fliegen, um per Auto in die USA einzureisen und sich erst dort behandeln zu lassen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt [ 2 ]:

  • Personen mit ansteckender Lungentuberkulose müssen bis Reisebeginn mindestens 2 Wochen tuberkulostatisch behandelt sein.

  • Personen mit MDR- oder XDR-Tuberkulose sollen erst nach kulturellem Nachweis, dass sie nicht mehr infektiös sind, wieder am öffentlichen Flugverkehr teilnehmen.

  • Wird eine Person mit offener Lungentuberkulose an Bord entdeckt, soll diese eine Mund-Nasen-Maske erhalten und im Kabinenraum möglichst abgesondert von anderen Passagieren sitzen. Die Klimaanlage des Flugzeugs soll nach der Landung nicht länger als 30 Minuten abgestellt bleiben.

  • Mitreisende Kontaktpersonen müssen erst ab einer Flugdauer von 8 oder mehr Stunden nachverfolgt werden. Dies betrifft nur Passagiere, die bis zu 2 Reihen vor und hinter einer Indexperson mit offener Lungentuberkulose saßen.

Projekt: Zu dieser WHO-Empfehlung veröffentlichte Ibrahim Abubakar aus England im Jahr 2010 eine Übersichtsarbeit über Tuberkulose im Flugverkehr.

Ergebnisse: Abubakar stellt darin fest, dass nur in 2 von 13 Studien eine Ansteckung mit Tuberkulose während eines Langstreckenflugs dokumentiert wurde.

Fazit: Aus Sicht des Autors sind die WHO-Empfehlungen keine kosteneffektive Strategie für die weltweite Bekämpfung von Tuberkulose. Er hinterfragt insbesondere den Nutzen einer Umgebungsuntersuchung im Flugverkehr bei Personen mit mikroskopisch negativer Lungentuberkulose und verweist auf den immensen Aufwand und die Gefahr, dass die Indexperson im Rahmen der umfangreichen Nachverfolgung versehentlich namentlich bekannt wird.

Kommentar

Dem Autor ist sicherlich zuzustimmen, dass die Nachverfolgung von Kontaktpersonen im Flugverkehr eine aufwendige und wenig kosteneffektive Strategie zur Eindämmung der Tuberkulose ist. Für den öffentlichen Gesundheitsdienst in Deutschland besteht jedoch bei der sehr begrenzten Datenlage wenig Ermessensspielraum für grundsätzliche Erwägungen dieser Art. Es muss zumindest in jedem Einzelfall überprüft werden, ob eine Nachverfolgung von Kontaktpersonen nach Langstreckenflügen erfolgen muss. Fachliche Grundlage für diese Entscheidungen sind die Empfehlungen des Deutschen Zentralkomitee für Tuberkulose (DZK) [ 3 ] und der WHO [ 2 ], die das Europäische Seuchenzentrum (ECDC) im Jahr 2009 bestätigte [ 4 ].

Aus meiner Sicht – als Leiterin des Hafen- und Flughafenärztlichen Dienstes in Hamburg – sind die genannten Empfehlungen außerordentlich hilfreich für die Praxis, da sie hinreichend konkret und nachvollziehbar sind. Der öffentliche Gesundheitsdienst benötigt in der täglichen Arbeit praktikable Arbeitshilfen angesehener Institutionen: Jede Entscheidung für oder gegen die Nachverfolgung eines Flugpassagiers muss danach gegenüber Fachleuten, Fluggesellschaften, Reisenden, Vorgesetzten sowie Vertretern der Politik und der Medien gerechtfertigt werden.

Solche handhabbaren Empfehlungen fehlen für den Schiffsverkehr. Bei Seeleuten ist die Diagnose offene Lungentuberkulose beziehungsweise ein Verdacht darauf kein seltenes Ereignis – trotz der Seetauglichkeitsuntersuchung für alle. Insbesondere auf Kreuzfahrtschiffen, auf denen hunderte bis tausende Crewmitglieder und Passagiere aus der ganzen Welt auf engem Raum zusammenkommen, führt dies zu umfangreichen und komplexen Fragestellungen, auf die die bestehenden Empfehlungen für den Flugverkehr nur begrenzt angewendet werden können.

Dr. Clara Schlaich, Hamburg


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  • Literatur

  • 1 Centers for Disease Prevention and Control. Federal Air Travel Restrictions for Public Health Purposes – United States June 2007–May 2008. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR); 19.09.2008 57. 1009-12
  • 2 World Health Organization. Tuberculosis and Air Travel – Guidelines for prevention and control. 2. nd ed. Mishawaka/USA: Better World Books; 2006
  • 3 Diel R, Loytved G, Nienhaus A et al. Empfehlungen für die Umgebungsuntersuchungen bei Tuberkulose – Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose. Pneumologie 2011; 65: 359-78
  • 4 European Centre for Disease Prevention and Control. Risk assessment guidelines for infectious diseases transmitted on aircraft. 2009 Im Internet: http://ecdc.europa.eu Stand: 21.09.2011

  • Literatur

  • 1 Centers for Disease Prevention and Control. Federal Air Travel Restrictions for Public Health Purposes – United States June 2007–May 2008. Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR); 19.09.2008 57. 1009-12
  • 2 World Health Organization. Tuberculosis and Air Travel – Guidelines for prevention and control. 2. nd ed. Mishawaka/USA: Better World Books; 2006
  • 3 Diel R, Loytved G, Nienhaus A et al. Empfehlungen für die Umgebungsuntersuchungen bei Tuberkulose – Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose. Pneumologie 2011; 65: 359-78
  • 4 European Centre for Disease Prevention and Control. Risk assessment guidelines for infectious diseases transmitted on aircraft. 2009 Im Internet: http://ecdc.europa.eu Stand: 21.09.2011

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